09.03.2023

Nuuk wartet ab

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Nuuk wartet ab

Grönlands schwieriger Weg in die politische Emanzipation

von Philippe Descamps

Nuuk wartet ab
Kasten: Koloniale Narben

Im Konzertsaal von Nuuk stehen die Menschen dicht gedrängt und singen. Vom Teenager bis zur Mittfünfzigerin stimmen sie in die Refrains der Rockband Zikaza ein. Die Gruppe wurde in der 1980er Jahren von Sänger Siiva Fleischer im dänischen Aarhus gegründet. Seit etwa 15 Jahren lebt er wieder in seiner grönländischen Heimat und tritt dort auch auf.

Obwohl in Nuuk nur rund 19 000 Menschen leben, gibt es in Grönlands Hauptstadt ein lebendiges, modernes Kulturleben – Theater, Kino, Clubs, Urban Art, historische und Kunstmuseen, Film- und Musikfestivals.

Das Volk der Inuit, das viele Jahrhunderte unter extremen Lebensbedingungen existiert hat, ist für viele bis heute ein Faszinosum.1 Heute leben die Inuit ganz und gar in der Moderne, und man könnte glatt vergessen, dass die widrige natürliche Umgebung immer noch da ist.

Als US-Präsident Trump im August 2019 allen Ernstes vorschlug, Dänemark die Insel Grönland abzukaufen, folgte er einer gängigen Vorstellung: Die Eisschmelze werde bald reichlich Bodenschätze freisetzen, die nur noch aufgesammelt werden müssten. Wie bei früheren US-Initiativen dieser Art in den Jahren 1867, 1910 und 1946 lehnte Dänemark das Angebot dankend ab. Die Insel stehe nicht zum Verkauf.

Im Gegenteil, ihre Bewohner wollen selbst über ihre Zukunft entscheiden. Eine aktuelle Umfrage zeigte, dass mehr als zwei Drittel der Grön­län­de­r:in­nen für die Unabhängigkeit sind, Tendenz steigend.

Die beiden aus den Wahlen zum Regionalparlament im April 2021 als Sieger hervorgegangenen Parteien, ­Inuit Ataqatigiit (sozialistisch und grün) und Siumut (sozialdemokratisch), sind schon lange dafür. „Es gibt unterschiedliche Meinungen über die Art der Unabhängigkeit und der Union mit der dänischen Krone“, sagt Sara Olsvig, die ehemalige Parteichefin von Inuit Ataqatigiit und aktuelle Vorsitzende des Zirkumpolaren Rats der Inuit.2 „Aber ich sehe einen gemeinsamen und konstanten Willen, dass wir über unsere Zukunft selbst entscheiden.“

Die indigenen Völker Grönlands strebten in erster Linie danach, gegenüber allen anderen Völkern als gleichwertig anerkannt zu werden, meint Olsvig. „Wenn Sie sich die Geschichte von Kalaallit Nunaat (Grönland) und die Geschichte der Inuit in der Arktis insgesamt ansehen, erkennen Sie, welch hohes Maß an Autonomie erforderlich war, um in dieser Umgebung zu überleben. Das allein war schon eine Form der Selbstbestimmung.“

Seit dem Ende des Kolonialstatus im Jahr 1953 haben sich die Grön­län­de­r:in­nen durch Referenden schrittweise immer mehr Selbstständigkeit geschaffen: 1979 stimmten sie für den Autonomiestatus, 1982 für den Austritt aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und 2009 für eine weitergehende Autonomie, die Kontrolle über die eigenen natürlichen Ressourcen sowie das Recht auf Selbstbestimmung.

