Heftige Stürme, furchtbare Wogen
Die KP-Führung bereitet sich auf soziale Umwälzungen vor
von Shi Ming
Seit zwei Jahren mehren sich in China die Straßenproteste. Es geht dabei meist um verschiedene soziale Belange: Ein paar hundert Arbeitslose protestieren, weil ihnen die letzten Löhne nicht ausgezahlt wurden. Corona-Tagelöhner gehen auf die Straße, weil sie plötzlich ohne Beschäftigung dastehen. Erst wurden sie von der Regierung angeheuert, um Millionen und Abermillionen Chines:innen mit Gewalt aus ihren Wohnungen zu treiben und Zwangs-PCR-Tests zuzuführen. Dann kam die Kehrtwende in der Pandemiepolitik und sie wurden über Nacht entlassen.
Derartige sozial motivierte Proteste nahm die Regierung in Peking bis vor Kurzem scheinbar gelassen hin: Sie waren lokal begrenzt und wenig organisiert. Und sie schienen nichts mit grundsätzlicher Kritik zu tun zu haben. Fragen wie die, wer dieser Regierung eigentlich das Recht gibt, die Bevölkerung so zu knebeln.
Seit Ende 2022 hat sich das geändert. Es begann in politischen Zentren wie Peking und Schanghai, wo junge Menschen skandierten: „Xi Jinping, tritt zurück!“ oder „Kein PCR-Zwang, wir wollen Wahlzettel!“ Bald tauchten Leute auf, die weiße Papierbögen in den Händen hielten, und ihre Aktivitäten bekamen international einen Namen, der den Herrschenden in Peking Angst einjagen dürfte: „Weißpapier-Revolution“ – analog zur Orangenen Revolution in der Ukraine 2014 und der Regenschirm-Revolution in Hongkong vor fünf Jahren. Beide waren ganz und gar politischer Natur.
Wird sich dies nun in China wiederholen, jetzt, wo Xi Jinping alle Barrieren aus dem Weg geräumt hat, um allein das Sagen zu haben?
Die Tatsache, dass sich im Januar 2023 zehntausende älterer Menschen, allen Strafandrohungen der Regierung zum Trotz, in Ballungszentren wie Wuhan und Dalian zu Demonstrationen versammelten, wirkt wie eine faktische Bejahung dieser Frage. Die Protestierenden verzichteten auf jede Art von Guerillataktik: Kühn erschienen sie zu den verabredeten Terminen auf den angekündigten Plätzen. Was sie vorher online erklärt hatten, skandierten sie jetzt auf der Straße.
Niemand weiß, wie sie sich so gut organisiert hatten, wer sie angeführt hat. Bemerkenswert war, dass es ihnen nicht um eine simple Forderung ging wie die, dass der Staat Krankenhausbehandlungen bezahlen soll. Was sie wollten, war nichts weniger, als die beschlossene Gesundheitsreform zu kippen. Mit ihr bekommen die Einzelnen noch weniger von den ausgeplünderten Krankenkassen – für Alte und chronisch Kranke eine programmierte Katastrophe. Zum Beispiel wurde Metformin, ein Medikament der ersten Wahl bei Diabetes Typ II, aus dem Leistungskatalog gestrichen. 100 Millionen Patienten sollen es nun selbst bezahlen, egal ob sie es sich überhaupt leisten können.
Schon lange wird im Internet breit diskutiert, was zunehmend auf der Straße hörbar wird. Zur Rentenreform, zur Wirtschaftspolitik, zu den leeren Krankenkassen, selbst zu den sakrosankten außenpolitischen Leitlinien wie dem Zusammenhalt von Xis China und Putins Russland äußerten sich die Netzbürger hochkontrovers.
Wenige Tage vor Xi Jinpings Besuch in Moskau vom 20. bis zum 22. März bemerkte jemand auf der Social-Media-Plattform jinri toutiao (Schlagzeilen von heute): „Ich weiß, dass Putins Krieg eine Aggression ist. Ich empfinde große Sympathie für die Ukraine. Nur: Wenn Russland kippt, sind wir Chinesen allein auf der Bühne. Und der Westen wird dann uns fertigmachen. Also müssen wir doch die Aggressoren unterstützen?“
Erstaunlicherweise blieb der ketzerische Post tagelang unzensiert stehen. Niemand weiß, ob diese Zurückhaltung dadurch zu erklären ist, dass die Führung vor dem Hintergrund der überwältigenden Zahl der Krisen im Land einfach ganz andere Sorgen hat, als unliebsame Meinungen zu zensieren – oder ob sie bewusst eine pluralistische Öffentlichkeit simulieren will, um sich den „Volkswillen“ als Hintertürchen für eine eventuelle Kurskorrektor offenzuhalten, für den Fall, dass ihre Außenpolitik ihr selbst gefährlich werden sollte.
