Ein Totgeglaubter ist wieder da
Mit Putins Krieg erlebt der globale Westen eine letzte ideologische Renaissance
von Stephan Lessenich
Es war einmal: der „Westen“. Nach den militärischen Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und den zivilisatorischen Verwüstungen des Nationalsozialismus bot diese geostrategische Chiffre der postfaschistischen Bundesrepublik eine äußerst willkommene politisch-moralische Zufluchtsstätte. Der Westen, das war fortan der Ort der Freiheit und der Hort der Demokratie, ein Spaltprodukt des in regionalen Stellvertreterkonflikten durchaus heiß geführten, in Europa aber gefühlt „Kalten Kriegs“. Die propagandistische Selbstdarstellung der liberalkapitalistischen Gesellschaften als „Erste Welt“ wurde durch die bipolare Nachkriegsordnung und den jahrzehntelang anhaltenden Systemwettbewerb in einer Weise ideologisch aufgeladen, die historisch ihresgleichen sucht.
Am vorläufigen Ende dieses Wettbewerbs, mit der scheinbar hausgemachten Implosion des Staatssozialismus, war die Selbstüberhöhung des euroatlantischen Staatenbündnisses als westliche Wertegemeinschaft endgültig perfekt: Der Osten war besiegt, die nicht nur ökonomisch stärkere, sondern auch politisch-kulturell fortgeschrittenere und moralisch integrere Seite hatte sich im Kampf der Systeme durchgesetzt.
Nachdem sich der triumphale Gestus der Kriegsgewinnler irgendwann zum Ende der 1990er Jahre hin verbraucht hatte, versank die pathetisch-beschwörende Rede vom „Westen“ für rund ein Vierteljahrhundert in der öffentlichen Versenkung politischer Sonntagsreden und staatsphilosophischer Besinnungsschriften. Bis zum 24. Februar 2022.
Seit dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine feiert das ideologische Konstrukt aus der Zeit des geopolitischen Schwarz-Weiß-Denkens eine kaum mehr für möglich gehaltene Renaissance. Seither steht die politisch-mediale Öffentlichkeit nahezu geschlossen hinter einer Tradition der „westlichen Moderne“, die als – wahlweise welthistorisch oder zivilisationsgeschichtlich – einmaliges, in jedem Fall aber einzigartiges und mit allen Mitteln zu verteidigendes Projekt gefeiert wird.
Die Selbstgewissheit der Vernunft gebiert Zombies. Der im Zeitalter von Globalisierung und Postkolonialität totgeglaubte oder totgehoffte „Westen“ ist also wieder da, scheinbar kraftvoller denn je. Und doch spricht einiges dafür, dass dies ein letztes Aufbäumen sein wird, der letzte Akt im Schauspiel der westlichen Selbstillusionierung.
Die deutsche Variante dieser Darbietung ist selbstredend speziell, zeugt sie doch noch heute von dem Drang, das eigene – je nach Zeitrechnung zwölf- bis tausendjährige – Ausscheren aus der „Kultur des Westens“ nachträglich ungeschehen machen oder wenigstens irrelevant erscheinen lassen zu wollen. Die Blüten, die die Debatte hierzulande treibt, dürften dennoch repräsentativ auch für die Überlegenheitsträume all jener Nationen stehen, die sich ebenso als Teil dieses großen, potenziell menschheitsbeglückenden Erbes verstehen.
Gemeinsamer Nenner des deutschen Diskurses zum „Wesen des Westens“1 ist dessen atemberaubende Selbstbezüglichkeit. Der Westen, das sind wir. Und wir im Westen stehen für die realisierte Moderne, für die bestmögliche Verwirklichung der normativen Kreisquadratur von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Kein Stereotyp des westlichen Errungenschaftskatalogs, von A wie Aufklärung bis Z wie gesellschaftlicher Zusammenhalt, wird ausgelassen, wenn hiesige Intellektuelle zur Würdigung unseres Gesellschaftssystems schreiten.
