Wie gefährdet ist Taiwan wirklich?
von Tom Stevenson
Dass die Vereinigten Staaten und die Volksrepublik China globale Konkurrenten sind, steht außer Zweifel. Weniger klar ist, was diese Konkurrenz ausmacht und welche Gefahren sie birgt.
China hat sich in relativ kurzer Zeit das militärische Instrumentarium einer Weltmacht zugelegt. Auf den gigantischen Werften von Dalian, Bohau und Jiangnan laufen serienweise Kriegsschiffe vom Stapel. Das wird von der etablierten Seemacht USA natürlich als Herausforderung wahrgenommen. Anfang 2021 machte die Meldung Furore, dass die chinesische Kriegsmarine seit dem Vorjahr erstmals über mehr Schiffe verfügte als die U.S. Navy – wobei es allerdings, was die Größe, die militärischen Ausstattung und die Aufgaben der Schiffe betrifft, nach wie vor erhebliche Unterschiede gibt.
Auch räumlich rücken die chinesische und die US-amerikanische Kriegsflotte einander immer näher. Die USA entsenden, zusammen mit Großbritannien, Flugzeugträger und andere Kriegsschiffe in die Gewässer rund um Taiwan. Das mutet an wie eine Wiederholung jener Rivalität zwischen der Kaiserlichen Deutschen Marine und der Royal Navy, die 1914 in den Ersten Weltkrieg mündete.
Chinesische Fregatten beschatten US-Zerstörer bei ihrer Durchfahrt durch die Formosa-Straße. Unter Präsident Trump wie unter Präsident Biden haben die USA ihren strategischen Fokus auf Taiwan als den wahrscheinlichsten künftigen Krisenherd gelegt.
Auf taiwanischem Boden ist inzwischen ein kleines Kontingent von US-Soldaten stationiert. Im August 2022 reiste Nancy Pelosi, die damalige Sprecherin des Repräsentantenhauses, zu einem groß angekündigten Besuch nach Taipeh, mit dem sie offenbar die Führung in Peking ärgern wollte, ohne eine allzu heftige Reaktion zu provozieren. Der Besuch Pelosis steht damit sinnbildlich für eine Krise in den chinesisch-amerikanischen Beziehungen, die immer wieder am Horizont zu erahnen war, ohne je richtig sichtbar zu werden.1
Der Gedanke, dass eine Invasion Chinas in Taiwan eine reale Gefahr darstellt, bereitet Washington seit 2020 ständige Sorgen. Bis dahin war man davon ausgegangen, dass sich Peking an die Taiwan-Doktrin des früheren Staats- und Parteichefs Hu Jintao (2003–2013) halten würde, der 2004 das Motto ausgegeben hatte: „Um Verhandlungen bemühen, bereit sein zu kämpfen, keine Angst haben zu warten.“
Diese Leitlinie änderte sich während Trumps Regierungszeit. Damals stellte China eine Antischiffsrakete in Dienst, die selbst US-Flugzeugträger bedrohen konnte, während Washington eine Handelspolitik betrieb, die auf eine Konfrontation zwischen der chinesischen und der US-amerikanischen Industrie hinauslief.
Die Regierung Taiwans war damals der Ansicht, dass das chinesische Militär zu einer Invasion der Insel nicht in der Lage sei. So sah es auch die einschlägige Kommission des US-Kongresses.2 Das hielt gewisse Kreise in Washington nicht von der Behauptung ab, die Führung in Peking hege die „Hoffnung“, Taiwan in den nächsten Jahre erobern zu können.
Im März 2021 machte Admiral Philip Davidson – als damaliger Oberbefehlshaber der US-Truppen in der Indo-Pazifik-Region (USINDOPACOM) – die viel beachtete Voraussage, das könnte bereits 2027 der Fall sein. Anfang Oktober 2021 warnte Taiwans Verteidigungsminister Chiu Kuo-cheng, eine Invasion sei bereits ab 2025 möglich. Und Anfang Februar 2023 sagte CIA-Chef William Burns man verfüge über Informationen, wonach Xi Jinping seinem Militär befohlen habe, sich bis 2027 auf eine Invasion Taiwans vorzubereiten.