„Die dänische Regierung erkennt die Möglichkeit der Unabhängigkeit Grönlands voll und ganz an“, bestätigt Julie Præst, als Reichsombudsfrau in Grönland ist sie die Vertreterin des Königreichs Dänemark auf der Insel. Sie betont jedoch, dass es kein dringendes Thema sei: „Die dänische Regierung unternimmt derzeit keine aktiven Schritte, um sich darauf vorzubereiten.“

Auf die Frage nach einem Datum für die Selbstständigkeit antwortet der Parteisekretär der Siumut, Ole Aggo Markussen, mit einer Gegenfrage: „Wo in der Welt gibt es wirkliche Unabhängigkeit? Die Theorie des Nationalstaats, wie sie zur Zeit der Entkolonialisierung entstand, ist in der heutigen Zeit Unsinn. Selbst Frankreich ist von der Europäischen Union abhängig.“

Die Union mit Dänemark gleiche einer Zwangsehe, meint Markussen. „Die Ehefrau will seit 45 Jahren ihre Freiheit. Der Ehemann antwortet ihr, dass sie gehen kann, aber er behält das ganze Geld. Ein Großteil der für uns wichtigen Wertschöpfungsketten liegt in Dänemark, der Fisch, den wir hier fangen, wird dort verarbeitet.“

Gemäß dem 2009 erneuerten Vertrag verpflichtet sich die dänische Regierung, jedes Jahr eine Pauschale an Grönland zu zahlen. 2022 waren das 3,9 Milliarden Kronen (520 Millionen Euro), etwa 19 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Insel.3 „Es ist nicht geplant, etwas an dieser Subvention zu ändern“, betont Præst. Zusätzlich erhält Grönland noch Finanzhilfen der EU in den Bereichen Fischerei und Bildung.

„Diese Hilfen sind für uns kurzfristig von Vorteil, aber sie sind nicht gut für den Weg in die Unabhängigkeit“, meint Jess Berthelsen, Vorsitzender der Gewerkschaft SIK, der größten Arbeitnehmerorganisation in Grönland. „Wenn wir die Unabhängigkeit wollen, müssen wir selbst Geld verdienen, und davon sind wir noch weit entfernt.“

Das wohl größte Problem ist die Diskrepanz zwischen der Größe der Insel und ihrer Bevölkerungszahl. Grönland ist rund 2,2 Millionen Quadratkilometer groß, 50-mal so groß wie Dänemark, halb so groß wie die Europäische Union. Die Zahl der Einwohner:in­nen – fast neun von zehn Grön­län­de­r:in­nen sind auf der Insel geboren – liegt seit 30 Jahren mehr oder minder konstant bei 56 000. Das ist weniger als 1 Prozent der Bevölkerung Dänemarks.

Keine Straße führt nach Thule

Der größte Teil der Insel, nämlich 81 Prozent, ist von Gletschern und Inlandeis bedeckt, das sich bis zu drei Kilometern Höhe auftürmen kann. Die Besiedlung gleicht einer Perlenkette entlang der Küsten. Zwischen den wenigen, oft weit auseinanderliegenden Siedlungen gibt es weder Straßen- noch Eisenbahnverbindungen (siehe Karte). Die 700 Einwohner von Qaanaaq, der nördlichsten Gemeinde der Welt (auf Dänisch Thule), wohnen rund 600 Kilometer von ihren nächsten Nachbarn entfernt, bis zur Hauptstadt Nuuk sind es 1600 Kilometer.

Die rund 2000 Bewohner von Tasiilaq an der Ostküste leben ebenfalls über 600 Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt. Um grundlegende öffentliche Dienstleistungen sicherzustellen und die Versorgung zu gewährleisten, muss jede Gemeinde über ein eigenes Kraftwerk, eine eigene Wasserversorgung, einen eigenen Hafen und einen eigenen Flugplatz verfügen – weshalb die dänischen Behörden in der Vergangenheit die Bevölkerung mancher Gegenden zum Umzug gezwungen haben.

Auch Nuuk ist nur ein kleines Städtchen, umgeben von Wasser und Bergen, die die meiste Zeit des Jahres mit Schnee bedeckt sind. Aber seine Vitalität steht in starkem Kontrast zur eher tristen Atmosphäre, die in den meisten anderen Städten und Dörfern Grönlands herrscht. Hier und da wachsen hier farbenfrohe Gebäude im skandina­vischen Stil aus dem Boden, die neuen Be­woh­ne­r:in­nen ziehen oft schon ein, bevor sie vollständig fertig sind.