Offensichtlich ist nur: Die politische Implikation der aktuellen Proteste hat längst auch Xi Jinping begriffen, der für die prekäre Situation nunmehr klare Worte findet. Am 7. Februar 2023, auf einem Seminar an der Zentralen Kaderschule, wiederholte der KPCh-Chef, was er bereits 2018 und 2021 angemahnt hat: „China und sein Volk sollen sich darauf vorbereiten, heftigen Stürmen und furchtbaren Wogen entgegenzusteuern.“ Der Unterschied zu 2018 oder 2021 ist allerdings, dass Xi sich nicht mehr auf Wogen vorbereiten muss: Sie sind schon da, politisch, massiv und unabhängig davon, worum es im Detail bei einzelnen Protesten geht und noch gehen wird.
Dies bestätigen nicht nur die politischen Slogans auf der Straße und der Umstand, dass immer mehr Chinesen die bisherige Vorsicht aufgeben, bei offenen Protesten trotzdem möglichst unpolitisch zu bleiben. Selbst die umfassende Online-Überwachung schreckt sie kaum noch ab. Es ist einfach so, dass die Gründe für politische Proteste so handfest geworden und nicht mehr so leicht zu beseitigen sind wie vor wenigen Jahren, als die chinesische Regierung noch im Geld schwamm. Denn inzwischen ist das Geld nicht mehr so reichlich verfügbar.
Vor acht Jahren, im Februar 2014, warnte ein offizieller Bericht der Chinese Academy for Social Sciences (Cass) in Peking mit drastischen Worten im Hinblick auf das Gesundheitswesen: Bis spätestens 2017 werde es in den Krankenkassen für Städter und noch mehr für die Wanderarbeiter aus den ländlichen Regionen große Lücken geben. Bis 2024 werde sich das gesamte Defizit in der Gesundheitsversorgung auf 735 Milliarden Yuan (etwa 95 Milliarden Euro) belaufen. Eine baldige Pleite der staatlichen Kassen sei zu befürchten. Zum Vergleich: Für 2023 plant die Zentralregierung eine zusätzliche Schuldenaufnahme in Höhe von 510 Milliarden Yuan ein. Diese Summe reicht nicht einmal aus, um die Löcher in den Krankenkassen zu stopfen. Von den Rentenkassen ganz zu schweigen, deren Defizite noch sehr viel größer sind.
Chinas Regierung ist angesichts dieser und weiterer Missstände hilflos: Nicht nur das Haushaltsdefizit der Zentralregierung in Peking steigt seit 2016 von Jahr zu Jahr, auch alle 32 chinesischen Provinzregierungen sind Ende 2022 in die roten Zahlen geraten sind, einschließlich der reichsten Stadt, Schanghai. Sparen statt protzen ist nun das Gebot der Stunde. Sparen bei allen, von denen das Regime am wenigsten Widerstand erwartet, etwa bei den Alten – wie in Wuhan und Dalian. Also werden Kassenleistungen für Rentner radikal gekürzt. Überraschend war nur, dass sich massiver Protest regte.
Er regte sich auch deshalb, weil kurzfristig keine Verbesserung der Lage in Sicht ist. In der Provinz Zhejiang, im Osten des Landes, so zeigt die Untersuchung der Cass, ist die Krise strukturell und wird andauern: In einem der industriellen Bezirke dort beläuft sich der Anteil der Rentner:innen an den gesamten Versicherten auf 67 Prozent. Ein Arbeitender muss also für zwei Rentner:innen mitbezahlen. Diese Versicherungsstruktur lässt sich auf keinen Fall mehr aufrechterhalten.
Dabei ist Zhejiang eine der produktivsten und wohlhabendsten Provinzen in China. Noch schlimmer ist die Situation im armen Nordosten, der in den letzten zehn Jahren über 10 Millionen Einwohner:innen an die reicheren Provinzen verloren hat, Tendenz stark steigend.
Am anderen Ende der chinesischen Alterspyramide verschärft sich eine weniger offensichtliche, aber für die Politik in Peking nicht weniger bedeutsame Krise: die der jüngeren Generation. Und zwar nicht allein, weil sie für immer mehr Mitglieder der Gesellschaft bluten muss, auch ihre Chancen im Berufsleben trüben sich ein, die Jugendarbeitslosigkeit steigt rapide.
