Kalte Krieger im Silicon Valley
Der Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China spitzt sich zu. In Washington beschwören manche bereits einen „Cold War 2.0“. Denn große Bedeutung kommt dem Wettlauf um die künstliche Intelligenz zu. Das Pentagon knüpft immer engere Bande zu den Tech-Giganten – die aus dem Hype um KI Kapital zu schlagen wissen.
von Evgeny Morozov
Der Kalte Krieg ist vorbei“, verkündete 1988 die Werbebroschüre für ein merkwürdiges neues Computerspiel von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs: „… fast“. Dazu eine Zeichnung des Kreml mit ein paar geometrischen Figuren im Vordergrund. Die Broschüre wirbt für die „Sowjetische Herausforderung“ und verkündet: „Ausgerechnet jetzt, wo die Spannungen zwischen Ost und West allmählich nachlassen, landen die Sowjets einen Volltreffer gegen die USA.“
Der Volltreffer heißt „Tetris“.
In goldenen, kyrillischen Lettern prangt der Name des Kultspiels auf leuchtend rotem Grund: Тетрис – wobei das Wort statt mit einem „s“ mit Hammer und Sichel endet. Die Idee für das Werbeheftchen, das heute im National Museum of American History in Washington ausgestellt ist, kam von Spectrum HoloByte, dem US-Vertrieb des Spiels. Spectrum HoloByte bot das gesamte Motivrepertoire des Kalten Kriegs auf, um Tetris in Ronalds Reagans Amerika zum Erfolg zu machen – von russischer Volksmusik bis zu Bildern sowjetischer Kosmonauten. Schon damals wussten einige im Silicon Valley, wie man mit dem Kalten Krieg Kasse macht.1
Wir spulen vor ins Jahr 2023. Gilman Louie, der damals CEO von Spectrum HoloByte war, ist heute eine Schlüsselfigur im „Cold War 2.0“. So nennen manche in Washington den fortschreitenden Wirtschaftskrieg zwischen China und den USA. Eine entscheidende Arena in diesem Kampf sind die Spitzentechnologien, und dabei geht es heute nicht mehr um Tetris, sondern um künstliche Intelligenz.
Louie, der eine amerikanische Bilderbuchkarriere hinlegte, wurde in den frühen 1980er Jahren als Entwickler von Flugsimulationsspielen bekannt.
Vom Spieleentwickler zum Sicherheitsberater
Die Spiele waren so erfolgreich, dass die US-Luftwaffe zu Louie Kontakt aufnahm. Ende der 1990er Jahre war Louie dann Chef des CIA-eigenen Investmentfonds In-Q-Tel, der auf Investitionen im Hightech-Sektor spezialisiert ist. Aus dem berühmtesten Investment, das In-Q-Tel einging, entstand die Technologie, die später Google Earth ermöglichte.
Als die Trump-Regierung davor warnte, dass die Vereinigten Staaten im Technologiewettlauf unterliegen könnten, tauchte Louie erneut an zentraler Stelle auf. Er wurde Mitglied der National Security Commission on Artificial Intelligence, eines hochkarätig besetzten Beratergremiums unter dem Vorsitz des ehemaligen Google-Chefs Eric Schmidt.
Innerhalb weniger Jahre entstand aus der Zusammenarbeit mit Schmidt eine enge Partnerschaft – so eng, dass Louie inzwischen CEO des 2022 gegründeten America’s Frontier Fund (AFF) ist, hinter dem ebenfalls Eric Schmidt steht. Der AFF ist ebenso wie In-Q-Tel eine Nonprofitorganisation und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Washington dabei zu helfen, „den globalen Technologiewettbewerb des 21. Jahrhunderts für sich zu entscheiden“.
Der Fonds inszeniert sich selbst als eine Art Wunderwaffe und verspricht, „die produzierende Industrie neu zu beleben, Arbeitsplätze zu schaffen, die heimische Wirtschaft anzukurbeln und das amerikanische Heartland [den Mittleren Westen] aus seiner Erstarrung zu befreien“. Auf der eindrucksvollen Liste der Vorstandsmitglieder stehen unter anderem ein ehemaliger CEO von IBM und einer von Trumps Nationalen Sicherheitsberatern.
Die Gründung des AFF ist eine Reaktion auf Chinas wachsenden Einfluss im sogenannten „Deep Tech“-Bereich, also bei künstlicher Intelligenz und Quantencomputing. „Spitzentechnologien entstehen nicht in der Garage“, verkündet der AFF auf seiner Website und verabschiedet sich damit vom Mythos des tüftelnden Unternehmergenies, der im Silicon Valley weit verbreitet ist.
