Zeitenwende in Tokio
Japan verabschiedet sich von seinem Verfassungspazifismus
von Jordan Pouille
Am 27. November 2022 verkündete der japanische Premierminister Fumio Kishida eine Zeitenwende in der japanischen Verteidigungspolitik. Bei einem Besuch der Landstreitkräfte auf dem Militärstützpunkt Asaka nördlich von Tokio machte er eine Spritztour im Kampfpanzer und erklärte anschließend: „Von jetzt an ziehe ich alle Optionen in Betracht, auch die, Kapazitäten für Angriffe auf feindliche Stellungen zu unterhalten und die japanischen Militärmacht weiter zu stärken. Die Sicherheitslage um Japan verändert sich so schnell wie nie zuvor. Bedrohungen, wie wir sie nur aus der Science-Fiction-Romanen kannten, sind Realität geworden.“
Wenige Tage später kündigte Kishida bereits die Verdopplung der Militärausgaben an: auf 315 Milliarden US-Dollar für die nächsten fünf Jahre. Nach den USA und China hätte Japan dann das drittgrößte Militärbudget der Welt. Analog zu der seit 2014 geltenden Selbstverpflichtung in der Nato, in der Japan kein Mitglied ist, fließen damit 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Rüstung.
Im Kontext der neuen nationalen Sicherheitsstrategie, die erst im August 2022 öffentlich gemacht wurde, werden sich die Aufgaben der Selbstverteidigungsstreitkräfte, wie die japanische Armee offiziell heißt, grundsätzlich ändern. Sie werden das Land nicht mehr nur verteidigen, sondern können zukünftig auch selbst angreifen und feindliche Stützpunkte zerstören.
Überraschend kam das nicht. Ken Moriyasu, Korrespondent der Wirtschaftszeitschrift Nikkei Asia, erzählt von einem Podiumsgespräch mit Itsunori Onodera, dem Vorsitzenden der Sicherheitskommission der Liberaldemokratischen Partei (LDP), und dem LDP-Abgeordneten Taku Otsuka, das im August 2022 in einem Tokioter Palais stattfand. Es ging um eine mögliche chinesische Invasion Taiwans.
Onodera, ein Vertrauter Kishidas und einst Verteidigungsminister unter Shinzo Abe, war sich mit seinem Parteifreund einig, dass China die von ihm beanspruchten Senkaku-Inseln (Chinesisch: Diaoyu-Inseln) und Taiwan gleichzeitig überfallen würde: „Sie haben überlegt, was dann zu tun wäre. ‚Sollten wir zuerst unsere Landsleute aus Taiwan evakuieren?‘ Nach einigem Hin und Her haben sie sich darauf geeinigt, dass man sich eher auf Senkaku konzentrieren sollte.“
Damals war die Spannung im Land überall spürbar. Wenige Tage nach Nancy Pelosis Taiwan-Besuch landeten fünf ballistische Raketen, die China bei Militärübungen rund um Taiwan abgefeuert hatte, in den Gewässern der ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) Japans.1 Die Insel Yonaguni, auf der Japan schon 2016 eine Radarstation installiert und 160 Soldaten stationiert hat, liegt nur 110 Kilometer von Taiwan entfernt. „In den kommenden Jahren wird es China darauf anlegen, die japanisch-amerikanische Allianz auf die Probe zu stellen“, sagt Moriyasu. Offiziell sei für Washington jeder Angriff auf japanisches Territorium gleichbedeutend mit einer Bombe auf Manhattan. Allerdings ist sich Moriyasu nicht so sicher, ob das auch im Ernstfall noch gilt.