All diese düsteren Einschätzungen haben allerdings den Fehler, dass sie allein der militärischen Logik folgen. Was ihnen fehlt, ist eine Analyse der chinesischen Außenpolitik und erst recht eine Einschätzung der taiwanischen Innenpolitik.
Die wahren strategischen Absichten Chinas zu entziffern, ist für den Westen schwierig genug. Und das umso mehr, seit die Clique um Staats- und Parteichef Xi Jinping die Entscheidungsabläufe immer stärker zentralisiert hat. So kann man heute nach Belieben „offizielle“ – und oft genug vage – Äußerungen zitieren, die sich als Beleg für finstere Machenschaften „der Chinesen“ eignen. Dabei sagen selbst Chinas intellektuelle Falken wie der „konservative Sozialist“ Jiang Shigong von der juristischen Fakultät der Universität Peking, China operiere innerhalb des vom amerikanischen Imperium gesteckten Rahmens.
Xi selbst hat sich zur Taiwan-Frage nur selten geäußert. Anfang Januar 2019 erklärte er, die Wiedervereinigung bleibe ein zentrales Ziel auch in der „Neuen Ära“ Chinas. Xi bekannte sich allerdings auch zur Strategie der friedlichen Entwicklung, die sein Vorgänger Hu Jintao verfolgt hatte. Die einzige eindeutige Aussage von Xi lautet, dass die Vereinigung mit Taiwan „unvermeidlich“ vor 2049 stattfinden werde.
Es gibt gute Argumente für die Annahme, dass China zumindest in nächster Zeit nicht versuchen wird, eine Invasion zu starten. Die Strategie Pekings gegenüber Taiwan basierte stets darauf, passiv Druck auszuüben. Es war immer wichtiger, die Möglichkeit einer formellen Unabhängigkeitserklärung Taiwans auszuschließen, als eine Vereinigung zu erzwingen – die freilich seit 1949 das offizielle Ziel aller chinesischen Führer war und ist.
Es gibt auch keine überzeugenden Beweise dafür, dass sich das unter Xi groß geändert hätte. Statt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie China die Position der USA in Ostasien oder den Status Taiwans infrage stellen kann, zielt sein Ehrgeiz auf ein anderes Projekt: den Aufstieg Chinas zur Hightech-Großmacht.
Laut der China-Expertin Bonnie Glaser, die das „Indo-Pazifische Programm“ des German Marshall Fund leitet, besteht die chinesische Strategie eher darin, „bei den Menschen in Taiwan ein Gefühl der Verzweiflung auszulösen und sie zu der Ansicht zu bewegen, dass der einzig gangbare Weg für sie der Anschluss an das chinesische Festland ist“.
Die strategischen Köpfe in Washington treibt eine andere Befürchtung um: dass die globale Vormachtstellung der USA durch den Verlust ihres De-facto-Protektorats Taiwan ins Wanken gebracht werden könnte. So vermutet etwa Rush Doshi, Direktor der China-Abteilung des National Security Council (NSC), dass China letztlich die USA in ganz Ostasien ablösen will. Er befürchtet, Washington könnte seinen hegemonialen Einfluss auf Japan und Südkorea verlieren, der dafür sorgt, dass sich die Eliten dieser Länder – ähnlich wie die Eliten in Europa – an der westlichen Großmacht orientieren.
In den USA geht man davon aus, dass China derzeit über 400 Atomsprengköpfe und 300 Interkontinentalraketen verfügt und dass die sechs chinesischen U-Boote, die mit atomwaffenfähigen Raketen bestückt sind, ständig in den Gewässern Ostasiens unterwegs sind. Die U.S. Navy verfügt über Unterwassersensoren, mit denen die Bewegungen der chinesischen U-Boote an den Einfahrten zum Südchinesischen und im Ostchinesischen Meer verfolgt werden können.
