Unbekannte Flugobjekte über Amerika
von Martine Bulard
Im Handumdrehen wurde „Sleepy Joe“, wie der US-Präsident von seinen Gegnern genannt wird, zum Terminator.
Mit modernsten, von einem F-22-Kampfjet abgeschossenen Raketen ließ Joe Biden am 4. Februar einen chinesischen Ballon erlegen, der in 20 Kilometern Höhe vor der Küste des Bundesstaats South Carolina schwebte. Am 10. Februar folgte der Befehl, einen weiteren Flugkörper über Alaska abzuschießen, tags darauf einen dritten, der über Kanada gesichtet worden war, einen weiteren Tag später einen vierten über dem Huronsee.
Inzwischen hat der Sheriff seine Pistolen zufrieden ins Halfter zurückgesteckt. Aber immer noch ist unklar, warum er sie gezogen hat. Auch drei Wochen nach dem 4. Februar konnte Biden nicht sagen, was genau die Flugobjekte waren, ja nicht einmal, ob sie Spionageinstrumente mitführten. Immerhin musste Washington inzwischen einräumen, dass nicht alle Ballons chinesischer Herkunft waren.
Dennoch ist ein Großteil der US-amerikanischen Bevölkerung überzeugt, dass Peking Böses gegen ihr Land im Schilde führt. Die Hysterie wird von den Medien zusätzlich angeheizt. Und auch zwischen Republikanern und Demokraten herrscht Einigkeit über den Feind, den es zu bekämpfen gilt. Konservative Politiker spekulierten, der chinesische Ballon könnte biologische Waffen an Bord gehabt haben. Über die sozialen Medien posteten einige von ihnen Fotos, auf denen sie mit einem Gewehr auf den Ballon zielen.1
Die Sprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, sah sich am 13. Februar genötigt, offiziell klarzustellen: „Es gibt keinen Hinweis auf Aliens oder außerirdische Aktivitäten. Ich wollte sicherstellen, dass das amerikanische Volk das weiß.“
Glaubt man der US-Führung, wurden schon früher unbekannte Flugobjekte (UFOs) angeblich chinesischer Provenienz gesichtet. Seit 2018 habe man „Dutzende Ballons“ über fünf Kontinenten gesichtet, unter anderem über Japan, Vietnam, den Philippinen und Indien.2 All dies sind wohlgemerkt Staaten, die Washington für seine Indopazifikstrategie gegen China rekrutieren will.
In Tokio erinnert man sich jetzt rein „zufällig“ daran, dass man seit 2019 dreimal Flugobjekte über Japan entdeckt hat. Ähnliche Berichte kamen aus Taiwan. Und sogar in Schottland will man Hinweise auf chinesische Überwachungsaktionen aus der Luft gefunden haben. Die Botschaft ist klar: China will die Welt beherrschen, und seine „Aliens“ sind überall.
Schon bevor entdeckt wurde, dass Peking seine Spionagegeräte in die Stratosphäre schickt, waren viele in Washington überzeugt, dass China „Beeinflussungsoperationen“ durchführt, um die Gehirne der US-Jugend per Internet zu infiltrieren.3 Und zwar über das vom chinesischen Unternehmen ByteDance betriebene Kurzvideoportal Tiktok, das in den USA von mehr als 100 Millionen Menschen genutzt wird. Die Hälfte der US-Bundesstaaten hat Tiktok bereits auf amtlichen Computern verboten, während im Kongress ein Gesetz vorbereitet wird, das die Plattform von allen Regierungsgeräten verbannen soll (siehe den Beitrag von Felix Stalder auf Seite 3).