Spätestens seit Oktober 2021 wissen die Japaner, dass die Chinesen wahrscheinlich schon üben. Auf Satellitenbildern von der Wüste Gobi sieht man, wie das chinesische Militär eine Nachbildung des US-Luftwaffenstützpunkts Kadena (Okinawa) attackiert. Murano Masashi, Japan-Experte an der konservativen Denkfabrik Hudson Institute in Washington, glaubt, dass dieser Stützpunkt sofort ausgeschaltet werden würde, wenn Taiwan angegriffen wird: „China würde erst mal eine Salve ballistischer Raketen und Marschflugkörper auf die Startbahnen in Okinawa und Kyushu abfeuern und die Internet- und Funkverbindungen stören.“
Die USA versichern stets, das ihre auf Okinawa stationierten 30 000 Soldaten unverzichtbar seien – nicht zuletzt zum Schutz der Inselbewohner selbst. Am 30. Oktober 2022 besuchte der US-Botschafter in Japan das Camp Hansen der Marines auf Okinawa und eröffnete feierlich einen Gemüsemarkt für die Versorgung der US-Soldaten und deren Familien. Es ist kaum anzunehmen, dass die Inselbewohner deshalb nun eher bereit sind, die fortdauernde Stationierung von US-Truppen zu akzeptieren.2
Im Weißbuch „Verteidigung Japans 2022“3 wird China als „nie dagewesene strategische Herausforderung“ und als „Konkurrent“ bezeichnet, der das geopolitische und militärische Gleichgewicht in der Region zerstöre und die Senkaku-Inseln bedrohe. Im Fall eines Angriffs soll Taiwan, das von 1895 bis 1945 von Japan besetzt war, verteidigt werden. Als weitere Feindstaaten gelten Nordkorea, das 2022 mehr Raketen denn je abgefeuert hat, und Russland, seit es die Ukraine überfallen hat. Ein Punkt ist auch der bis heute ungelöste Konflikt mit Russland um die Kurilen-Inseln, die am Ende des Zweiten Weltkriegs von der UdSSR annektiert wurden.
Das Weißbuch stößt in der japanischen Gesellschaft keineswegs auf einhellige Zustimmung. Moriyasu weist darauf hin, dass China sein Militärbudget 2022 zwar um 7,5 Prozent auf 229 Milliarden Dollar erhöht hat (das US-Budget beträgt 768 Milliarden Dollar). Doch seiner Meinung nach habe Xi Jinping seine Macht nicht konsolidiert, um Krieg zu führen, sondern weil er unpopuläre Maßnahmen gegen die Ungleichheit vorbereitet: „Das wird die reichen Chinesen sehr verärgern, die sich mit ihren Lamborghinis und ihren kalifornischen Villen wie saudische Prinzen aufführen. Der chinesische Präsident wünscht sich, dass sich Taiwan auf natürliche Weise in China integriert, in seinen Reden deutet nichts darauf hin, dass er die Insel überfallen will. Er schließt die Möglichkeit zwar nicht aus, aber der Kern seiner Aussagen ist die Rückkehr zu den Wurzeln des Kommunismus.“ Ein Projekt, das unvereinbar mit dem Krieg sei.4
Die Opposition kritisiert vor allem die Höhe der Militärausgaben und die neue Offensivstrategie, die gegen Japans pazifistische Verfassung verstößt. Auch wenn sie dem Land nach der Kapitulation von 1945 durch die USA auferlegt wurde, wird sie bis heute geschätzt und hochgehalten, insbesondere der Artikel 9, in dem es heißt: „In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten. Um das (…) zu erreichen, werden keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel unterhalten. Ein Recht des Staats zur Kriegsführung wird nicht anerkannt.“
Für dieses Prinzip demonstrieren die Verfassungspazifisten regelmäßig am kokkai gijidō, dem imposanten Parlamentsgebäude, und verteilen getreulich ihre Flugblätter: „Frieden kann nie mit Gewalt geschaffen werden“, „Militärexpansionen lassen sich nicht zurückdrehen“ und „Unsere Inseln dürfen keine Festungen werden“. Ein Teilnehmer, der für eine karitative Organisation arbeitet, bedauert allerdings, dass die Demonstranten „hauptsächlich Ältere“ sind.
Dagegen sei die japanische Jugend sehr auf sich selbst bezogen, kritisiert ein Arzt, der im Universitätsviertel Gotanda in einem großen Krankenhaus arbeitet. Viele junge Leute würden überhaupt keine Fremdsprachen beherrschen. Sie würden sich auch nicht ernsthaft mit der internationalen Bedrohungslage auseinandersetzen: „Die Jungen denken, die Regierung habe recht, wenn sie sagt, wir müssten unsere Verteidigungskraft stärken. Aber eigentlich verlassen sich alle darauf, dass wir von unserem großen amerikanischen Verbündeten gerettet werden.“
In einem Nachbarviertel sprechen wir mit dem 17-jährigen Hiroharu Kamo. Der künftige Jurastudent ist zwar für die staatliche Propaganda nicht unempfänglich, macht sich aber auch seine eigenen Gedanken: „Wenn unsere Regierung an der Seite Amerikas kämpfen will, um Taiwan zu verteidigen, werden die jungen Japaner nicht mitmachen wollen. Mit den Amerikanern die chinesischen Angreifer vertreiben, das ist nichts für mich.“ Allerdings würde der junge Mann im Verteidigungsfall als Reservist bereitstehen – eine Wehrpflicht gibt es in Japan nicht. „Wenn Taiwan überfallen wird, sind als Nächstes Okinawa und Kyushu dran. Spätestens dann müssen wir uns verteidigen!“
Kimitoshi Morihara ist außenpolitischer Sprecher der Kommunistischen Partei Japans (7,6 Prozent bei den Parlamentswahlen 2021). Er spottet über die Nationalisten von der LDP, die „sich nicht damit abgeben, einen eigenen Weg zu definieren, und sich nicht schämen, in der Allianz mit Washington den Juniorpartner zu spielen“. Das Einzige, was die Liberaldemokraten den USA vorwürfen, sei die Verfassung, weil sie Japan daran hindere, „seine Macht zu zeigen und wie andere reiche Länder Truppen ins Ausland zu schicken“.
