09.02.2023

Der Heilige Pazifist

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Der Heilige Pazifist

Papst Franziskus will nicht Prediger des Westens sein

von Timothée de Rauglaudre

Friedlichere Zeiten: Putin zu Besuch bei Franziskus, Juni 2015 picture alliance/abaca
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Seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine sorgen Stellungnahmen von Papst Franziskus für Ärger in der Ukraine und bei westlichen Regierungen. Zu Ostern 2022 veranstaltete der Vatikan eine Kreuzwegprozession, bei der zwei Familien, eine russische und eine ukrainische, gemeinsam ein Kruzifix bis zum Kolosseum trugen. Die politische ebenso wie die religiöse Führung in ­Kiew reagierten empört: Sie sahen darin den Versuch, beiden Ländern gleichermaßen die Schuld zuzuweisen.

Anfang Mai trat der Papst erneut ins Fettnäpfchen. Er fragte nach den Wurzeln des Konflikts und sprach vom „Gebell der Nato vor den Toren Russlands“. Auch im August war man nah an einem diplomatischen Eklat, als der Papst sich bei einer öffentlichen Au­dienz zum Tod von Darja Dugina, der Tochter des russischen ultranationalistischen Theoretikers Alexander Dugin, durch ein Attentat äußerte: „Die Unschuldigen bezahlen für den Krieg.“

Sogleich empörte sich der ukrainische Botschafter beim Vatikan, Andrij Jurasch, auf Twitter: „Man kann nicht mit denselben Begriffen vom Angreifer und vom Opfer sprechen.“ In Kiew wurde der apostolische Nuntius einbestellt. Daraufhin versicherte der Vatikan in einem Kommuniqué, die Erklärung des Papstes müsse gelesen werden als „eine Stimme, die sich erhebt, um das menschliche Leben zu verteidigen (…), aber nicht als politische Meinungs­äuße­rung“, und bezeichnete den Überfall auf die Ukraine als „moralisch ungerecht, inakzeptabel, barbarisch, sinnlos, abstoßend und frevelhaft“.

Franziskus wird mal Naivität vorgeworfen, mal Nachsicht mit der russischen Regierung, die sich mit der vor einigen Jahren begonnenen ökumenische Annäherung an die russisch-orthodoxe Kirche erklären lasse. Im Februar 2016 hatte sich der Papst auf dem Flughafen von Havanna mit Kyrill, dem Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, getroffen. Es war die erste Begegnung seit dem Schisma zwischen den Katholiken und Orthodoxen im Jahre 1054. Die beiden religiösen Führer unterzeichneten eine Erklärung.

Viel zu entgegenkommend, empörte sich die griechisch-katholische Kirche der Ukraine, die zwar dem byzantinischen Ritus folgt, aber dem Vatikan untersteht und unter russischer Herrschaft lange unterdrückt wurde. Die Erklärung forderte „Versöhnung da, wo es Spannungen zwischen griechisch-katholischen und orthodoxen Christen gibt“, und beklagte „die Auseinandersetzung in der Ukraine, die schon viele Leben gefordert hat“.

Die russische Invasion vom 24. Februar hat der Papst allerdings schon drei Tagen nach ihrem Beginn verurteilt. Wie er später erzählte, suchte er persönlich am Tag nach dem Angriff den russischen Botschafter beim Vatikan auf, um eine Audienz bei Putin zu erbitten, die dieser ihm nicht gewährt habe. Auch mit seiner Kritik an Patriarch Kyrill, der dem Kreml seit 2009 geistliche Rückendeckung gibt, hat er nicht hinter dem Berg gehalten. Franziskus habe ihn aufgefordert, kein „Staatspriester“ und nicht „Putins Chorknabe“ zu sein.1

Angesichts der Drohung mit Atomwaffen wurde sein Ton noch schärfer. Und Mitte September nannte er es (auf einem Flug nach Kasachstan) zum ersten Mal „moralisch akzeptabel“, den ukrainischen Widerstand gegen die russische Aggression mit Waffen zu unterstützen, solange die Hilfe nicht durch lukrative Waffengeschäfte motiviert sei oder den Krieg eskalieren solle.

Später verglich er den Angriff auf die Ukraine mit zwei furchtbaren Ereignissen des 20. Jahrhunderts: dem Holodomor, der großen Hungersnot in der Ukraine 1932 und 1933, die durch Stalins Politik verursacht wurde, und der mörderischen Aktion Reinhardt gegen Juden und Roma 1942 und 1943 im besetzten Polen und in der Westukraine.

Doch Franziskus bleibt weiterhin bei seinen Aufrufen zum Waffenstillstand; und er bezeichnet Putin nie als Hauptverantwortlichen für den Krieg, obwohl Franziskus ihn Anfang Oktober gebeten hat, „die Gewaltspirale zu beenden“. Zwischen beidem besteht wohl ein Zusammenhang, meint der Vatikan-Korrespondent der katholischen Zeitung La Croix aus Frankreich, Nicolas Senèze. Der Vatikan habe lange gebraucht, ehe er von Russland als Aggressor sprach, weil man immer die Tür für den Dialog offenhalten müsse. Das sei die große Tradition des Vatikan.