Außerdem verfügen die USA über ein weitaus größeres Atomwaffenarsenal als China. Deshalb setzen einige Washingtoner Strategen nach wie vor auf die Fähigkeit eines Atomschlags gegen China – wie er in den strategischen Planungen vor 2000 vorgesehen war.
Insgesamt fehlt bei vielen Diskussionen um das Thema China/Taiwan die Einsicht, dass die Präsenz des US-Militärs im ostasiatischen Raum nach wie vor dominant und für China bedrohlich ist. In den USA dient die Bedrohung Taiwans durch China zum einen als Rechtfertigung, um Ansprüche bestimmter Waffengattungen an den Militärhaushalt zu rechtfertigen. Zum anderen ist sie auch ein Leitprinzip, an dem sich die langfristige strategische Planung für Ostasien und die Pazifik-Region orientiert.
Die Gefahr einer Invasion in Taiwan war und ist – unter Trump wie unter Biden – die zentrale Begründung für eine neue Strategie der Konfrontation. Wie Bonnie Glaser im Gespräch erläutert, gab es insbesondere in Trumps Amtszeit sogar Anzeichen dafür, dass die USA ihre Ein-China-Politik aufgeben könnten – mit der möglichen Folge einer Krise in der Formosa-Straße.
„Inkonsistente Äußerungen und Aktionen haben zu einer gewissen Verwirrung hinsichtlich der Ein-China-Politik geführt“, meint Glaser. Dennoch kommt sie in ihrer Analyse der politischen Situation in China und Taiwan zu dem Schluss, dass „die Gefahr eines Krieges, zumal in den nächsten fünf Jahren, niedrig bleibt“.
Selbst unter rein militärischen Gesichtspunkten würde China bei einer Taiwan-Invasion vor erheblichen Schwierigkeiten stehen. Die massive US-Militärpräsenz in der Region ist das eine Problem, das andere ist die komplizierte Logistik einer amphibischen Landungsoperation.
Um die Küste Taiwans zu erreichen, müsste die chinesische Kriegsflotte die 180 Kilometer breite Straße von Formosa überqueren, also zwölf Stunden unterwegs sein. Die anschließende amphibische Landung wäre ein riskantes Unternehmen, und zusätzlich erschwert durch die seichten Küstengewässer und die engen Buchten. Schon während der Überfahrt wären die chinesischen Schiffe dem Beschuss durch gegnerische Raketen, Artillerie und Flugzeugen ausgesetzt.
Taiwan hat zwar mit dem Bau von eigenen U-Booten begonnen, verfügt derzeit aber lediglich über zwei Exemplare modernerer Bauart. Und die neuen werden nicht vor 2030 einsatzfähig sein. Doch Chinas Kriegsmarine hätte bei einer amphibischen Invasion mit den US-Atom-U-Booten zu rechnen, denen sie nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat. Und selbst wenn die Landeoperation gelingen sollte, müsste sie den Widerstand der taiwanischen Armee überwinden.
Die Bevölkerung Taiwans lebt überwiegend im Westen der Insel Formosa. Die Infrastruktur dort ist viel dichter als im Osten, der von einer üppig bewaldeten, fast 4000 Meter hohen Gebirgskette beherrscht wird – ungeeignetes Gelände für eine Invasion und ihren nötigen Nachschub. Es gibt keine Bahnlinien in Ost-West Richtung und nur wenige Straßen.
Die Invasoren wären also auf Schiffe angewiesen, die in der Formosa-Straße den Angriffen feindlicher U-Boote und Raketen fast schutzlos ausgeliefert wären. Ohnehin ist zweifelhaft, ob China über genügend Landungsschiffe verfügt. Nach einer vorsichtigen Schätzung müsste seine Kriegsmarine mindestens 300 000 Soldaten nach Formosa übersetzen, derzeit könnte sie pro Landungswelle allenfalls 20 000 schaffen.