Seit einem Jahr lebt die Stadt im Rhythmus der Bauarbeiten am Flughafen. Millionen Kubikmeter Gestein werden in der Nähe der Skilifte oberhalb der Bucht aufgebrochen und verschoben, um das Rollfeld in Breite und Länge zu verdoppeln, damit auch Passagierjets hier landen können. Auf der bisherigen Landebahn können nur kleinere Flugzeuge landen, hauptsächlich sind es kleine Dash-8-200-Propellerflugzeuge mit nur 37 Sitzen.

Die beiden einzigen langen Startbahnen Grönlands wurden während des Zweiten Weltkriegs von der US-Armee in Kangerlussuaq und Narsarsuaq gebaut, weitab von bewohnten Gebieten. Mit Ausnahme der Reisenden, die mit einer Dash-8-200 von Island direkt nach Nuuk fliegen, kommen alle anderen internationalen Passagiere über Kopenhagen und landen auf einem dieser beiden Flughäfen im Niemandsland. Von dort geht es mit einem Kleinflugzeug oder per Hubschrauber weiter.

In Richtung Nordamerika gibt es keine zivilen Direktflüge. Eine junge Inuk aus Kanada erzählt uns, dass sie sechs verschiedene Flugzeuge nehmen musste, um die rund 800 Kilometer zwischen Iqaluit, der Hauptstadt des kanadischen Territoriums Nunavut, und Nuuk zurückzulegen.

Reisen zu Wasser und in der Luft sind stets abhängig von dem brutalen Klima. Wegen des Packeises sind die Seewege einen Teil des Jahres ganz oder teilweise blockiert, auch wenn das wegen der Klimaerwärmung weniger geworden ist. Die gesamte Ostküste ist zudem dem gefürchteten Grönlandstrom ausgesetzt, der Eisberge und Eisschollen mit sich führt, die jeden Fjord innerhalb weniger Stunden blockieren können. Plötzlich auftretende Stürme legen regelmäßig den Flugverkehr lahm.

Im Jahr 2015 beschloss das grönländische Parlament daher den Bau von drei 2200 Meter langen Start- und Landebahnen. Neben der Hauptstadt Nuuk soll auch der Touristenort Ilulissat an der für ihre Eisberge berühmten und zum Unesco-Welterbe erklärten Diskobucht einen Flughafen bekommen. Die dritte Landebahn soll in Qaqortoq im Süden der Insel entstehen und den alten Flugplatz von Narsarsuaq ersetzen, der 2025 schließen wird. Um die Kosten niedrig zu halten, wandte sich die grönländische Regierung an China, das sein Einflussgebiet mit seiner sogenannten polaren Seidenstraße erweitern will.

„Schon 2016 wollten die Chinesen den ehemaligen US-Marinestützpunkt Grønnedal (oder Kangilinnguit) kaufen. Der wurde während des Kriegs zum Schutz der dortigen Kryolith­minen errichtet und von 1951 bis zu seiner Schließung 2012 von den Dänen verwaltet“, berichtet Rasmus Leander Nielsen von der Universität Grönland. „Washington hat Dänemark damals wissen lassen, dass es den Verkauf des Stützpunkts an die Chinesen keinesfalls erlauben könne. Und so war es auch beim Flughafen. Washington hat sein Veto eingelegt, und Kopenhagen musste eine andere Lösung finden.“

Die Eröffnung eines US-Konsulats in Nuuk, so Nielsen, bedeute zudem nicht nur Unterstützung für Grönland, sondern solle auch China signalisieren, dass es sich aus den Angelegenheiten der Insel herauszuhalten habe. Im September 2018 wurde ein Abkommen unterzeichnet, dem zufolge der dänische Staat ein Drittel der Gesamtkosten für die drei neuen Landebahnen in Höhe von 630 Millionen Euro direkt beisteuert; hinzu kommen Darlehen in Höhe von 60 Millionen Euro und Kreditgarantien in gleicher Höhe.