2020, zu Beginn der Pandemie, betrug die Quote 14,5 Prozent. 2021 waren es 18,3 und 2022 über 20 Prozent.1 Allen Rettungsversuchen der Zentralregierung zum Trotz lag diese Zahl Anfang 2023 immer noch bei 19,8 Prozent, Tendenz steigend. Auch gut Ausgebildete sind betroffen, die Arbeitslosenquote unter Hochschulabsolvent:innen steigt Jahr für Jahr.
Die Regierung plant, 2023 bei einer deutlich besseren Wirtschaftslage bis zu 12 Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen. Dieses Jahr drängen aber auch 10 Millionen Uni-Absolventen auf den Arbeitsmarkt. Und Realität ist, dass die meisten dieser neuen Jobs, die entstehen sollen, sofern die Konjunktur wieder einigermaßen in Gang kommt, vor allem für un- und angelernte Arbeitskräfte gedacht sind, etwa in Zementfabriken oder im Kohlebergbau. Das heißt: Die Arbeitslosigkeit unter gut Ausgebildeten wird weiter zunehmen.
Die Konsequenzen sind politisch brisant. Das Problem betrifft ja nicht nur die arbeitslosen Jungakademiker selbst: Unzählige Familien in China haben viele Jahre gespart und in die Ausbildung ihrer Hoffnungsträger investiert. Sollte sich nun die Hoffnung so vieler Familien für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zerschlagen, geht davon eine über die soziale Dimension hinausreichende Signalwirkung aus. Denn es geht um nichts weniger als das politische Versprechen der Chinesischen KP nach dem Zusammenbruch des Weltkommunismus im August 1991: mit einer rasant wachsenden Wirtschaft eine dynamische, gebildete Mittelschicht zu schaffen.
Es war die gebildete Schicht, die 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking vergeblich politische Reformen gefordert hatte und die fast 35 Jahre lang ihre enttäuschten Träume durch Konsumrausch kompensierte. Jetzt ist es damit vorbei. Das war vermutlich ein wesentlicher Auslöser der „Weißpapier-Revolution“ vom Dezember 2022. Ein anderer war die erstickende Politik in der Coronapandemie.
Für die These einer bitter enttäuschten und sich deshalb wahrscheinlich erneut politisierenden urbanen Mittelschicht gibt es durchaus fachliche Bestätigung. Selbst amtliche Soziologen räumen mittlerweile ein, Angehörige der Mittelschicht, zu der nach staatlich geschönten Statistiken all jene gehören, die jährlich zwischen 40 000 Yuan (5400 Euro) und 420 000 Yuan (56 300 Euro) verdienen, könnten „in Armut zurückfallen“.
Laut Li Keqiang, dem gerade ausgeschiedenen Ministerpräsidenten, verdienen 42,85 Prozent aller Chinesen, also rund 600 Millionen, monatlich weniger als 1000 Yuan, umgerechnet 140 Euro. Zieht man die Grenze der „relativen Armut“ in China bei 2000 Yuan (280 Euro) pro Kopf und Monat, sind laut einer Studie der Universität Sun Yatzen in Guangzhou mehr als 940 Millionen Chinesen von Armut betroffen, über 67 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Wenn man die 90 Millionen Menschen, die laut offiziellen Statistiken unterhalb der absoluten Armutsgrenze leben, sowie die etwa 25 Millionen Chinesen, die sich zur Oberschicht zählen können, zusammenzählt, gehören zur Mittelschicht im besten Fall etwas mehr als 200 Millionen, konservativ gerechnet sind es weniger als 150 Millionen. Sollten Teile dieser Gruppe auch noch wegbrechen, lässt sich voraussehen, welche politischen Konsequenzen sich daraus für die regierende KPCh ergeben werden – ganz abgesehen von den ökonomischen Folgen, wenn die für die Erholung der Wirtschaft entscheidende Binnennachfrage schwindet, die vor allem von der Mittelschicht erwartet wird.