Ironie der Geschichte: Ausgerechnet Gilman Louie, der den Kalten Krieg 1.0 für die Vermarktung von Tetris nutzte, nutzt heute den Kalten Krieg 2.0, um den KI-Hype zu befeuern. Oder vielleicht auch umgekehrt, im heutigen Washington lässt sich das nicht mehr
so genau auseinanderhalten. Fest steht nur eines: Der Hype wird konsequent zu Geld gemacht.
Der alte Tetris-Slogan lässt sich im KI-Zeitalter natürlich nicht mehr verwenden. Heute ist die Botschaft: „Der Neue Kalte Krieg ist da. Fast …“. Das kommt bei vielen in den USA gut an – bei den Tech-Konzernen ebenso wie bei Rüstungsunternehmen und bei den Thinktanks, die außenpolitisch für einen harten Kurs werben.
Jenseits aller Rhetorik sind gewisse ideologische Verschiebungen unverkennbar. Die neuerdings um sich greifende Angst, ihr Land könnte den KI-Wettlauf gegen China verlieren, hat Amerikas politische Eliten ganz offensichtlich aus ihrem Schlummer im Wunderland der freien Märkte aufgeschreckt. Diese Eliten reden inzwischen so, als fühlten sie sich nicht mehr den Dogmen des Washington Consensus (Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung) verpflichtet. Bei manchen hört es sich gar so an, als hätten sie die Seiten gewechselt und folgten jetzt dem „Beijing Consensus“.
In Foreign Affairs, dem Lieblingsorgan des außenpolitischen Establishments der USA, erschien kürzlich ein Essay2 , in dem für einen starken Staat argumentiert wird, der die KI nach Kräften pushen soll. Die Autoren, Eric Schmidt und Yll Bajraktari, rechnen auch mit den politischen Irrtümern der Vergangenheit ab: Sie tadeln Washingtons frühere Faszination für die Globalisierung, weil die USA sich dadurch von „strategischen Überlegungen“ habe ablenken lassen, und sie monieren die Orientierung der Risikokapitalbranche an kurzfristigen Gewinnen.
Stattdessen wird in dem Artikel leidenschaftlich für „Beihilfen, staatlich abgesicherte Kredite und Abnahmeverpflichtungen“ geworben. Sie seien die richtigen Instrumente, um Washingtons langfristige Tech-Ziele zu erreichen. Ausgezahlt werden sollen diese Beihilfen natürlich durch Organisationen wie den AFF, denn die wüssten im Unterschied zu herkömmlichen Risikokapitalfonds, wie man das Geld so investiert, dass es langfristigen Interessen zugutekommt.
Stellenweise erwartet man, der Artikel werde im nächsten Absatz eine stramm organisierte Industriepolitik fordern. Dazu können sich Schmidt und Bajraktari aber doch nicht durchringen, denn „Industriepolitik“ sei und bleibe, so heißt es im Text, ein „belasteter Begriff“. Die überarbeitete Version des Washington Consensus zeichnet sich offensichtlich vor allem dadurch aus, dass man mehr staatliche Zuwendungen an die Privatwirtschaft fordert und dabei die Angst ausnutzt, die USA könnten den nächsten Kalten Krieg verlieren.
Die Argumente sind meist so gestrickt, dass sie sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft Anklang finden. Ökonomische und geopolitische Überlegungen müssen ineinandergreifen. Die intensive Förderung von KI wird als Möglichkeit verkauft, den USA zu neuer Größe zu verhelfen, nach außen wie nach innen. Letzteres soll durch die massive Unterstützung neuer KI-basierter Branchen geschehen.
Manche glauben, mit diesem neuen Konsens halte der „Post-Neoliberalismus“ Einzug, aber in Wahrheit gleicht er aufs Haar dem „militärischen Keynesianismus“ aus der Zeit des Kalten Kriegs, als man höhere Militärausgaben für das Mittel der Wahl hielt, um die Sowjetunion zu besiegen und Amerikas wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern.