So konnten die Grönländer die Angst vor den Chinesen für ihre Zwecke nutzen. „Dänemark, 1949 Gründungsmitglied der Nato, ist ein kleines Land, das supertransatlantisch orientiert ist“, erläutert Sara Olsvig. „Grönland ist es also zwangsläufig auch, es hat ja keine Wahl, wir können unsere geografische und geopolitische Position nicht ändern. Aber aus genau diesem Grund haben wir auch gute Karten im Dialog mit den USA.“

Noch während der Besetzung Dänemarks durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg hatte die US-Regierung mit dem dänischen Botschafter in Washington die Einrichtung von Luftwaffen- und Radarstützpunkten auf Grönland ausgehandelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden einige Stützpunkte aufgegeben und andere in zivile Flugplätze umgewandelt. Der Militärflugplatz Thule hoch im Nordosten der Insel wurde 1953 ausgebaut. Die Thule Air Base, die etwa gleich weit von New York und Moskau entfernt liegt, spielte während des Kalten Kriegs eine strategische Rolle und ist auch heute noch für die Überwachung des Weltraums und für die Raketenabwehr von entscheidender Bedeutung.

Das in Nuuk stationierte dänische Arktisk Kommando wiederum unterhält mit seinen rund 30 Mann nur ein paar Schiffe und Hubschrauber sowie kleine Stützpunkte wie die Nord­sta­tion, die von fünf Soldaten bewacht wird. Dänemark verfügt über keine schweren Eisbrecher, die sein maritimes Hoheitsgebiet sichern könnten.4

Bislang verbleiben die hoheitlichen Aufgaben innere Sicherheit, Verteidigung, Außenbeziehungen und Währung in Kopenhagen. Nuuk strebt jedoch mehr Mitsprache in der Außenpolitik an. So hat Grönland bereits einen Sitz im Arktischen Rat, wo es als Teilstaat des dänischen Rigsfællesskab (Reichsgemeinschaft) den Vorsitz in zwei Arbeitsgruppen führt. Gemeinsam mit Dänemark und den Färöer Inseln, den beiden anderen zum Königreich gehörenden Ländern, wurde überdies ein Kontaktausschuss für Außen- und Sicherheitsangelegenheiten gebildet.

Die ehemalige Parlamentspräsidentin und amtierende Außenministerin Grönlands, Vivian Motzfeldt von der Siumut-Partei, unterstützt zwar die westlichen Sanktionen gegen Russland, bringt aber ihre eigenen Schwerpunkte ein: „Wir müssen in der Lage sein, morgen wieder miteinander zu sprechen. Russland wird nicht verschwinden. Wir haben auch Freunde in Russland.“

Eine von der Universität Nuuk durchgeführte Umfrage legt nahe, dass die Grön­län­de­r:in­nen außenpolitisch durchaus eigene Vorstellungen hegen. Beispielsweise wollen zwar 68 Prozent an den derzeitigen Bündnissen festhalten, doch 81 Prozent lehnen es ab, der US-Politik gegenüber China zu folgen. Auf der Insel wird Pekings internationale Rolle mehrheitlich positiv gesehen, und man will die guten ­Wirtschaftsbeziehungen aufrechterhalten.5

Einem EU-Beitritt stehen die Grön­län­de­r:in­nen weiter ablehnend gegenüber. „Wir spüren die Auswirkungen der Sanktionen gegen Russland, dessen Markt für uns wichtig ist“, meint Ols­vig. „Wenn etwas Ähnliches mit dem asiatischen Markt passieren würde, hätte das noch schwerwiegendere Folgen.“ Nahe bei den Verbündeten zu bleiben und gleichzeitig den Zugang zu Märkten in der ganzen Welt zu behalten, sei ein ständiger Balanceakt. Und „die US-amerikanischen Freunde Grönlands bieten keinen großen Exportmarkt für unsere Produkte, die hauptsächlich aus dem Meer kommen“.