Zur Erinnerung: 1994, als die Reform- und Öffnungspolitik nach dem politischen Desaster von 1989 wieder in Schwung kam, verfasste eine Gruppe von Kindern hoher Parteikader, bekannt als „Prinzenpartei“, ein Programmpapier mit der Forderung, die KPCh von einer Revolutionspartei zur „Regierungspartei für tausend Jahre“ zu machen. Aus dem Scheitern der Sowjetunion zogen sie den Schluss, dass Michail Gorbatschow es versäumt habe, eine tragfähige, hoffnungsvolle Mittelschicht zu schaffen, die in der Hoffnung auf einen beständigen sozialen Aufstieg aus ureigenstem Interesse die Regierenden unterstütze. Über zwei Jahrzehnte lang schien sich diese Annahme zu bestätigen. Kommt jetzt ein abruptes Ende, weil die neue, dynamische Elite in den Strudel der multiplen Krise gerät?
Vieles weist in diese Richtung. Die Elite wird selbst immer mehr in Mitleidenschaft gezogen. Wegen der Ebbe in den öffentlichen Kassen wurden vor zwei Jahren erstmals die Gehälter von kleineren Staatsbediensteten gekürzt, in ärmeren Provinzen bis zu 35 Prozent. Betroffen sind nicht nur vereinzelt Ministerialbeamte, sondern in der Breite auch Lehrer staatlicher Schulen. Und das ist erst der Anfang.
Auf dem letzten Volkskongress im März wurde beschlossen, das Heer der Beamten um 5 Prozent zu verkleinern. Laut unbestätigten Berichten soll den Bediensteten ihre staatlich garantierte Sozialversicherung, vor allem die Altersrente, teilweise oder ganz gestrichen werden. Für die Teile der urbanen Mittelschicht, deren dynamischer Aufstieg längst zur Vergangenheit gehört, sind solche Maßnahmen der Regierung ein Schlag ins Gesicht: Vor wenigen Jahren bewarben sich auf eine Beamtenstelle bis zu 10 000 Anwärter, um sich die „eiserne Reisschale“ zu sichern. Jetzt ist die erhoffte Sicherheit auch für die Staatsbediensteten dahin.
Und das gilt nicht nur für den gut gefüllten Geldbeutel. Während der ersten Amtszeit von Parteichef Xi Jinping (2012–2017) wurden laut parteiinternen Statistiken im Zuge der Antikorruptionskampagne 2 Millionen Kader abgesetzt. Böse Zungen behaupten seit Jahren, in China sei es nicht mehr allein das gemeine Volk, das sich kein abgesichertes Leben leisten kann (minbu liaosheng), jetzt treffe es die Staatsbediensteten ebenso (guanbu liaosheng).
Als prominente Beispiele für den Wahrheitsgehalt dieses neuen geflügelten Wortes mögen die vier stellvertretenden Minister für öffentliche Sicherheit während der beiden Amtszeiten von Xi Jinping dienen: Alle vier, darunter auch Meng Hongwei, der von Xi als Chef von Interpol (2016–2018) entsandt worden war, landeten im Gefängnis. Drei von ihnen bekamen lebenslange Haftstrafen wegen Korruption, der Vierte wurde „auf Bewährung“ zum Tode verurteilt. Eine Strafe, die normalerweise nach zwei Jahren guter Führung zu lebenslanger Haft umgewandelt wird.
Die politische Botschaft ist klar: In schwierigen Zeiten ist Loyalität nichts mehr wert, das gilt auch und am meisten für die oberen Ränge der Macht. Ironischerweise beschwor Xi Jinping während seiner zweiten Amtszeit wie keiner vor ihm, dass für alle Parteimitglieder, -funktionäre und Staatsbediensteten Loyalität die wichtigste Eigenschaft sei. Sie alle werden immer wieder angehalten, ihr Gelöbnis zu wiederholen, das sie beim Eintritt in die Partei abgelegt haben. Darin enthalten ist der Satz: „Ich schwöre, zeitlebens der Partei loyal zu dienen.“
Aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der KPCh am 1. Juli 2021 erschien auf der Website der gefürchteten „Kommission für Disziplinkontrolle“, die eine ähnliche Funktion erfüllt wie einst die Inquisition in Europa, eine Art Warnung, was mit Leuten geschieht, die diesen Schwur brechen. Es war die Geschichte von Gu Shunzhang, dem ersten „Verräter“, der Anfang der 1920er Jahre hingerichtet wurde – und nicht nur er: Seine gesamte Sippe und seine persönlichen Freunde mussten ebenfalls dran glauben.