Dabei ist anzumerken, dass Tiktok auch in der Volksrepublik China verboten ist. Stattdessen gibt es eine rein chinesische Version mit dem Namen Douyin. Tiktok ist also in Washington ebenso wenig willkommen wie in Peking, und zwar bei beiden Parteien. Im Repräsentantenhaus meinte selbst eine progressive Demokratin wie die Afroamerikanerin Maxine Waters aus Los Angeles, das autoritäre Regime in Peking wolle „der USA die Führungsrolle streitig machen“. In derselben Debatte stellte der Republikaner Patrick McHenry fest, Peking sei „die größte Bedrohung für den Platz Amerikas in der Welt“.
Der parteiübergreifende Konsens erklärt auch, warum Biden den Fall trotz der Entschuldigung der chinesischen Regierung und der Entlassung des Leiters der chinesischen Meteorologiebehörde, die offiziell für den Ballon verantwortlich gemacht wurde, zu einem bedeutenden diplomatischen Zwischenfall aufgebauscht hat.
Allerdings ist offensichtlich, dass der Ballon nicht nur die Windstärke gemessen hat. Und natürlich kann das Studium stratosphärischer Strömungen und anderer meteorologischer Phänomene zivilen wie militärischen Zielen dienen. Manche Experten vermuten sogar, das chinesische Militär habe im Luftraum zwischen 20 und 80 (oder sogar 100) Kilometer Höhe, in dem der Ballon zum ersten Mal gesichtet wurde, die Verteidigung der USA austesten wollen. Das wäre übrigens kein Verstoß gegen das Völkerrecht, denn dieser Raum gehört niemandem und gilt als frei nutzbar.
Die Hypothese ist durchaus nicht abwegig. Freilich bleibt es in derartigen Fällen normalerweise bei einem verbalen Schlagabtausch, bevor die Diplomatie wieder zum Zuge kommt. „Dieser ganze Vorfall wurde übertrieben“, kommentiert daher Emma Ashford vom Washingtoner Thinktank Stimson Center.4
Offensichtlich will Joe Biden demonstrieren, dass er gegenüber China genauso hart auftritt wie gegenüber Russland. Diese Botschaft richtet sich nicht nur an seine asiatischen Verbündeten, sondern auch, mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen im November 2024, an sein eigenes Volk.
Dabei will Biden auch die seltene Einmütigkeit zwischen den beiden großen Parteien nutzen, wobei zu erwarten ist, dass sich die Republikaner bemühen werden, seine antichinesische Rhetorik noch zu übertrumpfen. Der überparteiliche Konsens darüber, dass Sanktionen gegen China ausgeweitet und die technologische Isolation des Landes vorangetrieben werden müssen, wird durch diesen Überbietungswettbewerb freilich nicht gefährdet.
Allerdings weist Emma Ashford darauf hin, dass Spionage keine chinesische Erfindung ist: „Die Staaten spionieren sich ständig gegenseitig aus. Die Amerikaner nutzen alle Technologien, um Informationen über China und andere Staaten zu sammeln: Satelliten, Telefonüberwachung, Cyberangriffe und sogar das gute alte Agentenpersonal.“ Es waren nicht die großen chinesischen Ohren, die deutsche, französische oder Politiker anderer verbündeter Staaten belauscht haben, sondern die US-amerikanischen Geheimdienste.
Kritische Stimmen hört man in Frankreich nur von Leuten wie Jean-François Di Meglio, der als Vorsitzender der Forschungseinrichtung Asia Centre von einer „hochgespielten“ Affäre spricht. Das offizielle Frankreich dagegen nimmt die US-amerikanische Sicht der Dinge hin wie das Evangelium. 20 Jahre nachdem Außenminister Dominique de Villepin vor dem UN-Sicherheitsrat die US-Pläne für eine Irak-Invasion angeprangert hat, lässt sich Paris wieder in eine von Washington beschlossene Politik der Konfrontation und Technologieblockade einspannen.
So gesehen kam dem US-Präsidenten der chinesische Ballon auch außenpolitisch wie gerufen: als eine willkommene Gelegenheit, um diejenigen Verbündeten, die sich der Führungsmacht USA zuweilen widersetzen, wieder auf Linie zu bringen.
Martine Bulard
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver