09.03.2023

Gnadenlos und unerschüttert

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Gnadenlos und unerschüttert

Wie das syrische Regime vom Erdbeben profitiert

von Jean Michel Morel

Ägyptens Außenminister Sameh Shoukry zu Gast in Damaskus, 27. Februar 2023 picture alliance/ap/uncredited
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Das syrische Regime ist offenbar durch nichts zu erschüttern. Nicht durch die massive Armut, unter der 90 Prozent der Bevölkerung leiden, nicht durch die prekäre Ernährungslage von 12 Millionen Menschen, nicht durch die Tatsache, dass mehr als 7 Millionen zu Binnenflüchtlingen im eigenen Land geworden sind.

Die Unerschütterlichkeit des Assad-Regimes hat verschiedene Gründe: die gnadenlose Verfolgung aller gegnerischen Kräfte, die Ohnmacht einer gespaltenen Opposition, die Tatsache, dass der Staatschef zugleich der unabsetzbare Chef eines mächtigen Clans ist. Vor diesem Hintergrund ist das jüngste Erdbeben mit (bislang) fast 6000 Todesopfern für den Herrscher in Damaskus vor allem eines: die Chance, seine außenpolitische Isolation zu durchbrechen, insbesondere in der Arabischen Liga, die Syrien 2011 ausgeschlossen hat.

Im Westen, aber auch in der arabischen Welt wurde nach dem Beben mehrfach die Forderung laut, die von den Vereinten Nationen gegen Syrien verhängten Sanktionen sollten ausgesetzt oder ganz aufgehoben werden, damit Hilfsgüter leichter ins Land gelangen könnten. Andere Stimmen hielten dagegen und verwiesen darauf, dass humanitäre Hilfsgüter gar nicht auf den Sanktionslisten stehen.

Allerdings konnte sich Assad bereits lange vor der Katastrophe Hoffnungen auf ein Ende der internationalen Isolation Syriens machen.1 So telefonierte König Abdullah von Jordanien schon vor zwei Jahren mit dem Diktator, nachdem ein Jahrzehnt Funkstille zwischen Amman und Damaskus geherrscht hatte. Und im März 2022 wurde Assad in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) von Mohammed bin Zayid empfangen, dem heutigen Präsidenten der VAE, der damals Kronprinz von Abu Dhabi, aber bereits der starke Mann der Föderation war.

Die VAE und Bahrain hatten schon davor ihre Botschaften in Damaskus wiedereröffnet. Irak, Algerien, Libanon, Mauretanien und Oman hatten ihre diplomatischen Beziehungen zum syrischen Regime nie abgebrochen. Die Organisation der arabischen erdölexportierenden Länder (Oapec) beschloss Anfang Dezember einstimmig, dass ihre Jahreskonferenz 2024 in Sy­rien stattfindet.

Erst kürzlich hat Saudi-Arabien in dem Bestreben, den wachsenden Einfluss Irans und der Türkei in der Region zurückzudrängen, die Gespräche mit dem syrischen Regime wieder aufgenommen. Am 27. Februar konnte Assad einen weiteren sehr wichtigen Erfolg verbuchen: Auf dem Flughafen von Damaskus konnte er den ägyptischen Außenministers Sameh Shoukry empfangen, der persönlich die Solidarität mit den Erdbebenopfern bekunden wollte.

Auf dem Gipfeltreffen der Arabischen Liga am 1. November 2022 wurde die Wiederaufnahme Syriens zwar noch verschoben, trotz des erklärten Wunschs des Gastgebers Algerien und trotz diplomatischer Bemühungen Russlands. Aber die Entscheidung ist nur aufgeschoben, und da Ägypten keine Einwände mehr hat, könnte Damaskus sogar schon beim nächsten Gipfel wieder in den Schoß der „arabischen Familie“ zurückkehren.

Die Europäische Union hat hingegen wiederholt die Wiederaufnahme von Beziehungen zu Damaskus ausgeschlossen, solange die Unterdrückung weitergehe und die syrischen Verhandlungspartner nicht die feste Absicht zeigten, den Weg in Richtung Demokratie einzuschlagen. Allerdings haben einige europäische Staaten, wie Griechenland, Serbien, Ungarn und die Republik Zypern, ihre Botschaften in Damaskus schon wieder eröffnet.

Die schleichende Rückkehr Syriens in die Internationale Gemeinschaft kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Souveränität des Landes stark eingeschränkt ist. Bis zum 6. Februar, dem Tag des Erdbebens, hatte das Nachbarland der Türkei vor allem die kriegerischen Absichten des türkischen Präsidenten Recep Tay­yip Erdoğan gefürchtet, der eine weitere Militäroperation nach dem Vorbild früherer Aktionen plante (al-Bab 2016, Afrin 2018, Ras al-Ain und Tal Abjad 2019). Zur Rechtfertigung dieser Angriffe hatte Erdoğan behauptet, dass die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Partei der Demokratischen Union (PYD) – der kurdische Zweig der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) – eine Gefahr für die Sicherheit der Türkei darstellten.

Die türkischen Operationen in Nordsyrien stützen sich auf Söldner, die sich selbst als Syrische Nationale Armee (SNA) bezeichnen. Diese Operationen gingen einher mit Gewalttaten gegen Zivilisten und ethnischen Säuberungen und endeten mit einer dauerhaften Besetzung, die sich Ankara stolze 2 Milliarden Dollar pro Jahr kosten lässt. Die syrische Lira wurde durch die türkische Lira, die arabische und kurdische Sprache durch die türkische ersetzt. Da die Türkei auch die Imame ernennt, ist damit de facto ein türkisches Protektorat entstanden.

Erdoğan Endziel ist, auf syrischem Staatsgebiet eine 30 Kilometer tiefe und 911 Kilometer lange Sicherheitszone parallel zum Grenzverlauf zu schaffen. In diesem Gebietsstreifen sollten auch 1 Million der insgesamt 3,5 Mil­lio­nen syrischen Staatsangehörigen angesiedelt werden, die wegen des Kriegs in die Türkei geflüchtet sind. 1,7 Millionen von ihnen sind nun auch vom Erdbeben betroffen. Man kann jetzt nur hoffen, dass die Folgen dieser Katas­trophe (siehe oben) Präsident Erdoğan veranlassen werden, seine militärischen Pläne für Nordsyrien aufzugeben.

Der Süden der Region Afrin rund um die Stadt Idlib ist ein weiteres Gebiet, über das der syrische Staat die Kontrolle verloren hat. In dieser etwa 6000 Quadratkilometer großen Region an der Grenze zur Türkei leben 3 Millionen Menschen, zumeist Binnenvertriebene. Die Hälfte davon haust in improvisierten Lagern unter Plastikplanen.

Idlib wird heute weitgehend von der 35 000 Kämpfer zählenden Gruppe Ha’at Tahrir asch-Scham (HTS) unter der Führung von Abu Mohammed al-Dschaulani kontrolliert. Der hat mit seiner „Heilsregierung“ eine Verwaltung errichtet, die Steuern von Geschäftsleuten eintreibt, an der Grenze zur Türkei Zölle erhebt und den Handel mit Captagon kontrolliert, einem Aufputschmittel für die Kämpfer, das in Syrien massenweise hergestellt wird.2

Der Dschihadistenführer al-Dschau­lani, der sich als der einzige Erbe der (gescheiterten) syrischen Revolution von 2011 betrachtet, will seinen Einfluss über Idlib hinaus ausdehnen. Dabei ist ihm klar, dass angesichts der sich abzeichnenden Annäherung zwischen Ankara und Damaskus das Überleben seines Protostaats davon abhängt, wie sich die Beziehungen zu den anderen Akteuren in der Region entwickeln.

