Maulkörbe in Indien
Unter Modi schreitet die Gleichschaltung der Medien voran
von Samrat Choudhury
Es geschah am Valentinstag um die Mittagszeit, als unbekannte Männer in die Redaktionsräume der British Broadcasting Corporation (BBC) in Delhi und Mumbai eindrangen. Sie forderten die überraschten Anwesenden auf, ihre Smartphones auszuhändigen und sich in einem Raum zu versammeln.
Die „Durchsuchung“ hatte die indische Einkommensteuerbehörde angeordnet. Offiziell ging es um den Verdacht auf Steuerhinterziehung. Aber die Eindringlinge befragten die Journalist:innen auch und „durchsuchten“ deren Computer. Drei Tage dauerte die Aktion. Und die ganze Zeit wurden die beiden BBC-Bürogebäude von Uniformierten mit Sturmgewehren bewacht.1
Der Besuch der Steuerfahnder erfolgte wenige Wochen nach der Ausstrahlung der zweiteiligen BBC-Doku „The Modi Question“. Darin wird der Frage nachgegangen, welche Rolle der aktuelle Premierminister in seiner früheren Amtszeit als Regierungschef des Bundesstaats Gujarat gespielt hat, genauer: bei den bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen 2002 mit mindestens 1000 Todesopfern, von denen die meisten muslimischen Glaubens waren.
Im Abspann heißt es: „Mehr als 30 Personen in Indien lehnten es ab, an dieser Reihe mitzuwirken, weil sie um ihre persönliche Sicherheit fürchteten. Die indische Regierung weigerte sich, die in diesem Film gemachten Anschuldigungen zu kommentieren.“
Obwohl die BBC darauf verzichtete, die Dokumentation in ihrem indischen Programm zu senden – und dies auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht vorgehabt hätte –, verbot die Regierung Modi deren Ausstrahlung.
Der ehemalige Journalist Kanchan Gupta und heutige Chefberater des indischen Ministeriums für Information, Rundfunk und Fernsehen hatte bereits am 21. Januar 2023 getwittert: „Wichtig. Videos auf Youtube, die feindliche Propaganda von BBC World und als ‚Dokumentarfilm‘ verbrämten antiindischen Schrott verbreiten, wie auch Tweets, die zur BBC-Doku verlinken, wurden gemäß der Gesetze und Regeln Indiens blockiert.“
Gupta ließ des Weiteren wissen, die Regierung habe auf Notstandsklauseln zurückgegriffen, die das 2021 verabschiedete „Regelwerk zur Informationstechnologie“ vorsieht. Und zwar aufgrund des Befunds gleich mehrerer Ministerien, wonach es sich bei dem BBC-Film um „bösartige Propaganda“ handele, welche „die Souveränität und Integrität Indiens untergräbt und potenziell geeignet ist, Indiens freundschaftliche Beziehungen zu anderen Ländern wie auch die öffentliche Ordnung im eigenen Lande zu beeinträchtigen“.
Diese regierungsoffizielle Position wurde von einer ganzen Troll-Armee unter Kontrolle von Modis Bharatija-Janata-Partei (BJP) in den schrillsten Tönen über Social Media verbreitet. Die meisten großen TV-Sender – sie haben sich in den letzten Jahren zu veritablen PR-Organen der BJP entwickelt – hauten in die gleiche Kerbe. Seitdem kann man tagtäglich erleben, wie die Nachrichtensprecher:innen zu Cheerleadern eines Modi-Fanklubs mutieren.
Nach der Razzia der Finanzpolizei bei der BBC veröffentlichten Journalisten, die sich auf anonyme „Quellen“ in der Regierung beriefen, in verschiedenen Whatsapp-Gruppen eine seltsame „Presseerklärung“. In dem Papier (ohne Datum, Unterschrift oder Briefkopf) steht unter anderem: „Die Einkommensteuerbehörde hat heute die Räume der BBC in Delhi durchsuchen lassen, mit Blick auf die bewusste Nichteinhaltung der Transferpreisvorschriften und die umfassende Verschleierung von Profiten durch die BBC.“ Die Verlautbarung wurde in fast allen Medien zitiert, die in nationalistischer Pflichterfüllung die Steuerfahnder feierten und über die BBC herzogen.