Für die Vorsitzende des Zirkumpolar-Rats der Inuit ist die Klimakrise, der in der Arktis viel schneller voranschreitet als anderswo, ein zentrales Thema: „Wir müssen uns anpassen, denn die Veränderungen passieren jetzt. Und man muss klar sagen: Aus Sicht der Inuit hat der Klimawandel nichts Positives.“ Eine „saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt als ein Menschenrecht“, so wie es eine von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 28. Juli 2022 mit großer Mehrheit angenommene Resolu­tion fordert, hätten die Inuit schon seit Jahrzehnten gefordert, sagt Olsvig.

Die fortschreitende Eisschmelze weckt immer stärkeres internationales Interesse und bringt eine wachsende Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen mit sich – schließlich würde das Abschmelzen des Eispanzers langfristig einen Anstieg des Meeresspiegels um mehr als 7 Meter bedeuten. Der Zeithorizont dieser globalen Bedrohung mag sich über mehrere Jahrhunderte erstrecken. Aber in Grönland sind manche Auswirkungen schon jetzt deutlich spürbar.

Die Erwärmung und in der Folge der Rückgang des Packeises verändert die Jagd – und auch den Fischfang wegen der veränderten Meeresströmungen, die wiederum das Verhalten der Fischschwärme beeinflussen. Zwar ermöglicht sie andererseits eine zaghafte Rückkehr der Landwirtschaft im Süden, doch die ist mit großer Unsicherheit verbunden, denn die Erwärmung bedeutet auch häufigere Dürren.

In Grönland spielt die öffentliche Hand in allen Bereichen eine zen­tra­le Rolle, von der Fischerei bis zur Fliegerei. Entweder geschieht das durch öffentliche Dienstleistungen oder durch private, jedoch vom Staat kon­trol­lierte Unternehmen. „Wir sind wahrscheinlich eines der sozia­lis­tischsten Länder der Welt“, meint Christian Keld­sen, der Vorsitzende des grönländischen Unternehmerverbands.

Das meint er keineswegs nur negativ: „Eine Planwirtschaft nach dem hiesigen Modell bietet große Stabilität. Die meisten globalen Wirtschaftskrisen wie die von 2008 ziehen einfach an uns vorbei. Allerdings gibt es keinen wirklich fairen Wettbewerb, denn in allen Bereichen gibt es Unternehmen mit staatlichem Kapital. Außerdem schauen wir gewöhnlich nicht so sehr auf Renditen, denn Dänemark verlangt für seine Hilfen keine Gegenleistung, wie es ausländische Investoren täten.“

Die dänische Oberherrschaft geht nicht nur mit Kreditgarantien für Infrastrukturinvestitionen einher, sondern auch mit der Aufrechterhaltung des nordischen Modells. „Sie werden hier niemanden finden, der gegen die Unabhängigkeit ist, solange sich dadurch nichts an den Strukturen ändert“, fährt Keldsen fort. „Wir wollen unsere Gesellschaft, den Wohlfahrtsstaat und die Weltoffenheit beibehalten. Wir schätzen das Gesundheitssystem, das Bildungswesen und den freien Zugang zu vielen Dienstleistungen. Aber wir sehen keine Anzeichen, die zu größerer finanzieller Unabhängigkeit führen.“

Das Abkommen von 2009 über die erweiterte Autonomie Grönlands sieht vor, dass die dänischen Subventionen nach und nach durch die Einnahmen aus dem Verkauf von Bodenschätzen ersetzt werden sollen. Nicht nur in der dänischen Politserie „Borgen“, auch bei geologischen Forschungseinrichtungen der USA gibt es eine Menge optimistische Spekulationen über die Mineralien, Öl- und Gasvorkommen und das Wasserkraftpotenzial der Insel.

Dabei werden allerdings die schwierigen Abbaubedingungen und der hohe Investitionsbedarf meist unterschätzt. Bisher sind nur zwei Minen in Betrieb, in einer werden Rubine geschürft, in der anderen Anorthosit abgebaut. Beide Anlagen sind nur gerade so rentabel.

Für den Bergbau fehlen die Arbeitskräfte

Zwei Jahrzehnte lang erwog der US-Konzern Alcoe, eine Aluminiumfabrik in der Nähe von Manitsoq zu errichten. Am Ende entschied sich das Unternehmen dann doch für Island. Auch vom „Goldgürtel“ von Nanortalik war viel die Rede, doch die Mine in Nalunag war lediglich von 2004 bis 2013 in Betrieb. Allenfalls der derzeitige Anstieg der Goldpreise könnte zu ihrer Wiedereröffnung in den kommenden zwei Jahren führen. Außerdem hat das grönländische Bergbauunternehmen Bluejay im Juni 2021 die Erlaubnis erhalten, im Norden der Insel eine Titanmine in Betrieb zu nehmen.

„Wir sind auf einem guten Weg, aber es muss allen klar sein, dass der Prozess Zeit braucht“, sagt Jørgen Hammeken-Holm vom Ministerium für Rohstoffe. „Überall auf der Welt gilt, dass von ein- oder zweihundert Bergbauprojekten nur eines letztlich erfolgreich ist. Und in Grönland haben wir nicht einmal hundert Projekte.“ Dabei sei es dringend geboten, zusätzlich zur Fischerei, die ein eher fragiles Geschäft ist, weitere Einkommensquellen zu erschließen. „Die Regierung hat nicht die Mittel, die riskanten Investitionen in den Bergbau zu stemmen. Deshalb wollen wir ausländische Unternehmen ermutigen, hierherzukommen.“

Die Ausbeutung der Bodenschätze stößt jedoch auch auf Vorbehalte bei der Bevölkerung. Die Erinnerung an die Zwangsumsiedlung der 1200 Einwohner von Qulissat nach der Schließung einer Kohlemine im Jahr 1972 ist noch sehr präsent (siehe Kasten). Auch der Absturz eines US-Bombers im Jahr 1968 mit vier Wasserstoffbomben an Bord mit der Verstrahlung der an den Aufräumarbeiten beteiligten Arbeiter haben sie einigermaßen misstrauisch gemacht.

Die Inuit-Partei Ataqatigiit hat deshalb ein Abbauverbot für Erze mit über 0,1 Prozent Urangehalt durchgesetzt. Laut Koalitionsvertrag mit der Siumut von 2021 kann diese Regel nur durch eine Volksabstimmung gekippt werden. Dies bedeutete das Aus für die australisch-chinesischen Pläne zum Abbau seltener Erden in Kuannersuit, wo eines der größten Vorkommen der Welt vermutet wird. Die neue Regierung setzte überdies alle weiteren Offshore-Erkundungen von Öl- und Gasvorkommen aus.

Den Gewerkschafter Jess Berthelsen machen diese politischen Entscheidungen ziemlich ratlos: „Die Leute wollen unabhängig sein, aber sie wollen keine anderen Einkünfte als die aus dem Fischfang. Sie denken anscheinend, dass das Geld vom Himmel fällt. Sie wollen Autos, Telefone und Computer, aber sie wollen nicht, dass die Rohstoffe abgebaut werden, aus denen sie hergestellt werden.“ Immerhin kündigte ein kanadisches Unternehmen an, dass es bald seltene Erden in Sarfartoq abbauen wird, wo kein Risiko einer Uranfreisetzung bestehe.

„Grönlands Reichtum an Bodenschätzen ist eine Tatsache, und ihre Ausbeutung könnte die Insel wirtschaftlich vollkommen unabhängig machen“, sagt der Geologe Laurent Geof­froy.6 Aber zugleich gibt er zu bedenken: „Die meisten Grönländer sind nicht für die Art von Arbeit ausgebildet, die bei der Förderung der Bodenschätze anfällt. Und die Anwerbung von hunderten, gar tausenden ausländischen Bergleuten, falls sie denn in Betracht gezogen wird, will gut vorbereitet sein.“

Grönland hat also nur dann eine Aussicht auf politische Unabhängigkeit, wenn es seine Wirtschaft von ausländischen Investoren abhängig macht und ökologische Kompromisse eingeht. Die politische Führung der Insel, die sich als Vorkämpferin für die Sache der Indigenen sieht, ist aber gewählt worden, um einen anderen Weg zu suchen. Einen Weg, der die traditionelle Naturverbundenheit respektiert, selbst wenn das heißt, dass das Land noch etwas länger unter dänischer Herrschaft bleibt.

1 Der französische Ethnologe Jean Malaurie hat ein großes Werk zum Thema hinterlassen, wie „Die letzten Könige von Thule“, Frankfurt am Main (Krüger) 1973, und „Mythos Nordpol. 200 Jahre Expeditionsgeschichte“, Hamburg (National Geographic) 2003.

2 Dem Rat gehören die Inuit Grönlands und Kanadas an, außerdem die Yupik in Alaska und Sibirien.

3 Sofern nicht anders angegeben, stammen die Zahlen von „Greenland in figures, 2022“, Statistisches Amt Grönland.

4 Siehe Sandrine Baccaro und Philippe Descamps, „Brüchiges Eis“, LMd, April 2020.

5 „The first foreign and security policy opinion poll“, Ilisimatusarfik (Universität Grönland), Februar 2021.

6 In dem umfassenden Sammelband, „Le Groenland. Climat, écologie, société“, Paris (CNRS éditions) 2016.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Was wann geschah

Um 2450 v. Chr. Erste Siedlungen von aus dem Westen kommenden Paläo-Inuit. Independence-I-Kultur (bis circa 1700 v. Chr.) und Saqqaq-Kultur (bis etwa 800 v. Chr.).

Um 800 v. Chr. bis 1. Jahrhundert n. Chr. Paläo-Inuit-Kultur Dorset I. Danach wird die Insel verlassen.

Um 700–750 n. Chr. bis 16. Jahrhundert Dorset-II-Kultur.

982 bis 15. Jahrhundert Besiedlung des Südens und Südwestens durch die Wikinger. Der aus Island verbannte Erik der Rote wählt den Namen Grönland (Grünes Land), um Siedler anzulocken, deren Zahl wahrscheinlich nie mehr als 2500 betrug.

Um 1150 Ankunft der Inuit. Entstehung der Thule-Kultur.

1721 Expedition des norwegischen Mis­sio­nars Hans Egede, der sich in der Gegend von Godthåb (heute Nuuk) niederlässt.

1774 Gründung der Königlichen Grönländischen Handelsgesellschaft mit Handels- und Transportmonopol.

1814 Kieler Frieden. Dänemark verliert Norwegen, Grönland kommt von norwegischer unter dänische Herrschaft.

1941 Dänemark unter deutscher Besatzung. Die USA errichten Luftwaffen- und Radarstützpunkte auf der Insel.

1953 Umsiedlung der Inuit-Gemeinde von Thule (Qaanaaq) im Zuge der Vergrößerung der Thule Air Base.

5. Juni 1953 Ende des Kolonialstatus Grönlands.

21. Januar 1968 Absturz einer B52 der U.S. Air Force mit vier Wasserstoffbomben bei Thule. Nicht alle Teile der Bomben werden gefunden.

17. Januar 1979 Status der Autonomie innerhalb Dänemarks durch Referendum angenommen.

28. Juni 1980 Gründung des Zirkumpolaren Rats der Inuit in Nuuk.

23. Februar 1982 Erfolgreiches Referendum zum Austritt aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

21. Juni 2009 Erfolgreiches Referendum über den erweiterten Autonomiestatut mit Kontrolle über die natürlichen Ressourcen und Recht auf Selbstbestimmung. Grönländisch wird Amtssprache.