Die andere, dunkle Seite der westlichen Moderne, das über die Jahrhunderte vom Westen ausgegangene und immer noch ausgehende Alphabet von Ausbeutung bis ökologische Zerstörung, bleibt dabei entweder unbenannt. Oder aber es wird, in der avancierten Variante des aktuellen Okzidentalismus, in die eigene Fortschrittsgeschichte eingepreist, indem man es zum Gegenstand erfolgreicher Selbstreflexion erklärt. „Sklavenhandel und Sklaverei, Imperialismus und Kolonialismus, Rassismus und Chauvinismus“, das gesamte „Sündenregister des modernen Westens“,2 mutieren zu Belegen systemischer Lernfähigkeit. Die – selbstredend kritikwürdigen – Entgleisungen seien der westlich-modernen Ordnung Anlass zu institutionellem Fortschritt und moralischem Wachstum geworden.
Für die konservativ-autoritäre Position in der gegenwärtigen deutschen Diskurslandschaft, die keine andere Meinung zur westlichen Moderne gelten lässt, steht prominent der Mainzer Historiker Andreas Rödder, der die Rückkehr des Westens zu einer „Politik der Stärke“ fordert – und zwar „nach außen, aber auch nach innen“.3 Er warnt vor einer Rückkehr zur Appeasement-Politik und sieht die Zeit gekommen, nicht nur dem russischen Aggressor mit aller militärischen Macht entgegenzutreten, sondern auch dem inneren Feind, den die bürgerliche Gesellschaft zersetzenden Kräften (von „linker Identitätspolitik“ bis zum „Klimaterrorismus“), offensiv die Grenzen aufzuzeigen.
Mit dieser Neuauflage der Vision einer „formierten Gesellschaft“, wie sie einst der westdeutsche Konservatismus der 1960er Jahre beschwor, ergänzt um einen nationalhistorisch unbeschwerten Militarismus, wirkt Rödder als intellektueller Brückenbauer weit hinein ins rechte, autoritär-antidemokratische Milieu. Seine Position steht dabei durchaus repräsentativ für eine seit geraumer Zeit sich abzeichnende allgemeine Diskursverschiebung.
Für die aktuelle Diskurskonstellation charakteristischer aber ist – zumindest einstweilen noch – eine liberaldemokratische Position, die auf geradezu unheimliche Weise eine geteilte Semantik pflegt. Wie durch eine unsichtbare Hand geleitet, scheint sich der sozialwissenschaftliche Mainstream auf eine gemeinsame Redeweise verständigt zu haben, wenn es darum geht, die Alleinstellungsmerkmale des westlichen Gesellschaftstyps zu identifizieren: Selbstkritik, die systematische Beförderung des Zweifels und die Institutionalisierung von Lernprozessen seien die zentralen Eigenschaften, die die westliche Moderne historisch singulär und allen anderen Gesellschaftsformen überlegen mache.
Wohl am deutlichsten wird diese wissenschaftlich vermittelte Selbstdeutung der westlichen Gesellschaft in zwei Beiträgen, die fast zeitgleich in zwei prominenten Selbstverständigungsorganen der bürgerlichen Mitte erschienen sind. Die „Geschichte des modernen Westens“, so ließ Heinrich August Winkler, Doyen der westdeutschen Geschichtswissenschaft, zum Weihnachtsfest 2022 in der Süddeutschen Zeitung verlauten, sei „eine Geschichte von Lernprozessen, von Selbstkritik und Selbstkorrekturen“. Kurz zuvor hatte der nicht ganz so renommierte Münsteraner Soziologe Detlef Pollack, um Essenzialisierungen nicht verlegen, in der FAZ das „Potential zur Selbstkritik und Selbstkorrektur“ als „Wesen des Westens“ ausgemacht.4
Bemerkenswert an dieser gleichlautenden Charakterisierung ist, dass sie gesellschaftliche Veränderung – in der Tendenz gleichgesetzt mit Verbesserung – als Bewegung von innen deutet, angetrieben und umgesetzt durch gesellschaftsinterne Kräfte. Das normative Projekt des Westens, so Winkler, habe sich stets an seiner politischen Praxis messen lassen müssen: Es seien selbstgesetzte Maßstäbe von Humanität, Gleichberechtigung und Inklusion gewesen, die in einem selbstorganisierten Prozess kritischer Selbstprüfung immer wieder neu in Anschlag gebracht worden seien, um die gesellschaftliche Realität einer freiwilligen Selbstkontrolle zu unterziehen und an der Selbstverbesserung der sozialen Ordnung zu arbeiten.