Die Beziehung der indischen Medien zur gegenwärtigen Regierung gleicht einer verzweifelten Liebe – denn erwidert wird sie eher nicht. Seit seinem Amtsantritt 2014 hat Narendra Modi nur eine einzige Pressekonferenz in Indien abgehalten. Das war 2019, und er hat nicht eine einzige Frage beantwortet. Für seine seltenen Fernsehinterviews sucht er sich ausgewiesene Fans aus, die dann, wie der „Zee News“-Moderator, solche Fragen stellen: „Wie kommt es, dass Sie in Ihrem Alter noch so viel Energie haben?“
Razzia bei der BBC Delhi
Diejenigen aber, die es wagen, kritischere Fragen zu stellen, etwa zur Person Modi, zur BJP oder zur Regierungspolitik, werden von Partei- und Regierungsfunktionären nicht als Modi- oder BJP-Gegner bezeichnet – was in einer Mehrparteiendemokratie völlig legitim wäre – sondern als „antinationale“ Elemente. Für diese Claqueure ist Modi gleich Indien und Indien gleich Modi.
In Indien als „antinational“ denunziert zu werden, kann überaus ernste Folgen haben, wie mehrere Journalistinnen und Journalisten in den letzten Jahren erfahren mussten. Am 14. September 2020 wurde in der nordindischen Stadt Hathras eine junge Frau von vier Männern brutal vergewaltigt und ermordet. Hathras liegt im Bundesstaat Uttar Pradesh, der von der BJP regiert wird. Chief Minister ist ein stets in Safrangelb gekleideter nationalistischer Mönch namens Yogi Adityanath.
Drei Wochen nach dem Mord wurde der Journalist Siddique Kappan auf der Fahrt nach Hathras, wo er zum Fall recherchieren wollte, zusammen mit drei Kollegen unter Terrorismusverdacht festgenommen. Man beschuldigte ihn unter anderem der Volksverhetzung und steckte ihn ins Gefängnis, aus dem er erst nach zwei Jahren gegen Kaution entlassen wurde, ohne dass es zu einem Prozess gekommen wäre. Nach seiner Entlassung erklärte der Journalist gegenüber dem Nachrichtenportal The Wire: „Ich bin Muslim. Es war leicht, mich als einen Terroristen hinzustellen.“
Die Hexenjagd der Regierung zielt aber nicht nur auf muslimische Medienschaffende. Im September 2020 entdeckte Kishorchandra Wangkhem, ein Journalist aus dem Bundesstaat Manipur, wie die Ehefrau und die Geliebte eines lokalen Ministers sich auf Instagram eine private Fehde lieferten. Als der Journalist den Streit auf Facebook kommentierte, wurde er verhaftet. Die Anklage lautete unter anderem auf „Volksverhetzung“.
Wangkhem verbrachte 71 Tage in Untersuchungshaft. Schon zwei Jahre zuvor hatte er wegen eines Facebook-Posts im Gefängnis gesessen. Anlass war ein polemischer Kommentar zum BJP-Regierungschef von Manipur, Biren Singh, der früher selbst Journalist war. Auch in diesem Fall lautete die Anklage auf Volksverhetzung. Als ein Gericht entschied, Wangkhem gegen Kaution freizulassen, wurde er erneut festgenommen und unter Berufung auf das „Gesetz über nationale Sicherheit“ wieder ins Gefängnis gesteckt, wo er insgesamt 133 Tage verbrachte.2
Die indische Regierung demonstriert immer deutlicher ihre Bereitschaft, ihre gewaltigen Ressourcen und Machtinstrumente zu nutzen, gegen alle Inhalte vorzugehen, die den herrschenden Kreisen nicht gefallen. Im heutigen Indien gelten die offiziellen Presseerklärungen als die einzige akzeptable Darstellung der Realität. Jede Abweichung von dieser Version wird als Majestätsbeleidigung behandelt.
Die Kontrolle übernehmen von der Regierung eingesetzte „Faktenchecker“. Auf nationaler Ebene wie in diversen Bundesstaaten – die nicht alle von der BJP regiert werden – hat die Polizei den Auftrag, angebliche Fake News einzudämmen. Nun sind solche Falschnachrichten zwar tatsächlich ein Problem, aber der Regierung und ihren Funktionären kommt es sehr gelegen, wenn sie jede unbequeme Meldung als „Fake“ abstempeln können, um ihr persönliches Image zu schützen.
Ein Beispiel: In Modis Heimatstaat Gujarat betreibt der Journalist Dhaval Patel ein kleines Nachrichtenportal auf Gujarati namens Face of Nation. Im Mai 2020 kommentierte er die Nachricht, dass die nationale BJP-Zentrale vorhabe, ihren Parteigenossen Vijay Rupani als Regierungschef von Gujarat auszutauschen. Patels Artikel über die geplante Absetzung Rupanis wurde als Fake News denunziert. Der Journalist wurde festgenommen, der Volksverhetzung beschuldigt und in U-Haft gesteckt.
Dann kam die nächste Coronawelle. Die Todesrate schoss unaufhaltsam in die Höhe. Dass die offiziell verkündete Todesrate viel zu niedrig war, deckten erst die Tageszeitung Dainik Bhaskar (auf Hindi) und ihre Gujarati-Ausgabe Divya Bhaskar auf. Und auch Patels Information, die aus Quellen innerhalb der BJP stammte, erwiesen sich am Ende als richtig: Im September 2021 wurde Rupani als Chief Minister abgelöst.