Die Kommunisten sind glühende Anhänger des Verfassungspazifismus und lehnen die neue Verteidigungsstrategie und den US-amerikanischen „Nuklearschirm“ vehement ab. Wenn sie sich versammeln, muss ihre imposante Parteizentrale in Shibuya von der Polizei geschützt werden. Als wir uns zum Interview trafen, tauchten die Nationalisten mit ihren Kastenwagen auf, geschmückt mit den Fahnen des kaiserlichen Japan und der Ukraine. Sie umkreisten aber lediglich das Gebäude und brüllten in ihr Megafon.
In der japanischen Presse wird die Unterstützung durch die USA einhellig als selbstverständlich betrachtet. Der LDP-Politiker Onodera erklärte im Juni in einem Interview: „Russland hat die Ukraine angegriffen und dachte, das ist eine schwache Nation, die keine Unterstützung erhalten wird. Niemand wird Japan angreifen, wenn es starke Verbündete hat, die es verteidigen.“ Das sagt auch Abes ehemaliger Auslandsberater Tomohiko Taniguchi. Er hatte im November 2022 gleich zwei Auftritte hintereinander. Erst in Zürich bei der Asia Society, dann auf Einladung des Europarats in Straßburg beim 10. Weltforum für Demokratie.
Kurz zuvor hatte er uns zu seiner Vorlesung an der Keio-Universität in Tokio eingeladen. Dort redete er sich vor seinen Studierenden in Rage: „Russland, Nordkorea, China – nie zuvor stand unser Land gleichzeitig drei feindlichen Nuklearmächten, drei undemokratischen Staaten gegenüber. Und gleichzeitig altert unser Land, die Bevölkerung schrumpft, die Wirtschaft wächst nicht schnell genug. Für Japan ist es praktisch unmöglich, so schnell zu wachsen wie China und dessen Macht etwas entgegenzusetzen. Unsere einzige vernünftige Option besteht darin, eng mit Staaten zusammenzuarbeiten, die denken wie wir, wie unser alter Verbündeter USA, aber auch Australien und Indien und zukünftig die europäischen Nationen.“
Taniguchi verwies auf die Idee einer „Indopazifischen Allianz“, die Abe 2007 bei einer Rede vor dem indischen Parlament als Gegengewicht zur militärischen Supermacht China beschworen hatte – ein über den ganzen Pazifik reichendes Bündnis inklusive Australien und die USA.5 Der Kommunist Morihara bezeichnet das als Achse der mit den USA gegen China verbündeten Demokratien: „Wenn Japan Langstreckenraketen als Abschreckung gegen China kauft, werden diese in die indopazifische Verteidigungsstrategie der USA integriert. Aber Washington wird den Japanern nie erlauben, sie eigenmächtig einzusetzen. Japan ist ein Kunde der Amerikaner – militärisch, ökonomisch und diplomatisch.“ Um diese Asymmetrie wenigstens etwas zu reduzieren, will die Regierung nun mit Italien und Großbritannien bis 2035 ein Kampfflugzeug entwickeln.6
Die Militarisierung und die verstärkten vielfältigen japanisch-amerikanischen Beziehungen, die an den 1952 unterzeichneten gemeinsamen Sicherheitsvertrag nach dem Ende der US-amerikanischen Besatzung anknüpft, deutet die chinesische Staatspresse nun als gefährliches Alarmzeichen.