Drei Jahrzehnte neoliberaler Staatskunst lassen sich allerdings nicht so leicht ausradieren. Offensichtlich kann man nicht einfach zurück in die Tage des Kalten Kriegs, als öffentliche Gelder beinahe unbegrenzt einer Handvoll Rüstungsunternehmen zuflossen. Heute sind schlanke Prozesse und Unternehmergeist gefragt, und für Generäle des US-Militärs ist es nicht gerade eine Traumvorstellung, sich als Silicon-Valley-Start-up neu zu erfinden. Das Pentagon scheut sich sogar, einen eigenen Risikokapitalfonds nach dem Vorbild von In-Q-Tel aufzulegen und die vom US-Kongress dafür bereitgestellten Gelder anzunehmen.3 Vielleicht ist das der Grund, warum der AFF als private Firma gegründet werden musste.
Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Bande zwischen dem Pentagon und dem Silicon Valley enger werden. Vor kurzem schuf das US-Verteidigungsministerium sogar den neuen Posten des Chief Digital & AI Officers – und besetzte ihn mit Craig Martell, der früher beim Fahrdienst-Vermittler Lyft für das maschinelle Lernen verantwortlich war. Die US-Tech-Unternehmen arbeiten sich immer weiter in die Budgets des militärischen Beschaffungswesens vor – daran ändern auch die moralischen Bedenken ihrer Beschäftigten nichts.
Der Google-Mutterkonzern Alphabet legte zwar nach Protesten seiner Ingenieure die Pläne zur Mitarbeit an dem umstrittenen Pentagon-Projekt „Maven“ ad acta, bei dem es um automatische Bilderkennung geht, gründete aber gleich darauf eine Tochtergesellschaft mit dem harmlos klingenden Namen Google Public Sector, die Cloud-Dienstleistungen für militärische Zwecke anbietet.
Alphabet ist kein Einzelfall. Das Know-how des Silicon Valleys bei Cloud Computing und maschinellem Lernen ist und bleibt unverzichtbar für die Pläne des Pentagon. Das gilt insbesondere für die Vision, ein System aufzubauen, das die Daten von Boden- und Luftsensoren aus allen Bereichen der Streitkräfte zusammenführt. Mit Hilfe von KI sollen diese Daten so verarbeitet werden, dass das Militär wirkungsvoller und besser koordiniert reagieren kann. Zu diesem Zweck erteilte das Pentagon Ende 2022 den vier Tech-Giganten Microsoft, Google, Oracle und Amazon den Auftrag, für 9 Milliarden US-Dollar die Cloud-Infrastruktur für dieses kühne Vorhaben zu entwickeln.
Anders als in den Zeiten des Kalten Kriegs ist jedoch keineswegs ausgemacht, wie viel von diesem Geld nach der keynesianischen Trickle-down-Theorie bei der Normalbevölkerung ankommt. Im KI-Bereich fließt das Geld für Arbeitskosten in die Taschen der Staringenieure – und da geht es um ein paar hundert, nicht um Millionen –, oder es landet bei den vielen schlecht bezahlten Vertragsfirmen, die dabei helfen, die KI-Modelle zu trainieren. Die meisten dieser Firmen sitzen nicht einmal in den USA: OpenAI engagiert Dienstleister in Kenia, die dafür sorgen, dass sein beliebter Chatbot ChatGPT keine anstößigen Bilder und Texte auswirft.
Beim Cloud Computing ist zudem nicht klar, welcher Nutzen von seinem Ausbau zu erwarten ist. Datenzentren zu bauen, ist teuer – und ein positiver Effekt für die Wirtschaft ist nicht erwiesen. Klar ist nur, dass dadurch tendenziell die Grundstückspreise steigen. Problematisch sind auch die ökologischen Kosten von KI und Cloud Computing. Der Glaube an den Multiplikationseffekt des vielen Geldes, das in die militärischen KI-Anwendungen gepumpt werden soll, könnte sich als Illusion erweisen.
Es kann also sein, dass der Kalte Krieg 2.0 nicht die Rückkehr zum „militärischen Keynesianismus“ bedeutet. Sofern die KI nicht die ersehnte „technologische Singularität“ hervorbringt – also die KI selbst technologische Innovationen erzeugt –, wird Keynes nicht auf einen Schlag wieder lebendig, nur weil man noch mehr Geld in der Tech-Branche pumpt. Vielleicht erleben wir eher einen bizarren neuen „militärischen Neoliberalismus“, der durch noch mehr Staatsausgaben für KI und cloudbasierte Dienste die Ungleichheit weiter verschärft und die Aktionäre der Tech-Giganten noch reicher macht.