Dieses Argument kontern US-Militärexperten mit dem Hinweis, dass China auf seine aus Fischern rekrutierte „Seemiliz“ und auf zivile Fangschiffe zurückgreifen könnte. In seinem jüngsten Report über die chinesische Militärmacht verweist das Pentagon erstmals auf chinesische Manöver, bei denen zivile RoRo-Schiffe3 zum Einsatz kamen.
Taiwans Militärhaushalt macht knapp über 2 Prozent des BIPs aus und beinhaltet erst seit Kurzem Mittel für die Territorialverteidigung. Wenn China sicher sein könnte, dass die USA sich nicht an der Verteidigung Taiwans beteiligen, hätte Taipeh kaum eine Chance auf erfolgreichen Widerstand. Das heißt: Für Peking ist das zentrale Problem nach wie vor die Stärke der US-Kriegsmarine.
Owen Cote jr., Mitarbeiter am Security Studies Program des Massachusetts Institute of Technology (MIT), beschreibt das militärische Problem, das sich für die Chinesen aus dem Zusammenwirken zwischen „unsichtbaren“ US-Atom-U-Booten und von Flugzeugen abgeschossenen Antischiffsraketen (Long Range Anti-Ship Missiles, LRASM) ergibt: Die chinesischen Militärs wissen, dass U-Boote der U.S. Navy ihre Landungsschiffe versenken können; und sie wissen auch, dass ihre Flugabwehr außerstande ist, die von B-1- oder B-52-Bombern abgefeuerten LRASMs abzufangen.
Laut Cote jr. steht die chinesische Kriegsmarine vor einem Dilemma: Würde sie die Landung mit Schiffskonvois durchführen, die man gegen die US-U-Boote schützen müsste, wären die eskortierenden Kriegsschiffe anfällig für LRASM-Angriffe. Würden sie ihre amphibische Landungsoperation dagegen auf einzelne Schiffe verteilen, wären diese nicht vor den U-Boote geschützt.
Obwohl ein kurz bevorstehender chinesischer Angriff vorausgesagt wird: Die Probleme, die sich bei einer Invasion ergeben würden, sind in US-Militärkreisen ein offenes Geheimnis. Aber um eine Taiwan-Krise auszulösen, braucht es nicht unbedingt eine militärische Invasion. Peking könnte mit einer Invasion auch lediglich drohen, um Taipeh gefügig zu machen und den Status der Inseln als De-facto-Protektorat der USA scheibchenweise zu unterminieren. Um eine für China günstigere politische Lösung der Taiwan-Frage zu erzwingen, könnten anstelle einer Invasion schon Maßnahmen wie die Bedrohung der vorgelagerten taiwanischen Inseln bis hin zu einer Seeblockade Formosas ausreichen.
Vor einem solchen Szenario können die USA die Taiwaner nicht so gut schützen, musste Cote jr. auf meine Frage hin zugeben: Das Hauptinstrument der Chinesen wären landgestützte bewegliche Raketen. Um diese aufzuspüren und anzugreifen, müssten die USA ihre Awacs-Flugzeuge einsetzen. Das wiederum wäre nur möglich, wenn sie das chinesische Luftabwehrsystem nicht nur stören, sondern zerstören würden. Deshalb sollten die USA gegenüber Taiwan „keine Sicherheitsgarantien abgeben, die sie womöglich nicht einlösen könnten“, meint Cote.
Eine Seeblockade Taiwans würde in jeder Hinsicht eine Megakrise auslösen. Denn im Gegenzug könnten die USA versuchen, China vom internationalen Handel abzuschneiden – und das nicht nur mittels finanzieller und wirtschaftlicher Sanktionen, sondern auch mit militärischen Mitteln.
China importiert große Mengen von Nahrungsmitteln und fossilen Energieträgern. Um diese Importe zu behindern, könnte die US-Kriegsmarine den Schiffsverkehr durch die Straße von Malakka (zwischen Sumatra und der Malaiischen Halbinsel) unterbrechen, die allerdings in der Reichweite chinesischer Raketen liegt. Aber die USA könnten Öllieferungen nach China auch an ihrer Quelle am Persischen Golf blockieren.