Jugendarbeitslosigkeit und Altersarmut
Es ist allerdings bemerkenswert, dass selbst derart furchterregende Drohungen von höchster Stelle der Partei nicht ausreichen, um Beschlüsse des Politbüros oder gar des Ständigen Ausschusses des Politbüros tatsächlich durchzusetzen. 2022 leistete die Stadtregierung von Schanghai monatelang erfolgreich Widerstand gegen den Befehl aus der Zentrale, die 25-Millionen-Metropole unbedingt, umgehend und vollständig in den Lockdown zu versetzen. Als der Lockdown am Ende doch durchgesetzt wurde, wurde niemand in der Stadtregierung, auch nicht der damalige Oberbürgermeister Li Qiang, wegen illoyalen Verhaltens zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil: Li Qiang ist mittlerweile der neue Ministerpräsident Chinas.
Ähnliches geschah Ende 2022: Im November hatte der Ständige Ausschuss des Politbüros noch geschworen, die Null-Covid-Politik niemals aufzugeben, denn dieser „chinesische Weg zur Pandemiebekämpfung“ habe sich „weltweit als der einzig richtige und effektivste bewährt“. Wenige Wochen später wurde der gegenteilige Beschluss gefasst und landesweit durchgesetzt, doch niemand trug die Verantwortung für die Fehler und deren horrende Folgen. Niemand von der Zentralregierung wurde bestraft, auch niemand vom staatlichen Disease Control Center (CDC), das die fachlichen Expertisen sowohl für die Lockdownpolitik als auch später für die Kehrtwende geliefert hatte.
Binnen weniger Wochen steckten sich 80 Prozent der Bevölkerung mit diversen Omikron-Varianten an, ohne dass jemand dafür zur Rechenschaft gezogen wurde; Gleiches gilt für den weisen Beschluss der Kommandozentrale der KPCh, zur gesundheitspolitischen Kehrtwende keinerlei logistische Vorkehrungen zu treffen. Nicht einmal Ibuprofen war verfügbar, ein Medikament, von dem 60 Prozent des weltweiten Bedarfs in China produziert wird.
Nicht erst seit der spektakulären Kehrtwende in der Pandemiepolitik steht die Frage im Raum, ob alle Fehler, die seit Xi Jinpings Amtsantritt Ende 2012 passiert sind, tatsächlich der Illoyalität im Apparat geschuldet sind, der Xis weise Instruktionen einfach nicht eins zu eins umgesetzt hat. Oder ob sie darauf zurückzuführen sind, dass der Parteichef und seine Beraterteams keine Ahnung von einigermaßen funktionierender Realpolitik haben.
Keine der beiden Antworten ist schmeichelhaft für die Machthaber, am wenigsten für Xi Jinping. Allerdings wagt niemand, derartige Fragen offen auszusprechen. Fakt ist, dass derzeit alle, die auf keinen Fall etwas falsch machen beziehungsweise nicht für etwas Falsches zur Rechenschaft gezogen werden wollen, einfach gar nichts tun. Die Konsequenz dieser Zustände innerhalb des KPCh-Apparats ist ein grotesker und fataler Teufelskreis.
Mit der wirtschaftlichen und der demografischen Krise steckt die Politik in einem zweifachen Dilemma: Will man mit einer erhöhten Geldmenge die Konjunktur ankurbeln, wächst der Inflationsdruck; bekämpft man die Inflation, könnten die zaghaften Konjunkturanreize schnell wieder erstickt werden; verlängert man die Lebensarbeitszeit der älteren Generation, um die Zeitbombe der leeren Rentenkassen und damit möglicher Massenunruhen nicht zu früh hochgehen zu lassen, drängt man zugleich noch mehr junge, darunter auch gut ausgebildete Menschen in strukturelle Langzeitarbeitslosigkeit und schwächt zusätzlich die Kranken- und Rentenkassen.
Gerade diese und weitere Probleme erfordern rechtzeitige, ausgewogene und tragfähige politische Entscheidungen. Doch zu solchen zu gelangen, wird immer schwieriger – nicht zuletzt, weil mit der schwindenden Verantwortungsbereitschaft innerhalb des Apparats komplizierte Entscheidungen von unten nach oben weitergereicht werden. Bürokratische Grabenkämpfe und Verschleppungstaktik sorgen dafür, dass am Ende einige wenige (oder gar ein Einzelner) die Weichen stellen müssen, ohne jedoch sicher sein zu können, dass ihre Entscheidungen auch umsetzbar sind. Und falls sie es sind, ist noch lange nicht klar, wie und über welchen Zeitraum.