Allerdings hatten sich die chinesisch-japanischen Beziehungen schon vorher verschlechtert, zum Beispiel nachdem Tokio am 11. September 2012 drei der Senkaku/Diaoyu-Inseln ihrem privaten Besitzer abgekauft hatte und Peking danach noch häufiger in das Gebiet eingedrungen war.7 Und die regelmäßigen Besuche von Premier Abe beim Yasukuni-Schrein, in dem die Kriegsverbrecher aus dem Zweiten Weltkrieg geehrt werden, machten das Verhältnis nicht besser.
Dabei hatte sich die Atmosphäre zuletzt sogar etwas entspannt. Nach Abes Ermordung im Juli 2022 erklärte Xi Jinping in seiner üblichen steifen Diktion, er habe mit Abe „eine bedeutende Einigung über den Ausbau der chinesisch-japanischen Beziehungen entsprechend der Erfordernisse der neuen Ära erzielt“.8 Seit der Ankündigung der neuen Verteidigungsstrategie herrscht wieder ein anderer Ton.
So knöpfte sich die chinesische Parteizeitung Global Times abermals Japans militaristische und koloniale Vergangenheit vor: „Mit Blick auf die Zerstörungen, die die Verteidigung und militärische Modernisierung Japans in der Vergangenheit, vor allem im Zweiten Weltkrieg, angerichtet haben, wird der gegenwärtige politische Wandel Auswirkungen auf die Region haben, denn zahlreiche Staaten müssen ihre Militärausgaben erhöhen, was zu einem neuen Rüstungswettlauf in Nord-Ost-Asien führen wird.“9
China ist nicht das einzige Land, das sich um Japans Politikwandel sorgt. Auch in Südkorea weckt er schmerzhafte Erinnerungen an die japanische Besatzungszeit von 1905 bis 1945. Alter Streit kocht wieder hoch, insbesondere um das Verbrechen an den sogenannten „Trostfrauen“, koreanischen Mädchen und Frauen, die von Japanern als Zwangsprostituierte in ihre Kriegsbordelle verschleppt wurden. Diese und andere Tatsachen werden von einer wachsenden Zahl von Japaner:innen geleugnet.
Seit 2017 weigert sich etwa der Gouverneur von Tokio, die jährliche Gedenkveranstaltung zu besuchen, die an das Massaker von 1923 erinnert. Damals wurden mindestens 2600 koreanische Einwanderer umgebracht. Ihnen war nach dem großen Erdbeben vom 1. September 1923, bei dem Tokio und Yokohama weitgehend zerstört wurden und 150 000 Menschen starben10, vorgeworfen worden, sie hätten Brunnen vergiftet und Attentate geplant. An dem Pogrom waren ganz normale Leute, Polizisten und Soldaten beteiligt.
Der japanische Staat hat auch die Kredite für die sogenannte „strategische Verbreitung von Informationen im Ausland“11 deutlich erhöht. Sie kommen universitärer Denkfabriken zugute, die die „historische Wahrheit über Japan“ wiederherstellen sollen.
Südkorea fürchtet vor allem, dass Japan, wie es öffentlich erwogen hat, sein Militär einsetzen könnte, um „feindliche Stützpunkte“ in Nordkorea anzugreifen, wodurch Südkorea unmittelbar bedroht wäre. „Wie können wir akzeptieren, dass Japan die Koreanische Halbinsel – nach der Verfassung unser souveränes Territorium – als Ziel für Präventivschläge anvisiert?“, hieß es in der Tageszeitung Hankyoreh.12
Selbst der konservative Staatspräsident Yoon Suk Yyeol, der stets darauf bedacht ist, ein solides und solidarisches Trio mit den USA und Japan zu bilden, ging auf Distanz: „Wenn es um eine Frage geht, die unmittelbar die Sicherheit der koreanischen Halbinsel oder unsere nationalen Interessen betrifft, muss es im Vorfeld natürlich eine enge Abstimmung und unser Einverständnis geben.“13
Nichts deutet darauf hin, dass sich Nordkorea von den japanischen Drohungen beeindrucken lässt. Mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms lässt Präsident Kim Jong Un ballistische Interkontinentalraketen abfeuern, die mehr als 1000 Kilometer entfernt in der ausschließlichen Wirtschaftszone Japans vor Hokkaido niedergehen. Das Ziel sei nicht Japan, beschwichtigt der Kommunist Kimitoshi: „Die Nordkoreaner wollen um jeden Preis mit den USA verhandeln. Sie brauchen die Aufmerksamkeit.“
Die Selbstverteidigungsstreitkräfte versuchen zwar nicht, diese Raketen im Flug zu zerstören, aber die japanische Bevölkerung wird auf sämtlichen Kanälen über die Bedrohung informiert, vom Smartphone bis zu den Informationstafeln in der U-Bahn und den Schnellzügen. Und die Behörden warnen japanische Kryptofirmen vor den Hackern von Lazarus, der gefährlichsten der nordkoreanischen Cyberbanden. Gespräche Japans mit Nordkorea finden derzeit nicht statt, so wie zwischen Washington und Pjöngjang Schweigen herrscht.