In dieser eigenlogisch operierenden Binnenwelt wird das Außen der westlichen Moderne auf die Funktion des Impulsgebers für Fortschritte in der gesellschaftlichen Selbstorganisation reduziert. „Die Geschichte des Westens war immer auch eine Geschichte von schweren Verstößen gegen die eigenen Werte“, schreibt Winkler.
Menschenrechtsverletzungen hin und Massenvernichtung her, als Geschädigte westlicher Herrschaftspraktiken erscheinen hier nicht etwa deren Opfer, sondern die Tätergesellschaften selbst, die dadurch in ihrer normativen Integrität in Mitleidenschaft gezogen wurden. Der Schaden habe allerdings dank interner Kritik und institutioneller Reformen erfolgreich behoben werden können. „So wurde aus dem normativen Projekt allmählich ein normativer Prozess.“
Ganz ähnlich liest sich die Erzählung von den westlichen Selbstheilungskräften bei Pollack. Auch hier ist die Geschichte des Westens seit der Französischen Revolution vor allem eine der „auf Dauer gestellten Kritik“, die in den zur Selbstkritik fähigen Gesellschaften zu Fortschritten aller Art geführt habe, von der sozialpolitischen Anhebung der Lebensbedingungen der niederen Stände seit dem 19. Jahrhundert bis zu „Anstrengungen zur Verringerung der jährlichen Kohlendioxidemissionen“ in der Gegenwart.
Wie sein Historikerkollege sieht auch der Soziologe die maßgeblich von deutschen Landen ausgehenden Menschheitsverbrechen als ultimativen Antrieb für das westliche Selbstverbesserungswesen. Denn gerade aus den „welthistorischen Katastrophen“ des 20. Jahrhunderts habe das Ideen- und Institutionensystem des Westens zu lernen gewusst; aus Weltwirtschaftskrisen, zwei Weltkriegen und der Vernichtung der europäischen Juden sei „das Bewusstsein der Fehleranfälligkeit und Korrekturbedürftigkeit moderner Gesellschaften“ erwachsen.
Vereinte Nationen und Internationaler Strafgerichtshof, Weltbank und Internationaler Währungsfonds gelten Pollack als Ausweis der Lernfähigkeit der westlichen Zivilisation – die auf diese Weise, so muss man das Argument wohl verstehen, letztlich viel Gutes in die Welt da draußen getragen habe. Winkler sinniert, diese Revisionsbereitschaft sei ja vielleicht „sogar die größte Stärke des Westens und eine Erklärung der anhaltenden weltweiten Anziehungskraft des westlichen Ordnungsmodells“.
Vielleicht, möchte man entgegnen, aber auch nicht. Vielleicht zeugt diese Deutung eher von einem maßlos überhöhten Selbstbewusstsein westlicher Intellektueller, von einer fast schon tragischen Selbsttäuschung. Denn es ist genau dieser unbeirrt selbstgewisse Überlegenheitsgestus, der außerhalb des Westens schon lange nicht mehr gut ankommt.
In einer unverkennbar nicht mehr bi-, sondern multipolaren Welt, in welcher der Westen, namentlich Europa, zunehmend provinzialisiert wird – politisch, ökonomisch, militärisch –, verspricht das penetrante Zur-Schau-Tragen seiner normativen, ideellen und institutionellen Hybris keinen Erfolg mehr. Denn die Arroganz, die sich hierin äußert und dem Westen zur zweiten Natur geworden ist, ist mittlerweile immer erkennbarer nicht mehr eine der Macht, sondern der Ohnmacht.
Die westlichen Demokratien hätten – so die eigenwillige westliche Lesart der jüngeren Weltgeschichte gemäß Winkler – lernen müssen, „dass sie ihre Vorstellungen von politischer Ordnung anderen Kulturen nicht aufzwingen können“. Ob es nun im Westen geglaubt wird oder nicht: Jenseits seiner Grenzen herrscht nicht der Eindruck, dass solch ein Lerneffekt tatsächlich eingetreten wäre. Seiner wirklichkeitswidrigen Selbstinszenierung als lernendes System aber begegnet man, wo nicht mit offener Verachtung, mit zunehmender Distanz.
„Once Upon a Time in the West“: Sergio Leones Filmklassiker war der lange Abgesang auf einen Mythos. In der deutschen Fassung hieß er „Spiel mir das Lied vom Tod“.
1 Detlef Pollack, „Das Wesen des Westens“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Dezember 2022.
Stephan Lessenich ist Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung.
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