13.04.2023

Unsichere Zuflucht

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Unsichere Zuflucht

In Nepal müssen Exil-Tibeter den langen Arm Pekings fürchten

von Victoria Jones

Verhaftung eines tibetischen Demonstranten, Kathmandu, Februar 2012 NARENDRA SHRESTHA/picture alliance/dpa
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Nepal beherbergt, abgesehen von Indien, weltweit die meisten Flüchtlinge aus Tibet. Genaue Zahlen gibt es nicht, da viele Ti­be­te­r:in­nen keine Dokumente besitzen – doch laut einem UNHCR-Bericht von 2020 sind es vermutlich insgesamt 12 540. In den letzten Jahren ist die Anzahl der Neuankömmlinge allerdings stark zurückgegangen, denn viele wollen sich nicht gern in einem Land niederlassen, wo sie systematisch diskriminiert werden.

Nepal und China haben eine 1200 Kilometer lange gemeinsame Grenze. Im Laufe der 1950er Jahre wurde Nepal nach der Besetzung Tibets durch die chinesische Armee zum Zufluchtsort für Geflüchtete aus Tibet. Heute gibt es dort mehrere Lager für Geflüchtete, doch die meisten leben in der Gegend der Hauptstadt Kathmandu und in der zweitgrößten Stadt Pokhara.

1955 nahmen China und Nepal erstmals diplomatische Beziehungen auf, 1956 unterzeichneten sie einen Vertrag, in dem Nepal Tibet als Teil Chinas anerkannte. Die Finanzierung der tibetischen Widerstandsbewegung durch den US-Geheimdienst CIA in den 1960er Jahren stellte eine Belastungsprobe der bilateralen Beziehungen dar, die 1960 zusätzlich mit einem Freundschaftsvertrag besiegelt worden waren. In den 1970er Jahren jedoch bot sich für die USA die Möglichkeit, Verhandlungen mit Mao aufzunehmen, um die UdSSR auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs zu isolieren, weshalb Präsident Nixon (1969–1974) die Unterstützung für die Tibeter einstellte.

In den letzten Jahren verstärkte Nepal nach und nach den Druck auf die tibetische Community. Bis 2001, als König Birendra – vermutlich von seinem Sohn – ermordet wurde, war es den Ti­be­te­r:in­nen erlaubt, ihre Anliegen öffentlich zu benennen. Doch 2002 untersagte die Regierung erstmals die Feier­lichkeiten zum Geburtstag des Dalai Lama, und 2005 ließ sie sein nepalesisches Büro auf Druck Pekings schließen.

Ein weiterer Schlüsselmoment war das Jahr 2008. Nepal hatte gerade nach mehreren Jahren Bürgerkrieg die Republik ausgerufen, und China wollte bei der neuen Regierung einen Fuß in der Tür behalten. Gleichzeitig fanden in Peking die Olympischen Sommerspiele statt. Während alle Welt das sportliche Großereignis verfolgte, war China, besorgt um sein internationales Ansehen, bemüht, jeden Ärger mit den Nachbarn zu vermeiden.

Doch zu Pekings Missfallen nutzte die tibetische Diaspora in Nepal und andernorts die Gelegenheit, und demonstrierte für ihre Rechte. In Nepal wurden Hunderte von ihnen verhaftet. Von da an begann die KPCh ihre Verbindungen zu Nepals Parteien massiv zu verstärken, um sicherzugehen, dass die tibetischen Flüchtlinge in Schach gehalten werden.

2009 versprach China dem Land nicht nur Kredite für den Ausbau der Infrastruktur und des Agrar-, Energie- und Tourismussektors, sondern auch landwirtschaftliche Ausbildungsprogramme und eine Senkung der Zölle. Im Gegenzug wiederholte Nepal seine Zusage, alle „antichinesischen und separatistischen Bestrebungen“ auf seinem Territorium zu unterbinden. Nachdem es die Grenzkontrollen entlang der chinesischen Grenze verstärkt hatte, übergab es 33 aus Tibet eingereiste Menschen den chinesischen Behörden. Damit brach die nepalesische Regierung ihre informelle Garantie gegenüber der UNHCR, Ti­be­te­r:in­nen einen sicheren Transit nach Indien zu gewähren.

Ebenfalls 2009 bekräftigte Nepal sein Festhalten an der Ein-China-Politik. Der Dalai Lama, den Peking als Separatisten bezeichnet, war deshalb noch nie in Nepal, obwohl das Land als Geburtsort Buddhas gilt. Im Januar 2012 reiste der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao zum ersten Staatsbesuch seit mehr als zehn Jahren nach Kathmandu, um die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Zusammenarbeit zu intensivieren. Den nepalesischen Sicherheitskräften versprach er 10 Millionen Yuan (1,6 Millionen US-Dollar) Unterstützung.