Neuerdings gehört auch Russland wieder zu Japans offiziellen Feinden. Das war nicht immer so. Während seiner letzten Amtszeit (2012–2020) hat Abe zwar 5-mal mit Donald Trump Golf gespielt, aber Wladimir Putin hat er 27-mal getroffen. Jedes Mal gab es Versprechen einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit, aber es gab kein Abkommen, das den Streit um die Kurilen gelöst hätte. Diese Inseln bilden eine Kette zwischen dem Pazifik und dem Ochotskischen Meer, wo Russland seine Atom-U-Boote patrouillieren lässt und seit 2016 ein Raketenabwehrsystem installiert hat. Die Inseln einem Verbündeten der USA abzutreten, würde die russische Sicherheit erheblich schwächen.
Premierminister Kishida hat nach dem Überfall auf die Ukraine für die Sanktionen gegen Russland gestimmt, aber er hat die strategische Partnerschaft mit Moskau aufrechterhalten. Anders als der US-Konzern ExxonMobil oder die britische Shell behalten die japanischen Investoren ihre Anteile an Sachalin II, dem internationalen Konsortium zur Förderung von Erdgas und Öl im Ochotskischen Meer. 60 Prozent der dort aktuell produzierten 10 Millionen Tonnen Flüssigerdgas (LNG) werden von Japan gekauft. Damit deckt es 10 Prozent seines Bedarfs: Sachalin II sei „außerordentlich wichtig für die Energiesicherheit“ des Landes, rechtfertigte sich der Ministerpräsident.
Militärische Symbiose mit den USA
Für andere nachbarschaftliche Handelsbeziehungen, die Japan sehr wichtig sind, stellt die neue Verteidigungsstrategie indes keine Gefahr dar: 2009 wurde ein Freihandelsabkommen mit den zehn Asean-Staaten14 unterzeichnet. Zahlreiche japanische Unternehmen produzieren in der Region: So lässt der Sportartikelhersteller Asics einen großen Teil seiner Sportschuhe seit 2013 in Kambodscha produzieren, Sony besitzt in Malaysia eine Fabrik für Heimkino-Equipments und Mitsubishi hat in Indonesien und auf den Philippinen zwei Unternehmen für Konsumkredite via App übernommen, um den Kauf seiner vor Ort produzierten Autos zu erleichtern.
Nebenbei entwickeln sich auch überraschende kulturelle Beziehungen wie zum Beispiel in Hanoi, wo die Sankt-Josephs-Kathedrale eine riesige Orgel von der Stadt Itami in der Präfektur Osaka erhalten hat. Japan ist heute der zweitgrößte ausländische Investor in Vietnam (nach Singapur) und der größte Importeur dortiger Meeresfrüchte.
Aus wirtschaftlichen Gründen unterstützt Tokio gelegentlich Länder, die international unter Beobachtung stehen. Im Oktober 2022 verweigerte Japan seine Zustimmung zu einer vor allem von den USA und Großbritannien unterstützten Resolution im UN-Menschenrechtsrat gegen Sri Lanka.