Die Schwächen der chinesischen Marine
Eine chinesische Blockade von Taiwan hätte selbst ohne US-Sanktionen für beide Seiten und die ganze Region schwerwiegende Folgen. Aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass eine solch tiefgehende Krise dadurch schnell beigelegt werden könnte. Das erklärt auch, warum Japan auf Drängen Washingtons die historische Entscheidung getroffen hat, umfassend militärisch aufzurüsten.
Die meisten US-Sicherheitsexperten sind insofern betriebsblind, als sie das Problem unter rein militärischen Aspekten angehen. So meint Lonnie Henley, der früher als Ostasien-Experte für den militärischen Geheimdienst DIA tätig war, die USA könnten eine chinesische Blockade Taiwans brechen, indem sie das komplette Luftabwehrsystem im Südosten Chinas lahmlegen.
Sie müssten womöglich, wie mir Henley auseinandersetzte, die gesamte chinesische Luftabwehr „ausschalten“, damit ihre Streitkräfte die Kontrolle über die Häfen an der Westküste Taiwans erringen könnten. Um das zu schaffen, müsste die U.S. Navy Seeminen und andere Hindernisse beseitigen, Frachtschiffe eskortieren und zerstörte Hafenanlagen reparieren – und alles unter heftigem Beschuss von der chinesischen Ostküste.
Die Gefahr einer chinesischen Blockade von Taiwan lenkt den Blick zurück auf die Frage des Machtgleichgewichts zwischen den USA und China in Ostasien. Die Wahrnehmung Chinas als legitimer Konkurrent der Seemacht USA ist relativ neu, sie hat sich erst in den 2010er Jahren entwickelt. Seit 2015 führt die US-Kriegsmarine in den Gewässern um China regelmäßig Operationen durch, die angeblich „die Freiheit der Schifffahrt“ sichern.
Auf der anderen Seite erhebt China territoriale Ansprüche auf Inseln im Südchinesischen Meer, die von anderen Anrainerstaaten rechtlich angefochten werden. Im Juli 2020 warf Trumps Außenminister Mike Pompeo der Regierung in Peking vor, sie wolle ein „maritimes Empire“ errichten. Diese Behauptung war einigermaßen grotesk, denn damals kreuzten ständig US-amerikanische Flugzeugträger samt ihren Begleitflottillen durch das Südchinesische Meer. Laut der Regierung in Washington taten sie das für die „Verteidigung der freien Meere“. Aus ihrer Sicht dient die eigene maritime Dominanz lediglich dem Schutz des Seehandels und damit dem Wohlergehen aller.
Für China stellt sich die Sache naturgemäß anders dar: Aus der Perspektive einer ökonomischen Großmacht, die auf Ölimporte auf dem Seeweg angewiesen ist, handelt es sich nur um einen Vorwand für die Demonstration der US-amerikanischen Hard Power. Die U.S. Navy ist bekanntlich nicht nur an der Straße von Malakka, sondern auch an der Straße von Hormus (am Eingang zum Persischen Golf) und in Suez präsent. Kein Wunder, dass die US-Basen in Guam, Japan, Thailand und Singapur, dazu noch die Nutzungsrechte in Häfen Südkoreas und der Philippinen sowie die gigantische Basis von Diego Garcia im Indischen Ozean den Regierenden in Peking ein Dorn im Auge sind.
Die Aufrüstung der chinesischen Seestreitkräfte ist allerdings real: Zwischen 2015 und 2019 liefen 86 Kriegsschiffe vom Stapel, im November 2022 wurde ein drittes amphibisches Angriffsschiff vom Typ 075 in Auftrag gegeben; die Lenkwaffenzerstörer vom Typ 055 sind schon einsatzbereit.4 In diesen Schiffen kann man den Grundstock einer Kriegsflotte sehen, die zu Operationen über große Entfernungen fähig ist. Und doch entsprechen die Schlagzeilen, die in der chinesischen Marine die größte der Welt sehen wollen, nicht den Tatsachen.