Dabei verfügt al-Dschaulani über einen wichtigen Trumpf: Er kontrolliert den Grenzübergang Bab al-Hawa, der bis Mitte Februar zunächst der einzige war, den Lkws mit Hilfsgütern der NOGs und der UN passieren konnten. Auch al-Dschaulani hat versucht die Folgen des Bebens für sich zu nutzen, in dem er seinen Verwaltungsapparat als seriösen Partner für internationale Hilfegeber darstellte.3

Ein weiterer Akteur, der in Syrien viel Einfluss hat, ist Teheran. Die Iraner haben das Assad-Regime seit Beginn des bewaffneten Aufstands immer wieder unterstützt, durch Entsendung ihrer Revolutionsgardisten und die Mobilisierung der libanesischen Hisbollah wie auch schiitischer Milizionäre aus Afghanistan und Pakistan. Diese tausende Kämpfer haben entscheidend dazu beigetragen, den Assad-treuen Truppen zum Sieg zu verhelfen.

Die iranischen Milizionäre haben vor allem im Gebiet um Aleppo und in der Provinz Deir al-Sor Fuß gefasst. Dort rekrutieren sie auch junge Syrer, denen sie einen höheren Sold bieten als die syrische Armee.

Die iranische Präsenz bedeutet automatisch, dass sich auch Israel einmischt – eine weitere Regionalmacht, die wenig Rücksicht auf die syrische Souveränität nimmt. Nach der Ermordung von Qassem Soleimani, dem Kommandeur der Quds-Brigade der iranischen Revolutionsgarden, durch die USA im Januar 2020 rückte dessen Stellvertreter Esmail Qa’ani nach. Der ließ im Bemühen, die „Achse des Widerstands“ gegen Israel zu stärken, auf syrischem Boden zahlreiche Waffen- und Munitionsdepots für die schiitischen Milizen anlegen.

Diese Depots werden regelmäßig von Israel bombardiert. Dabei nimmt Tel Aviv für sich in Anspruch, präventiv zu handeln, womit auch Angriffe auf den Flughafen von Damaskus, auf Militärstützpunkte der Regierung und auf Ziele in Wohngebieten gerechtfertigt werden. Zwölf Tage nach dem Erdbeben, am 19. Februar, traf eine israelische Rakete ein Gebäude im Zentrum von Damaskus, dabei starben mindestens fünf Menschen.

Die syrische Regierung, die vergeblich protestierte, kann bei solchen Vorfällen keine Hilfe von ihrem Verbündeten und Beschützer Russland erwarten.Moskau hat den Konflikt in Syrien genutzt, um wieder im Nahen Osten Fuß zu fassen, und sichert seit 2015 mit seinen Luftstreitkräften das Überleben des Assad-Regimes.

Als Gegenleistung gestattete Sy­rien dem russischen Militär, zwei große Stützpunkte einzurichten: einen auf dem Flughafen Qamischli im Nordosten des Landes, einen weiteren im Mittelmeerhafen Tartus, der zu einer kompletten Marinebasis ausgebaut wurde. Außerdem verfügt Russland über eine Luftwaffenbasis in Hmeimim an der Mittelmeerküste und hat den zivilen Flughafen al-Schairat im Zentrum des Landes übernommen.

Seit 2019 kontrolliert Moskau einen Großteil des syrischen Luftraums. Söldner der privaten Militärgruppe Wagner, die anfangs als Berater der Assad-Armee auftraten, sind mittlerweile an aktiven Einsätzen beteiligt. Dank der zentralen Bedeutung des russischen Militärs hat Moskau das syrische Regime weitgehend unter Kontrolle, obgleich Assad bei jeder Gelegenheit versichert, dass Moskau ihm keine Befehle erteile.

Auch die USA sind seit 2014, also seit ihrer Intervention an der Spitze der Koalition gegen den Islamischen Staat (IS), auf syrischem Territorium präsent. Sie verfügen über rund ein Dutzend Stützpunkte und Vorposten im Norden und Osten des Landes, um Öl- und Gasfelder vor iranischem Zugriff zu schützen und zu verhindern, dass die Dschihadisten ein neues Kalifat errichten.