6. April 2021 Wahlsieg der Inuit-Partei Ataqatigiit, die gegen Minenprojekte ist. Koalition mit der Partei Siumut.

Koloniale Narben

1953 beendete Dänemark den Status Grönlands als Kolonie, aber seine Herrschaft über die Insel setzte sich auf oft brutale Weise fort. Die Erinnerungen daran sind noch immer leidvoll.

Im Mai 2022 berichtete der öffentliche Rundfunk, dass zwischen 1966 und Mitte der 1970er Jahre fast der Hälfte der Grönländerinnen im gebärfähigen Alter Spiralen eingesetzt wurden, oft ohne ihre Zustimmung und ohne Wissen ihrer Eltern. Von den 4500 betroffenen jungen Frauen waren manche erst 13 oder 14 Jahre alt, viele wussten nicht einmal, dass der Eingriff zum Zweck der Empfängnisverhütung geschah.

Einige Tage nach der Veröffentlichung trafen sich die dänische Premierministerin Mette Frederiksen und der grönländische Regierungschef Múte B. Egede und beschlossen, gemeinsam eine Studie über die Beziehungen zwischen den beiden Teilstaaten des Königreichs seit dem Zweiten Weltkrieg in Auftrag zu geben. Es gebe noch viele Kapitel der gemeinsamen Geschichte aufzuklären, erklärte Frederiksen.

In einigen nordischen Ländern, namentlich Schweden, Norwegen und Finnland, arbeiten seit einigen Jahren Wahrheits- und Versöhnungskommissionen an der Aufarbeitung der Assimilationspolitik und des Unrechts, das dem indigenen Volk der Samen oder anderen nationalen Minderheiten angetan wurde.

Eine solche Kommission war 2014 auch von Grönland ins Leben gerufen worden; sie musste sich aber mit vagen Empfehlungen begnügen, denn die dänische Regierung beteiligte sich nicht. Die Politik der Zwangsverhütung ist nun allerdings Gegenstand einer speziellen Untersuchung, die in eine umfassende historische Aufarbeitung einbezogen wird und bis zum 1. Oktober 2024 abgeschlossen sein soll.

Archivierte Dokumente legen nahe, dass dieser Missbrauch von Verhütungsmitteln durch die Angst vor einer Bevölkerungsexplosion motiviert war. Die Geburtenrate fiel dann tatsächlich von 7,2 Kindern pro Frau im Jahr 1964 auf 2,3 im Jahr 1974. Seit etwa 30 Jahren stagniert die Bevölkerungszahl Grönlands bei etwa 56 000.

Zwar gibt es etwas mehr Geburten als Todesfälle, aber dieser kleine Überschuss wird durch eine Auswanderung ausgeglichen, die die Einwanderung überwiegt. 2022 lebten 16 000 in Grönland geborene Menschen in Dänemark.

Am 8. Dezember 2020 entschuldigte sich die Premierministerin schriftlich bei sechs Grönländer:innen, die 1951 im Alter von sechs oder sieben Jahren von ihren Familien getrennt wurden, um in Kopenhagen zur Schule zu gehen. Diese sechs sind die Überlebenden einer Gruppe von 22 Inuit-Kindern, die für ein soziales Experiment ausgewählt wurden: Sie sollten auf diese Weise als Elite für Grönland erzogen werden.

Sie litten stark unter der Trennung von ihren Angehörigen und ihrer Muttersprache und konnten später kein normales Leben führen. Eine offizielle Entschuldigungszeremonie fand im März 2022 im Nationalmuseum statt.

„Das Gefühl, unter fremder Herrschaft zu stehen, wird von Generation zu Generation weitergegeben“, sagt die grönländische Außenministerin Vivian Motzfeldt. „Ich wurde zwar nach dem Ende der Kolonialzeit geboren, aber ich habe von meinen Eltern gelernt. Sicherlich muss man die Wunden schließen und nach vorne schauen. Aber bevor wir eine Seite umblättern, müssen wir sie erst einmal geschrieben haben.“⇥P. D.

Le Monde diplomatique vom 09.03.2023, von Philippe Descamps