Kein Wunder, dass manche dieser Aktionäre auf einen Neustart des Kalten Kriegs erpicht sind. Tatsächlich hat niemand so viel dafür getan, dieses neue Narrativ und den dazugehörigen ideologischen Konsens zu festigen, wie der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt.4 Schmidt, dessen Vermögen rund 20 Milliarden US-Dollar beträgt, ist in Washington eine Institution, seit er 2008 für Barack Obama Wahlkampf gemacht hat.
Von 2016 bis 2020 hatte er den Vorsitz im Defense Innovation Advisory Board des Pentagon, für das er hunderte von US-Militärstützpunkten in aller Welt besuchte. Anschließend wechselte er an die Spitze der National Security Commission on Artificial Intelligence, die in ihrem Abschlussbericht 2021 davor warnte, die USA seien im KI-Bereich nicht ausreichend vorbereitet, um mit China konkurrieren zu können. Neuerdings ist Schmidt Mitglied einer Regierungskommission, die sich mit Sicherheitsfragen im Bereich Biotechnologie beschäftigt.
Wenn es darum geht, sein Narrativ vom Kalten Krieg zu verbreiten, ist Schmidt so umtriebig, dass man leicht den Überblick verliert. Mit seinem Risikokapitalfonds Innovation Endeavors finanzierter er großzügig Start-ups, die sich auf militärische KI spezialisiert haben. Das bekannteste dieser Unternehmen heißt Rebellion Defense.5
In der Zeit, als Schmidt die Leitung der beiden Regierungsgremien – des Innovationsausschusses des Pentagon und der KI-Kommission – innehatte, investierten er und seine Geschäftspartner mehr als 2 Milliarden US-Dollar in KI-Unternehmen. Vor dem Hintergrund, dass die KI-Kommission empfahl, auch mehr staatliches Gelder in solche Start-ups zu pumpen, drängt sich die Frage auf, worum es Schmidt bei seinem Engagement eigentlich geht.
Die demokratische Senatorin Elizabeth Warren hat das Pentagon aufgefordert, mehr Einzelheiten über Schmidts Zusammenarbeit mit der US-Administration zu veröffentlichen. Sie wies darauf hin, das Verteidigungsministerium habe möglicherweise „beim Schutz des öffentlichen Interesses versagt“, indem es Schmidt so großen Einfluss gewährt habe. Auch der jüngste Wechsel des ehemaligen Google-CEOs in die neue Biotechnologie-Kommission sorgte für einige Kritik, zumal er über einen weiteren Risikokapitalfonds genau in diesen Sektor investiert.
Neben seinen unternehmerischen Tätigkeiten betreibt Schmidt noch die philanthropische Stiftung Schmidt Futures, die sich bei näherem Hinsehen allerdings ebenfalls als gewinnorientiertes Unternehmen entpuppt.6 Erst kürzlich geriet die Stiftung in die Schlagzeilen, weil sie indirekt die Gehälter von Angestellten der US-Regierung finanziert hat7 – darunter auch solche, die mit KI-Politik und der Regulierung von Tech-Unternehmen befasst sind. Eric Schmidt (und indirekt auch Schmidt Futures) war auch involviert, als es darum ging, Craig Martell von Lyft an die Spitze der KI-Abteilung des Pentagons zu hieven.
Wie kann es sein, dass ein Unternehmen die Gehälter von Regierungsmitarbeitern bezahlt?
Tatsächlich ist bestimmten Nonprofitorganisationen genau dies erlaubt. Und als gemeinnützige Organisationen dürfen sie sogar Gelder von Unternehmen annehmen. In diesem Fall ist es ein altehrwürdiges Relikt des Kalten Kriegs, die Denkfabrik Federation of American Scientists – 1945 von Mitgliedern des Manhattan-Projekts gegründet –, die Geld von der Stiftung Schmidt Futures (und nicht nur von ihr) bekommt und damit die Gehälter von Regierungsangestellten bezahlt. Amtierender Vorsitzender ist praktischerweise der durch Tetris zu Ruhm gelangte Gilman Louie.8
Sein vielleicht wirkungsvollster Publicity-Coup in Sachen Kalter Krieg gelang Schmidt, als er Ex-US-Außenminister Henry Kissinger für sein Anliegen rekrutierte. Es mag an Schmidts Einfluss liegen: Wenn man den 99-jährigen Kissinger über KI reden hört, hat man eher den Eindruck, ein 19-Jähriger berichtet über seinen ersten LSD-Trip. „Ich glaube, dass die Technologieunternehmen den Weg in eine neue Phase des menschlichen Bewusstseins geebnet haben“, sagte Kissinger jüngst in einem Interview und zog einen Vergleich zu den „Generationen der Aufklärung, die den Schritt von der Religion zur Vernunft vollzogen“. Nach dieser Logik ist Eric Schmidt vermutlich der neue Voltaire.