Japan ist nach China zweitgrößter Kreditgeber des Inselstaats. Eine Hand wäscht da die andere: Die Regierung Sri Lankas machte dafür kein großes Aufhebens, als am 6. März 2021 in Nagoya (Präfektur Aichi) die junge srilankische Lehrerin Wishma Sandamali wegen unterlassener medizinischer Hilfe starb. Sandamali hatte seit mehreren Monaten in einer Abschiebezelle gesessen, weil ihr Visum abgelaufen war. Das fiel aber erst auf, als sie selbst zur Polizei ging, um ihren Mann wegen Gewalt in der Ehe anzuzeigen. Ihr Tod bewegte ganz Japan.15
Anders als andere Asean-Staaten bekam Indien keine japanischen Investitionen für den Bau von Fabriken. „Die beiden Staaten haben keinen ernsthaften Konflikt, und trotzdem sind ihre Beziehungen nie über bloße Höflichkeiten hinausgegangen“, erklärt Megha Wadhwa, die an der Sofia-Universität in Tokio über Migration aus Indien forscht.16
Obwohl Japan offiziell keine Einwanderung zulässt, gibt es verschiedene Mechanismen, wie Berufsbildungsprogramme oder Ausnahmeregelungen für Start-ups. Mittlerweile leben tausende indische Ingenieure und Softwareentwickler im Land. Tokio und Neu-Delhi haben auch ein gemeinsames Weltraumprogramm beschlossen, um bis 2030 die verborgene Seite des Monds zu erkunden – in Konkurrenz zu China, das dort als erstes Land im Januar 2019 mit einer Sonde gelandet ist.
Mittlerweile schlagen sich in Japan auch die US-Wirtschaftssanktionen gegen China deutlich nieder. So darf etwa Sony, der Weltmarktführer bei bestimmten Bildsensoren in Smartphones (CMOS), nicht mehr den Riesenkonzern Huawei beliefern. Für die chinesische Mittelschicht ist aber immer noch Japan das große Vorbild In Konsumfragen: „Es geht nicht unbedingt um Hightech. Wenn Design, Verpackung, Mode, Kosmetik und so weiter in Japan gut laufen, wollen die Chinesen (aber auch die Taiwaner, Koreaner und dann die Thailänder) das Gleiche. Das ist immer so“, erklärt Jérôme Chouchan, Präsident der französischen Handelskammer, der den belgischen Schokoladenhersteller Godiva in Japan und Korea vertritt.
Uniqlo, Japans größter Einzelhändler für Bekleidung, besitzt 900 Geschäfte in China (1600 weltweit) und eröffnet jedes Jahr 100 neue Filialen. China ist der größte Auslandsmarkt für Uniqlo, und der 73-jährige Konzernchef Tadashi Yanai – mit geschätzten 28 Milliarden Dollar der reichste Mann Japans – ist in China hochangesehen. Heikle Themen wie Geopolitik meidet er wohlweislich.
Nachdem Hongkong und seine Spekulationsfonds für ausländische, sogar für chinesische Investoren ihren Glanz verloren haben, lockt Tokio mit steuerlichen Anreizen. Noch liegt es als Finanzzentrum weit hinter Singapur. Dennoch ist Japan immer noch eine gute Alternative für westliche Unternehmer, die in China ihr asiatisches Eldorado gesucht hatten. Der frühere Chef von Alibaba, Jack Ma, lässt es sich dort bereits gutgehen.
Mit der radikalen Abkehr von seinem historischen Verfassungspazifismus gerät Japan nun direkt in die Frontlinie gegen China. Wer darauf gesetzt hat, dass sich Japan von den USA emanzipieren würde, muss sich von dieser Aussicht bis auf Weiteres verabschieden. Andererseits könnte sich gerade diese Konstellation angesichts der atemberaubenden wirtschaftlichen Dynamik in Südostasien für Tokio noch auszahlen, das von Hanoi bis Colombo seine Weichen gestellt hat. Das alternde Japan befindet sich hier zwar in direkter Konkurrenz zu dem überall sehr präsenten China. Doch schon heute weigern sich die meisten asiatischen Länder, zwischen Peking und Washington und deren jeweiligen Sicherheitsversprechen zu wählen.
1 Siehe Michael Klare, „Kurswechsel in der Taiwanfrage“, LMd, September 2022.
3 „Defense of Japan 2022“, Verteidigungsministerium, Tokio, August 2022.
4 Vgl. Tom Stevenson, „Wie gefährdet ist Taiwan wirklich?“, LMd, Februar 2023.
5 Siehe Martine Bulard, „Kommt eine pazifische Nato?“, LMd, Juni 2021.
6 Siehe Alexander Zevin, „London auf dem Kriegspfad“, LMd, Februar 2023.
7 Siehe Olivier Zajec, „Drei Felsen, fünf Inseln“, LMd, Januar 2014.
10 Vgl. Christian Kessler, „Brief aus Tokio“, LMd, April 2011.
13 Yonhap, Seoul, 19. Dezember 2022.
16 Megha Wadhwa, „Indian Migrants in Tokyo“, London (Routledge) 2021.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Jordan Pouille ist Journalist.