Damals wurde die Dainik-Bhaskar-Mediengruppe für ihre schonungslosen Coronaberichte erheblich härter bestraft als die BBC heute: Die Finanzpolizei durchsuchte nahezu 30 Standorte und auch die Wohnung des Verlegers Sudhir Agarwal.
Die Botschaft an die indischen Medien und insbesondere an die TV-Sender ist eindeutig: Ihr seid vor staatlicher Verfolgung nur dann sicher, wenn ihr auf seriösen Journalismus verzichtet. Die Message ist angekommen. Die Mainstream-Medien vermeiden inzwischen jegliche Kritik an der Regierung und überschlagen sich in dem Bemühen, die Opposition zu kritisieren.
Da die Regierung zu den wichtigsten Anzeigenkunden gehört, und die Medienhäuser auf diese Einnahmen angewiesen sind, werden zuerst die Aufträge widerrufen. Im Fall der Dainik-Bhaskar-Gruppe gingen die staatlichen Anzeigenaufträge nach den kritischen Coronaberichten um die Hälfte zurück.
Was die journalistische Seite betrifft, so haben die unbequemen Leute ihren Job verloren oder wurden in ihren Redaktionen kaltgestellt. Und viele vormals liberale Journalistinnen und Journalisten haben sich, um ihren Job zu retten, in laute Modi-Fans und Hindu-Nationalisten verwandelt. Andere sind schlicht in Schweigen verfallen.
Die prominenten Vertreter der Zunft, die gegenüber den Machthabern die Wahrheit aussprechen, lassen sich heute an einer Hand abzählen. Und die Zahl der Mainstream-Fernsehsender, die nach wie vor Journalismus betreiben, tendiert gegen null, seitdem einer der letzten „Aufrechten“, der Sender NDTV, im Dezember 2022 aufgekauft wurde. Neuer Besitzer ist der umstrittene Milliardär Gautam Adani, der aus Gujarat stammt und mit Regierungschef Modi eng verbandelt ist.
Journalismus im eigentlichen Sinne wird im heutigen Indien nur noch von kleinen unabhängigen Webseiten betrieben. Aber selbst die müssen mit Besuchen der Polizei oder der „Steuerprüfer“ rechnen. Der Niedergang der Pressefreiheit schlägt sich auch in der Rangliste nieder, die alljährlich von Reporter ohne Grenzen (ROG) veröffentlicht wird. 2022 ist Indien um acht Plätze auf Rang 150 (von 180) abgerutscht und rangiert damit nur knapp vor Russland (Platz 155).
Nachdem die indischen Medien gefügig oder mundtot gemacht wurden, verlagert sich die seriöse Berichterstattung über Indien immer mehr in ausländische Medien – zum Entsetzen der Regierung, wie der Besuch der Steuerfahnder bei der BBC gezeigt hat.
Das ist freilich nur die jüngste Episode in einem schon länger schwelenden Konflikt. Und die BBC ist auch nicht das einzige ausländische Medium, das den Zorn der indischen Regierung zu spüren bekommt. Am 13. Januar sendete die Deutsche Welle (DW) in ihrem Asien-Programm eine Videoreportage mit dem Titel: „Werden in Indien die gewaltsamen Auseinandersetzung auf kommunaler Ebene auch 2023 weitergehen?“ Dieses Jahr sei in ganz Indien sogar noch mehr Gewalt zwischen Hindus und Muslimen zu erwarten als im Vorjahr, heißt es in der Ankündigung, und dann wörtlich: „Viele sehen durch den wachsenden Hindu-Extremismus Indiens Grundprinzipien von Säkularismus, Vielfalt und Demokratie bedroht.“
Daraufhin warf der bereits erwähnte Chefberater des Ministeriums für Information, Rundfunk und Fernsehen, Kanchan Gupta, der Deutschen Welle vor, sie verfolge „eine feindliche Agenda gegen Indien als das Land, das 2023 den G20-Vorsitz hat“. Der „irrwitzige Bericht“ zeuge von einem tiefen „Hass auf Hindus“ und sei ein neuerlicher Beleg für „die voreingenommene Berichterstattung der DW aus Indien“.
Dabei gibt es nur eine unbestreitbare Geschichte, die ausländische Medien aus Indien berichten können. Und die lautet: In diesem Land können alle Medienleute frei sprechen und schreiben – vorausgesetzt, sie preisen Herrn Modi und die himmlischen Zustände unter seiner Herrschaft.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Samrat Choudhury ist Journalist und Autor.
© LMd, Berlin