Zusammen mit einem dritten Co-Autor verfassten Schmidt und Kissinger sogar ein Manifest in Buchlänge über die neue „KI-Ära“.9 Darin warnen sie vor einer KI-gestützten Kriegsführung, die zu „inhärent destabilisierenden“ Situationen führen könnte, ähnlich denen, die „durch Atomwaffen herbeigeführt werden“. Die Autoren fragen: „Werden Terroristen KI-Angriffe ausführen? Und werden sie in der Lage sein, diese Attacken Staaten oder anderen Akteuren unterzuschieben?“
Antworten bleiben sie schuldig. Stellenweise liest sich das Buch wie ein Aufguss der altbekannten Argumente aus der Debatte über ein bevorstehendes „Cyber-9/11“. Dieser Schlachtruf wurde in den letzten zehn Jahren immer wieder von Rüstungsunternehmen bemüht, die es auf die Plünderung staatlicher Haushalte abgesehen hatten.
Nach einer guten Portion Panikmache kommen die drei Autoren zu einer logischen Schlussfolgerung: Was die Welt brauche, sei ein „Konzept der Rüstungskontrolle für KI-Systeme“. Mehr wird zu dem Thema nicht gesagt. Das Buch geht nicht ins Detail und stellt lieber philosophische Fragen in den Raum, statt Analysen zu liefern.
Schmidt ist so erpicht darauf, Kissingers Restreputation für sich zu nutzen, dass er 2021 einen eigenen KI-Thinktank ins Leben rief – das Special Competitive Studies Project (SCSP). Als Vorbild diente ihm ein ähnliches Projekt, das Kissinger in den späten 1950er Jahren – zur Hochzeit des Kalten Kriegs – selbst leitete. Damals wollte Kissinger von Rüstungskontrolle nichts wissen, sondern vertrat entschiedener als die meisten anderen die Meinung, ein begrenzter nuklearer Konflikt mit den Sowjets sei unvermeidlich und hätte für Vereinigten Staaten vermutlich sein Gutes.
Das damals von Kissinger geleitete Projekt war ebenfalls das Steckenpferd eines machtlüsternen Milliardärs: Nelson Rockefeller. Der bekannteste Bericht des Projekts erschien 1958 und enthielt die Forderung, die Verteidigungsausgaben kontinuierlich um 1 Prozent pro Jahr zu erhöhen und die USA insgesamt wehrhafter zu machen. Zum Thema Rüstungskontrolle hatte die Initiative eine eindeutige Haltung: „Die Illusion von Sicherheit durch ein zweifelhaftes Abrüstungsabkommen wäre ein schlechter Ersatz für Wachsamkeit auf der Basis eigener Stärke.“10
Ungeachtet aller Spekulationen über „KI-Rüstungskontrolle“, die Schmidt und Kissinger in ihrem Buch anstellen, wirbt das SCSP für eine Politik, die genau in die entgegengesetzte Richtung zielt. Eine der empfohlenen Maßnahmen sticht besonders hervor: Das SCSP will die nächste „Offset-Strategie“ entwickeln. Mit diesem Begriff wurden zuzeiten des Kalten Kriegs die Bemühungen des Pentagon bezeichnet, mit Hilfe neuester Technologien – etwa atomarer Gefechtsfeldwaffen und luftgestützter Sensoren – seine zahlenmäßige Unterlegenheit gegenüber den sowjetischen Panzern, Kampfflugzeugen und Truppen wettzumachen. Seit Mitte der 1940er Jahre gab es drei dieser „Offset-Strategien“, die auf jeweils unterschiedliche Technologien setzten und von unterschiedlichen Annahmen ausgingen.
Für sein eigenes Projekt benutzt das SCSP den griffigen Namen „Offset-X“. Für den Fall eines Kriegs zwischen China und den USA gehen die Thinktanker davon aus, dass die chinesische Volksbefreiungsarmee (PLA) die US-Netzinfrastruktur ins Visier nehmen würde – und dass die USA dafür gewappnet sein müssen. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht des SCSP heißt es: „Wie ein potenzieller Krieg gegen die PLA ausgeht, hängt mehr und mehr davon ab, wer die überlegenen und resilienteren Sensoren, Netzwerke, Softwareprogramme, Mensch-Maschine-Schnittstellen, Logistiksysteme und – besonders wichtig – die besseren Systeme hat, die diese ganzen Komponenten miteinander vernetzen oder am Laufen halten.“11 Nach Rüstungskontrolle klingt das nicht gerade.