Seit Xi Jinping im November 2012 Vorsitzender der KPCh wurde, baut China seinen Einfluss noch massiver aus. Peking ist nach Auskunft der nepalesischen Sicherheitsbehörden sogar stets früher über tibetische Aktivitäten informiert als sie selbst und erteilt ihnen konkrete Anweisungen zu Polizeieinsätzen. Friedliche Proteste werden sofort niedergeschlagen, und für Versammlungen an tibetischen Feiertagen gibt es strenge Auflagen, wenn sie nicht ganz verboten werden. Laut Human Rights Watch geschieht dies alles „unter dem Druck chinesischer Behörden“.1

Druck auf buddhistische Klöster

Vor allem wenn hochrangige chinesische Regierungsbeamte nach Kathmandu kommen, wird es hart, erzählt Karma Gyaltsen, Vorsitzender des Tibetan Refugee Welfare Office: „Die Regierungsbehörden warnen uns mündlich, uns zurückzuhalten. Wenn wir den Anweisungen nicht folgen, werden wir verhaftet.“ Ein tibetischer Flüchtling, der anonym bleiben will, berichtet, dass die Polizei vor chinesischen Staatsbesuchen entweder anruft oder vorbeikommt und das Haus durchsucht. Stets werde dann gedroht, „einige von uns nach China abzuschieben. Sie sagen dann, wir hätten ja keine Papiere, das wäre ganz einfach.“

Die chinesische Botschaft in Kathmandu unterstützt die nepalesischen Behörden finanziell und durch Schulungen. Die Flüchtlingscamps werden von chinesischer Seite überwacht, zudem kursieren in der tibetischen Community Gerüchte über chinesische Infiltrationsversuche: Ti­be­te­r:in­nen werden mit Geld oder durch Erpressung mit der Sicherheit ihrer noch in Tibet lebenden Familien als Agen­t:in­nen angeworben.

Laut nepalesischen Quellen fürchtet Peking vor allem die Unterwanderung durch von der „Dalai-Lama-Clique“ in Indien trainierte „Saboteure“. Es heißt, China wolle rund um die tibetische Hauptstadt Lhasa eine Reihe konzentrischer Sicherheitsgürtel schaffen, wobei der äußerste durch Nepal verlaufen soll.

Die Geschichte des engen kulturellen Austauschs, des Handels und der Freizügigkeit in der Grenzregion zwischen Nepal und Tibet endete 1959 nach dem tibetischen Aufstand gegen die chinesische Besatzung. Als die Volksrepublik China 1961 offiziell die Außengrenze festlegte zog, wurde die Bevölkerung gezwungen, sich für eine Nationalität zu entscheiden – ein Konzept, das ihr bis dahin fremd war.

In der Himalajaregion an der Grenze mangelt es an Infrastruktur, vor allem an Straßen. Schon deshalb fühlen sich noch heute viele – sowohl im übertragenen Sinne und als auch ganz konkret – wenig mit der nepalesischen Nation verbunden und mehr mit dem tibetischen Buddhismus. In der üppigen grünen Landschaft trifft man sowohl auf buddhistische als auch hin­duis­tische Heiligtümer.

Nach dem verheerenden Erdbeben in Nepal 2015 wollte China die kulturelle Durchmischung unterbinden, forderte die nepalesische Regierung auf, Ti­be­te­r:in­nen aus der Grenzregion in andere Landesteile umzusiedeln und den regen Grenzverkehr einzuschränken. Übrig geblieben sind verlassene Märkte und Geschäfte.

Einzelne Klöster in Grenznähe werden von Peking finanziert, um sie auf Linie zu bringen und direkte Verbindungen zu den örtlichen Lama-Gelehrten aufzubauen. Dieses Vorgehen ist Teil einer konzertierten Aktion, mit der sichergestellt werden soll, dass die Klöster ihren Dalai-Lama-Kandidaten unterstützen – denn nach Ansicht der chinesischen Regierung liegt die Entscheidung über die Nachfolge bei ihr. Auch die chinesische Belt-and-Road-Ini­tia­tive sieht den Bau von Klöstern vor, um einen parteikonformen tibetischen Buddhismus zu fördern.

Bis 2015 war der Araniko-Highway mit dem Grenzübergang Kodari die wichtigste Verkehrsverbindung zwischen Nepal und China, doch nun ist er für den Personenverkehr geschlossen, weil China ihn als Drehkreuz für „protibetische und antichinesische“ Aktivitäten betrachtet. Als Ersatz dient der schwieriger zu passierende Übergang in Rasuwagadhi. Von nepalesischer Seite beobachtet man dort ein großes Aufgebot chinesischer Soldaten, angeblich ist die Volksbefreiungsarmee sogar in nepalesisches Territorium eingedrungen.

Drei Viertel ohne Papiere

2014 verabschiedete Nepal ein Rechtshilfegesetz, das vorsieht, Ti­be­te­r:in­nen an der Einreise zu hindern und zurückzuschicken. Doch China ging die Regelung nicht weit genug. Bei seinem Besuch im Oktober 2019 bedrängte Xi die nepalesische Regierung, ein Auslieferungsabkommen für tibetische „Unruhestifter“ zu unterzeichnen. ­Indien, Großbritannien und die USA hingegen setzten Nepal unter Druck, das Abkommen nicht zu unterschreiben, weshalb Kathmandu zunächst zögerte.