Die Rückkehr des IS ist durchaus eine konkrete Gefahr, zumal inzwischen ehemalige IS-Angehörige aus von Kurden verwalteten Lagern und Gefängnissen entkommen sind. Am Tag des Erdbebens haben inhaftierte IS-Kämpfer in Derik in der nordöstlichsten Ecke Sy­riens eine Meuterei organisiert, bei der rund 20 Personen, die als besonders gefährlich galten, fliehen konnten.4

Das US-Militär unterhält außerdem die Al-Tanf-Militärbasis am strategisch wichtigen Grenzübergang zum Irak. Dadurch will Washington verhindern, dass die Autobahn von Bagdad nach Damaskus als Nachschublinie für militärische Versorgungsgüter aus Iran genutzt wird.

Schließlich gibt es im Norden und Osten des Landes noch ein großes Gebiet, das von den Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) kontrolliert wird. Dieses aus Kurden, Arabern und Christen des Assyrischen Militärrats bestehende Militärbündnis hatte im März 2019 mit US-Unterstützung den IS besiegt. Und bereits ab 2012 hatte sich im Nordosten eine neue Organisation, die Autonome Administration von Nord- und Ost­sy­rien (AANES oder Rojava), formiert und die Verwaltung eines Gebiets von der Größe Dänemarks mit etwa 4 Millionen Einwohnern übernommen.

Der Nordosten war einst die Kornkammer Syriens. Zudem wurden hier 80 Prozent des syrischen Erdöls gefördert. Seit dem Krieg ist die wirtschaftliche Lage sehr schwierig, auch infolge der Anschläge von Dschihadisten, die die Felder in Brand setzen. Zudem macht sich der Klimawandel mit zunehmender Trockenheit bemerkbar, die noch dadurch verstärkt wird, dass die Türkei die Wasserversorgung einschränkt, die sie durch die Staudämme am Oberlauf des Euphrat kontrolliert.

Zudem wird die Region sowohl von der Kurdischen Regionalregierung im Irak (KRG) als auch von Ankara abgeschnürt. Dabei rechtfertigt die Türkei ihr Verhalten, das darauf hinausläuft, die Region wirtschaftlich auszuhungern, mit antikurdischen Verschwörungserzählungen.5

Seit dem Erdbeben vom 6. Februar ist dieses zerstückelte, geschundene Land mehr denn je auf humanitäre Hilfe angewiesen. Und doch sind einige Länder nicht bereit, bei ihren Sank­tio­nen zwischen dem Volk und seinem Tyrannen zu entscheiden. Es mag stimmen, dass das Syrien von heute weder ein souveräner noch ein ziviler Staat ist, sondern „eine mafiöse Diktatur, die mit einem russischen Mandat regiert und von Iran beeinflusst wird“.6 Dennoch fragt sich, ob humanitäre Hilfe nicht Vorrang vor allen anderen Erwägungen haben müsste.7

1 Siehe Adlene Mohammedi, „Anruf in Damaskus“, LMd, Juni 2020.

2 Siehe „Dans les cendres de la guerre, la Syrie s’est transformée en narco-État“, Libération, 3. Februar 2023.

3 „Syrian rebel leader pleads for outside help a week on from earthquakes“, The Guardian, 13. Februar 2022.

4 Siehe Émile Bouvier, „Bientôt quatre ans après la défaite territoriale de Daech, que deviennent ses plus de 12 000 combattants et leurs proches détenus dans le nord-est de la Syrie?“, Les clés du Moyen-Orient, 10. Februar 2023.

5 Siehe Mireille Court und Chris Den Hond, „L’avenir suspendu du Rojava“, LMd (französische Ausgabe), Februar 2020. Siehe auch die Dokumentation auf Youtube: „Rojava: l’avenir suspendu“.

6 Comité Syrie-Europe Après Alep, „Le régime syrien et les profiteurs de guerre“, Esprit, Dezember 2018.

7 Siehe Kristin Helberg, „Schaut auf Syrien“, LMd, Juni 2022.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Jean-Michel Morel ist Journalist und Redaktionsmitglied der Website orientxxi.info.

Le Monde diplomatique vom 09.03.2023, von Jean Michel Morel