Was sich für nicht Eingeweihte vielleicht furchteinflößend anhört, entlockt all jenen, die mit der Pentagon-Philosophie der vergangenen zehn Jahre vertraut sind, bestenfalls ein Gähnen. Viele Punkte fanden sich schon in der Strategie „Offset Three“, die von 2014 bis 2018 galt und zu deren Vorkämpfern der damalige Vizeverteidigungsminister Robert Work zählte, der jetzt als SCSP-Beiratsmitglied fungiert.
Der Hauptadressat der SCSP-Berichte ist nicht das Militär, sondern die breite Öffentlichkeit. Denn die soll davon überzeugt werden, dass eine Aufstockung des KI-Etats des Pentagons notwendig ist. Um das zu erreichen, braucht es überzeugende Argumente, die belegen, dass China nicht nur dabei ist, den KI-Wettlauf zu gewinnen, sondern dass ein Sieg Pekings in diesem Bereich die USA militärisch hoffnungslos unterlegen machen würde. Die zweite Annahme gehört ins Reich der Science-Fiction. Aber die erste? Ist China tatsächlich dabei, den KI-Wettlauf zu gewinnen?12
Nimmt man als Maßstab, dass China bislang nicht mit einer Alternative zu ChatGTP aufwarten kann, ist Peking nach wie vor weit davon entfernt. Baidu legte mit seinem Ernie Bot, der ChatGPT Konkurrenz machen sollte, einen so grandiosen Fehlstart hin, dass der Aktienkurs des Unternehmens auf Talfahrt ging.
Dass das Silicon Valley bei den sogenannten Großen Sprachmodellen (Large Language Models, kurz LLM) – die Art von Deep-Learning-basierter KI, die ChatGPT zugrunde liegt – die Nase vorn hat, ist bis zu einem gewissen Grad Amerikas kultureller Hegemonie geschuldet. Und der Wettbewerbsvorsprung von OpenAI, dem Unternehmen hinter ChatGPT, ist nicht zuletzt deswegen so groß, weil sein Modell mit den gigantischen Beständen an englischsprachigen Texten trainiert wird, die online verfügbar sind. Inhalte in Mandarin sind deutlich dünner gesät.
Wer den Kulturimperialismus schon länger mit Sorge beobachtet, hat neuerdings noch mehr Grund zur Beunruhigung: ChatGPT hat gute Chancen, zum Standardlieferanten für Antworten auf die Fragen dieser Welt zu werden. Wer mit dem Chatbot arbeitet, wird allerdings nur mit den langweiligsten und politisch korrektesten Antworten versorgt. Gut möglich, dass wir alle zu Gefangenen des US-amerikanischen Kulturkampfs werden.
Schaut man über die engen Grenzen der Sprachmodelle à la ChatGPT hinaus, gewinnt man durchaus den Eindruck, dass China technologisch weiter druckvoll nach vorne spielt. Ein prominenter australischer Thinktank stellte kürzlich fest, dass China bei 37 von 44 kritischen Technologien die Nase vorn habe13 , wobei die Liste von Verteidigung, Raumfahrt und Robotik über Energie, Umwelttechnik und Biotechnologie bis zu KI, Hochleistungswerkstoffen und Schlüsselbereichen der Quantentechnologie reicht.
Die meisten solcher Studien kranken aber daran, dass sie den Fokus fast ausschließlich auf Forschungsindikatoren richten, die auf die relative Performance von wissenschaftlichen Einrichtungen, die Zahl der Publikationen und die akademischen Grade der involvierten Forschenden abheben. Das mag ein nützlicher Maßstab für die Dominanz auf einem bestimmten Wissensgebiet sein, aber alle Forschungspapiere sind nichts wert, wenn die Kapazitäten fehlen, die Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen.
In diesem Punkt zeigen die Bestrebungen der USA, Chinas Aufstieg zu bremsen, durchaus Erfolg – angefangen von den Bemühungen, Huaweis Dominanz bei der 5G-Technologie zu torpedieren, bis zu den politischen Maßnahmen, mit denen Peking daran gehindert werden soll, bei der Herstellung von Hochleistungschips zum Selbstversorger zu werden.