Bis 2019 hatte China nicht einmal einen Flugzeugträger aus eigener Produktion. Die projektierten Modelle haben keinen Atomantrieb, sondern Dieselmotoren und können es mit den US-Flugzeugträgern nicht aufnehmen. Was die U-Boot-Flotte betrifft, so verfügen die USA über achtmal so viele atomare Angriffs-U-Boote wie jeder andere Staat der Welt.
Nützliches Bedrohungsszenario
Die U.S. Navy hat viel mehr Zerstörer, amphibische Angriffsschiffe und Lenkwaffenkreuzer als die chinesische. Zwar schätzt das Pentagon, dass China bis 2025 über 400 und bis 2030 über 440 Schiffe verfügen wird (wobei beide Zahlen neuerdings nach unten korrigiert wurden), aber insgesamt bleibt die Kriegsmarine der USA damit weiterhin vier bis fünfmal so stark wie die chinesische.
In Expertenkreisen weiß man das natürlich. Der ehemalige U-Boot-Kommandant Tom Shugart, der lange in der Planungsabteilung des Pentagon tätig war, stellte bei einem Hearing im Außenpolitischen Ausschuss des Senats zwei Punkte klar: Die US-Kriegsflotte ist der Tonnage-Zahl nach viel größer als die chinesische; allein die US-Pazifikflotte hat mehr Tonnage als die gesamten chinesischen Seestreitkräfte.5
Letztere würden laut Shugart bei gleichbleibendem Ausbautempo erst in 15 oder 20 Jahren mit der US-Pazifikflotte gleichziehen. Deshalb diene Chinas militärische Aufrüstung eindeutig dem Ziel, „eine Intervention der USA in der Region zu verhindern oder abzuschrecken“.
Die Regierung Biden hat die kriegerische Rhetorik der Trump-Ära keineswegs hinter sich gelassen. Vielmehr führt sie die von Trump verfolgte Wirtschaftskriegslogik gegen Peking fort und hat sie sogar noch zugespitzt, indem sie im Oktober 2022 auch den Export von Halbleitertechnologie nach China verboten hat.
Im August 2022 hatte Biden bereits Waffenlieferungen an Taiwan im Wert von 1,1 Milliarden Dollar beantragt. Einen Monat später stimmte der Außenpolitische Ausschuss des US-Senats dem Taiwan Policy Act zu, der Militärhilfe in Höhe von 4,5 Milliarden Dollar für die nächsten vier Jahre vorsieht und Taiwan zu einem „wichtigen Nicht-Nato-Verbündeten“ erklärt.
Im gesamten politischen System der USA hat sich inzwischen ein Konsens über eine Politik herausgebildet, die „China als einen Gegner behandelt“, wie es der ehemalige Chefökonom der Weltbank und Finanzminister der Clinton-Regierung Larry Summers ausdrückt. Präsident Biden hat inzwischen bei vier Anlässen angedeutet, dass er die frühere strategische „Zweideutigkeit“ gegenüber China aufgeben und offen erklären will, dass die USA Taiwan mit militärischen Mitteln gegen China verteidigen werden. Damit wird es sogar denkbar, dass Washington die 1979 zwischen Deng Xiaoping und der Carter-Regierung erzielten Vereinbarungen aufkündigt.
Eine weitere Unsicherheit bedeutet die Schwächung der taiwanischen Präsidentin Tsai Ing-wen, die im November 2022 nach einer Wahlniederlage ihrer Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) den Parteivorsitz abgegeben hat.
Der Wettbewerb zwischen den USA und China wird noch nicht offen ausgetragen – so als habe er eben erst begonnen. Die aktuelle Politik Washingtons läuft darauf hinaus, ihn konkreter werden zu lassen.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Tom Stevenson ist freier Journalist.
© LMd, Berlin