Je langwieriger die politischen Aushandlungsprozesse in China werden, desto tiefer und unentwirrbarer werden die Sachzwänge und Dilemmata. Entsprechend notwendig wären ein klarer politischer Wille, Vertrauen in die politische Elite und tatsächliche Loyalität. Diese kann schon lange nicht mehr vorausgesetzt werden.
Es ist klar, weder Vertrauen noch Loyalität lassen sich durch Säuberungen und die Androhung drakonischer Strafen erzwingen. Beides bewirkt eher das Gegenteil, so dass das Krisenpotenzial, das Xi als „stürzende Wogen und furchtbare Stürme“ metaphorisiert hat, wächst und wächst. Freilich bleibt die KPCh-Führung nicht einfach tatenlos. In aller Stille und mit dubiosen Maßnahmen bereitet sie sich auf jene „stürzenden Wogen“ vor.
Kurz nach dem 20. Parteitag der KP Chinas im vergangenen Oktober wurde die Gesamtstaatliche Genossenschaft für Versorgung und Vertrieb wiederbelebt; eine Institution aus der Mao-Zeit, die bis zum Ende der Kulturrevolution 1976 existierte, um die strenge Rationierung alles im Alltag Nötigen zentralstaatlich zu organisieren: von Getreide wie Weizenmehl und Reis über Eier und Fleisch bis hin zu Hefe, zeitweilig auch Klopapier. Von einer solchen Verknappung in der materiellen Versorgung ist China gewiss noch weit entfernt. Dennoch ist der Plan so ernst gemeint, dass diese „Genossenschaft“ in den Rang eines Ministeriums erhoben wurde. Während Beamtengehälter gekürzt werden, schreibt die neue Institution nun Stellen aus.
Kein gutes Omen ist auch folgende Maßnahme: In Großstädten wie Wuhan, Qingdao und Guiyang begannen die Stadtverwaltungen, ebenfalls im Oktober 2022, „kollektive Speisungen“ zu organisieren. Es hieß, damit sollten Alte und Arme unterstützt werden. Es sieht so aus, als würden schon mal vorauseilend Almosen organisiert, sollte die soziale Absicherung zu früh und zu schnell zusammenbrechen.
Kritiker fragten, warum dieser staatliche Eingriff erfolgte, wenn sich doch vor allem die private Gastronomie nach der Pandemiestarre wieder erholen sollte. Mit solchen Armenküchen müssten einfache Garküchen schließen, und es würden noch mehr Almosenempfänger:innen produziert. In Wahrheit aber, und das wagt niemand in der Regierung offen einzugestehen, kann von einer schnellen Erholung der kleinen Alltagsbetriebe keineswegs ausgegangen werde, weshalb man für den schlimmsten Fall vorsorgen muss.
Und was die „furchtbaren Stürme“ angeht: Die Furcht davor wird, wie schon immer, von der Spitze bis ganz nach unten weitergegeben. Anfang 2023 unterzeichnete Xi Jinping einen Befehl, wonach ab dem 1. März alle Chines:innen zwischen 18 und 60 Jahren, Männer wie Frauen, als Armeereservist:innen zu erfassen sind. Dabei ist weit und breit kein Kriegsszenario in Sicht, nicht einmal gegenüber Taiwan, jedenfalls offiziell.
Es sieht ganz danach aus, als wolle man Vorbereitungen für eine militärische Trainingspflicht treffen, sollte sich die soziale und politische Stabilität ernsthaft verschlechtern. Und dabei geht es dann nicht um den berühmten Stechschritt, sondern um Disziplinarmaßnahmen, um all jene in Schach zu halten, die noch Mut und Kraft finden, aufzubegehren. Das nächste Mal könnten sie, mit womöglich mehr als nur weißem Papier in der Hand, für die Verweigerung des Kriegsdienstes demonstrieren, sollte eine „Wiedervereinigung mit Taiwan“ durch Waffengewalt beschlossen werden.
Damit schon mal niemand auf dumme Gedanken kommt, erging Anfang März der Befehl, die Strafprozessordnung im Hinblick auf eine mögliche Militärverwaltung anzupassen, so dass im Notfall die Volksbefreiungsarmee und nicht das zivile Justizwesen die Befugnis zur Strafverfolgung bekommt, um die Widerspenstigen rasch zu zähmen. Sind dies schon erste Vorbereitungen auf ein kommendes Kriegsrecht?
1 „1 in 5 of China’s urban youth are unemployed“, CNN Business, 19. September 2022.
Shi Ming ist freier Journalist in Berlin.
© LMd, Berlin