Die Tech-Branche und die Rüstungsunternehmen sind nicht immer einer Meinung. Viele US-Technologiefirmen wollen den riesigen chinesischen Markt nicht verlieren. Sie sind entschieden gegen einen ausgewachsenen Kalten Krieg 2.0, denn der würde ihrem Absatz dort schaden.
Den Rüstungsunternehmen, die erstens nicht viele zivile Auftraggeber haben und zweitens nicht mit dem chinesischen Militär zusammenarbeiten können, sind solche Zwänge fremd. Sie wollen den Kalten Krieg 2.0 – und zwar möglichst bald. Und manche hätten wohl selbst gegen einen heißen Krieg nichts einzuwenden.
Die Politik der Biden-Regierung gegen Chinas technologischen Aufstieg – eine langsame, aber gewinnversprechende Strangulierung – ist ein Spiegelbild des schwierigen Kompromisses zwischen diesen beiden Seiten. Washington zieht die Schlinge um Pekings Hals langsam enger, indem es verbündete Staaten wie die Niederlande, Südkorea und Japan überredet, den Verkauf ihrer eigenen kritischen Technologien an China einzustellen.
Dafür nutzt die US-Regierung auch rechtliche Instrumente aus der Zeit des Kalten Kriegs wie die sogenannte Foreign Direct Product Rule. Danach können auch ausländischen Unternehmen Beschränkungen von Lieferungen nach China auferlegt werden, sofern bei der Herstellung der betreffenden Produkte US-Technologien zum Einsatz kommen.
Henry Kissinger auf dem KI-Trip
Das heißt nicht, dass chinesische Unternehmen komplett vom Zugang zu US-amerikanischer Hardware abgeschnitten wurden, die sie brauchen, um auf eine Autarkie im Bereich KI hinzuarbeiten. Statt Chips zu kaufen, müssen sie sie jetzt zum Beispiel mieten – zu mitunter exorbitanten Preisen, sodass manche US-Tech-Unternehmen an Washingtons hartem Kurs gegenüber Peking gut verdienen.
Dahinter steckt die Idee, die KI-Entwicklung teuer – aber nicht unerschwinglich – zu machen und so aus Pekings Autonomiebestrebungen Profit zu schlagen. Und weil Bidens Politik dazu führt, dass Peking seine Ziele langsamer erreicht, verschafft sie der US-Branche die nötige Zeit, um ihre eigenen KI-Probleme in den Griff zu bekommen (die im Wesentlichen damit zu tun haben, dass die USA bei der Chip-Produktion zu einseitig auf Taiwan gesetzt haben).
Immerhin macht in Washington niemand einen Hehl daraus, dass das Ziel explizit darin besteht, Chinas Abhängigkeit aufrechtzuerhalten und damit Geld zu verdienen. Passend dazu heißt es in einem anderen, jüngst in Foreign Affairs erschienenen Artikel – ebenfalls verfasst von einem Autor aus dem Eric-Schmidt-Universum: „Statt den Breitbandausbau voranzutreiben, sollten die Politik in den USA in enger Zusammenarbeit mit ihren Verbündeten dafür sorgen, dass China von Chips aus ausländischer Produktion abhängig bleibt.“14 So könne sichergestellt werden, dass die USA bei der KI-Revolution auch weiterhin die Oberhand behalten.
Peking nimmt all das natürlich nicht klaglos hin. Vor kurzem forderte Peking den Nachbarn Japan eindringlich dazu auf, sich sehr gut zu überlegen, ob es sich dem Feldzug anschließt, mit dem Washington Chinas Zugang zu Hochleistungschips beschränken will. Parallel kündigte Peking eine Sicherheitsuntersuchung von Produkten des wichtigen US-Chipherstellers Micron an.
Noch nicht absehbar ist, ob Peking in der Lage ist, eine wie auch immer geartete internationale Koalition zu schmieden, die seine Agenda unterstützen würde. Washington hingegen agiert bei seiner Politik zur Einhegung Chinas schon jetzt nicht im Alleingang. Es hat internationale Initiativen wie die Global Partnership for Artificial Intelligence und die AI Partnership for Defense für seine Ziele eingespannt oder sich sogar an deren Spitze gesetzt.
Erst vor kurzem kündigte der AFF – Schmidts von Gilman Louie geleiteter Risikokapitalfonds – die Gründung eines gemeinsamen Investitionsnetzwerks mit Indien, Japan und Australien an. Das Projekt läuft im Rahmen des Quadrilateralen Sicherheitsdialogs (Quad), eines informellen militärpolitischen Zusammenschlusses der vier genannten Länder, mit dem Ziel, China im Zaum zu halten.