Wenig später veröffentlichten Nepal und China eine gemeinsame Erklärung über eine zukünftige engere Zusammenarbeit. Vorgesehen waren eine Vereinbarung zum Grenzmanagement und ein Rechtshilfevertrag bei Strafverfolgung, der es China noch leichter macht, gegen die tibetische Community in Nepal vorzugehen. Laut der International Campaign for Tibet (ICT) erlaubt dieser zweite Vertrag den Unterzeichnern, im Nachbarland Menschen vorzuladen und Beweise zu sammeln.

Mit anderen Worten: Tibeter:innen, die sich in Nepal aufhalten, sind noch stärker der Verfolgung durch die chinesischen Behörden ausgesetzt. Des Weiteren hieß es in einem Bericht der ICT von 2020, dass die Vereinbarung zum Grenzmanagement beide Staaten dazu verpflichtet, „Personen, die beim ‚illegalen Grenzübertritt‘ gefasst werden, innerhalb von sieben Tagen zurückzuschicken“.2

Während Xis Besuch 2019 wurden in Kathmandu mindestens 25 Personen festgenommen, darunter sowohl tibetische Flüchtlinge als auch nepalesische Staatsbürger:innen. Die nepalesischen Behörden erklärten, dies sei Teil einer „Sicherheitsübung“ gewesen. Karma Gyaltsen sagt: „Die Menschen wurden verhaftet, nur weil sie Slogans riefen und Plakate mit Bezug auf Tibet dabeihatten. Einige von ihnen haben einfach nur tibetische Taschen verkauft oder tibetische Kleidung getragen.“

Nepal unterdrückt mittlerweile fast jeden Ausdruck tibetischer Kultur, selbst wenn dieser weder offen politisch noch auf irgendeine Weise „antichinesisch“ ist. Die repressiven Maßnahmen treffen längst nicht mehr nur Tibeter:innen, sondern auch Ne­pa­les:in­nen.

Der Westen – insbesondere die USA – versuchen immer wieder auf Kath­man­du einzuwirken. Ende Mai 2022 besuchte Uzra Zeya, eine US-Staatssekretärin für zivile Sicherheit, Demokratie und Menschenrechte und Sonderkoordinatorin für tibetische Fragen, das Flüchtlingslager Jawalakhel in Lalitpur und Ne­pale­s:in­nen in Kathmandu. Zuvor hatte sie sich in Indien mit dem Dalai Lama getroffen. Das nepalesische Außenministerium behauptete, keine Kenntnis gehabt zu haben, dass Treffen mit tibetischen Flüchtlingen geplant seien. Andere Quellen bestätigen allerdings, dass es sehr wohl davon wusste. Dass die nepalesische Polizei Zeya eskortierte, spricht ebenfalls dafür. Prompt erinnerte Peking nachdrücklich daran, dass Nepal sich der „Ein-China-Politik“ verpflichtet hat.

Schon seit den 1990er Jahren gibt Nepal keine neuen Refugee Identity Cards (RC) mehr an Ti­be­te­r:in­nen aus, und viele vermuten dahinter Druck aus China. Deshalb haben heute geschätzte 4000 bis 9000 der Ti­be­te­r:in­nen in Nepal – also drei Viertel von ihnen – keinen Ausweis, diejenigen unter ihnen, die unter 43 Jahre alt sind, verfügen meist über keinerlei Identitätsnachweis.

Ein Rechtsanspruch ist allerdings auch mit einer RC nicht verbunden. Die nepalesischen Behörden entscheiden von Fall zu Fall und je nach Provinz und Distrikt sehr unterschiedlich. In Kathmandu zum Beispiel berechtigt eine RC manchmal noch nicht mal dazu, ein Konto zu eröffnen.

Wegen fehlender Dokumente sind die meisten Ti­be­te­r:in­nen in Nepal gezwungen, sich eine andere Identität und falsche Papiere zuzulegen, um der Polizei nicht vollkommen schutzlos ausgeliefert zu sein. Ohne Papiere bekommen sie auch keine regulären Jobs und können nicht reisen. Für diese ohnehin vulnerable Gruppe wächst beständig die Gefahr, Opfer von Ausbeutung zu werden. Im Grunde ist es so, als würden sie im rechtlichen Sinne gar nicht existieren – und das ist genau das, was China will. Und Nepal kann so verfahren, weil das Land weder die Genfer Flüchtlings­kon­ven­tion von 1951 noch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1967 unterzeichnet hat und keine Asylgesetzgebung kennt.

Nepal steht im Hinblick auf die tibetischen Flüchtlinge buchstäblich zwischen China und Indien, zusätzlich kommt Druck von den USA. Die globale Macht Chinas wächst indes weiter, und da die Wahl eines nächsten Dalai Lama immer näher rückt, sind die bisherigen Repressionen wohl nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird.

1 Human Rights Watch, „World Report 2022: Nepal“.

2 „New China-Nepal agreements could deny Tibetans freedom“, International Campaign for Tibet, 11. Februar 2020.

Aus dem Englischen von Anna Lerch

Victoria Jones ist Forscherin bei der Asia-Pacific Foundation in London und Chefredakteurin der Onlineplattform Interzine.

© LMd, London; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.04.2023, von Victoria Jones