Größtenteils geschehen solche Bemühungen unter dem Banner der Förderung von Demokratie und Weltfrieden, auch wenn sie bedeuten, dass die Verteidigungsausgaben massiv hochgefahren und Technologieunternehmen und ihre Aktionäre noch reicher werden.
Europa bleibt bei diesen Initiativen meist außen vor, was damit zu erklären ist, dass es in militärischen Fragen ohnehin fast immer der von den USA vorgegebenen Marschroute folgt. Veränderungen gibt es hier allenfalls im kleinen Maßstab. So wurde Ende März bekannt gegeben, dass der mit 1 Milliarde Euro ausgestattete neue Innovationsfonds der Nato in den Niederlanden angesiedelt wird. Im Vergleich zu den anderen US-Initiativen sind das jedoch Peanuts.
Während der Krieg in der Ukraine die europäischen Verteidigungsbudgets in die Höhe treibt, wird der Löwenanteil der neuen KI-Mittel wohl an US-amerikanische Firmen wie Peter Thiels Palantir gehen. Dass die US-Branchengrößen in Europa nicht noch schneller vordringen, wird bislang nicht durch eine aktive Politik, sondern nur durch Europas Datenschutzgesetze verhindert.
Dabei geht es nicht nur um das zwischenzeitlich von Italien verhängte ChatGPT-Verbot. Das deutsche Bundesverfassungsgericht urteilte Mitte Februar, dass der Einsatz einer von Palantir gelieferten Datenanalyse-Software bei der Polizei in Hessen und Hamburg verfassungswidrig ist. Diese datenschutzrechtlichen Verteidigungslinien dürften allerdings nicht ewig halten.
Nach den jüngsten Reden von prominenten Vertretern der Europäischen Kommission zu urteilen, finden sie Washingtons Rhetorik von einem Kalten Krieg 2.0 ziemlich überzeugend. Das dürfte die Beziehungen zwischen der EU und China beeinträchtigen und Europa weiter in die Arme der US-Tech-Giganten treiben. Für die EU wäre es strategisch erheblich klüger gewesen, beide Seiten gegeneinander auszuspielen – was Brüssel in der Vergangenheit zumindest bei einigen Themen auch versucht hat.
In ihrem 2014 erschienenen Buch konstatierte die Politologin Linda Weiss, der eigentliche Motor für die Technologieführerschaft der USA sei der nationale Sicherheitsapparat des Landes – und nicht das Silicon Valley.15 Das Fehlen eines Feindes wie im Kalten Krieg habe die Fähigkeit des Pentagons geschwächt, bahnbrechende Innovationen zu entwickeln. Damals warf Weiss sogar die Frage auf, „warum China sich noch nicht wie einst die Sowjetunion und Japan in einen Rivalen verwandelt hat, der zur Innovation anspornt“.
Mittlerweile ist klar, dass dies nur eine Frage der Zeit war. 2014 schrieb Weiss außerdem, die USA müssten, wenn sie ihre Technologieführerschaft behaupten wollten, ihre Obsession für den „Finanzialismus“ überwinden: also die Interessen der Wall Street hintanstellen und sich auf den Wiederaufbau ihrer produzierenden Industrie konzentrieren.
Zu einem Ende des Finanzialismus ist es nie gekommen. Punktuell findet zwar tatsächlich eine Rückverlagerung von Produktionsbetrieben statt, aber ob sich Amerika wirklich als globaler Chiphersteller Nummer eins neu erfinden wird, kann heute niemand vorhersagen.
Was dazu geführt hat, dass die USA aus ihrem Schlummer erwachten und China zu ihrem neuen strategischen Feind machten, als der einst die Sowjetunion fungierte, war überraschenderweise nicht der Niedergang der Wall Street. Es war der Aufstieg des Silicon Valley, das versucht, aus dem KI-Hype Kapital zu schlagen.
8 „Statement on Science Funding“, Schmidt Futures, 28. März 2022.
12 Siehe Gabrielle Chou, „Chinas großer Sprung ins KI-Zeitalter“, LMd, April 2023.
14 Paul Scharre, „America Can Win the AI Race“, Foreign Affairs, 4. April 2023.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld
Evgeny Morozov ist der Gründer und Editor der gemeinnützigen Knowledge-Discovery-Plattform thesyllabus.com. Im Sommer 2023 erscheint sein Podcast „The Santiago Boys“ über das technologische Vermächtnis Salvador Allendes.