Die Ursprünge dieser Tradition reichen zurück ins 19. Jahrhundert. Nach 1870, als der Kirchenstaat den größten Teil seines Territoriums verlor, und vor allem seit dem Pontifikat von Leo XIII. (1878–1903) definierte die katholische Kirche ihre diplomatische Rolle als Vermittlerin zwischen den Großmächten neu.

In den 1929 mit Mussolinis Italien geschlossenen Verträgen erklärt der Heilige Stuhl, „dass er den weltlichen Streitigkeiten zwischen den anderen Staaten und den ihretwegen einberufenen internationalen Kongressen fernbleiben will und wird, sofern die streitenden Parteien nicht gemeinsam an seine Friedensmission appellieren. In jedem Falle behält er sich vor, seine moralische und geistliche Macht geltend zu machen.“2

Das Recht auf Verteidigung erkannte der Vatikan jedoch grundsätzlich an: „Solange die Gefahr von Krieg besteht und solange es noch keine zuständige internationale Autorität gibt, die mit entsprechenden Mitteln ausgestattet ist, kann man, wenn alle Möglichkeiten einer friedlichen Regelung erschöpft sind, einer Regierung das Recht auf sittlich erlaubte Verteidigung nicht absprechen“, heißt es im Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1965.3

Auf der Grundlage dieser Prinzi­pien hüteten sich die Päpste meist davor, die westlichen Kriege zu unterstützen. Bei der Kubakrise 1962 setzte sich Johannes XXIII. mit seinem Friedensappell für Verhandlungen zwischen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow ein. Der Vatikan kritisierte stets sowohl das gegen Kuba verhängte Embargo als auch die Einschränkungen der Freiheit in Kuba.

Johannes Paul II., ein entschiedener polnischer Antikommunist, näherte sich in den 1980er Jahren Präsident Ronald Reagan an, um den sowjetischen Block zu schwächen. Trotzdem verurteilte er die US-Kriege gegen den Irak 1991 und vor allem 2003.

Nach dem in internationalen Angelegenheiten sehr zurückhaltenden Benedikt XVI. wollte Franziskus die Außenpolitik des Vatikan wieder stärken. In seiner ersten Rede an das Diplomatische Korps im Januar 2014 bezog er sich auf Benedikt XV., der während des Ersten Weltkriegs von der Überlegenheit der „moralischen Kraft des Rechts“ über die „materielle [Kraft] der Waffen“ gesprochen hatte. Mehrfach machte sich Franziskus den berühmten Ausruf von Paul VI. vor der UNO 1965 zu eigen: „Nie wieder Krieg!“

Franziskus pflegt dieses Erbe auf seine eigene Weise. Der studierte Philosoph ist von der „Theologie des Volkes“ beeinflusst, einer Spielart der Befreiungstheologie, die vor allem im peronistischen Argentinien entwickelt wurde. Die Theologie des Volkes sieht soziale Gerechtigkeit im christlichen Glauben verwurzelt, hält aber kritische Distanz zum Marxismus. Diese Theologie erklärt zum Teil Franziskus’ Haltung zu sozialer Ungleichheit, zu Ökologie und Migration und auch seinen Versuch, mit dem traditionellen Eurozentrismus des Vatikan zu brechen und sich den Ländern des Globalen Südens zuzuwenden.

Aus dieser Haltung heraus hat er mehrfach Kritik an Washington und dessen Verbündeten geübt: 2013 setzte er sich gegen eine Militärintervention Frankreichs und der USA in Syrien ein, aus Sorge vor einer Eskalation. Und anders als die westlichen Staaten hat der Vatikan seine Botschaft in Syrien nicht geschlossen. Ebenso kritisierte Franziskus den Einsatz von Drohnen und künstlicher Intelligenz durch die US-Armee sowie den Rückzug von Präsident Donald Trump aus dem Atomabkommen mit Iran 2018.

Im selben Jahr unterzeichnete er ein Abkommen mit China, in dem er die vom Staat ernannten Bischöfe anerkannte. Damit stieß er auf großen Widerstand in der illegalen römisch-katholischen Kirche in China, aber auch in katholischen Kreisen in den USA.4 „Während es vor allem unter den Katholiken in China Stimmen gibt, die sagen, man müsse sich dem Regime widersetzen, bis es falle, wie es in der Sowjetunion passiert ist, haben der Papst und die Vatikan-Diplomatie den Weg des Dialogs anstatt der Polarisierung gewählt“, meint der katholische Historiker Jan de Volder.

Während Johannes Paul II. „der Papst eines Kriegs zwischen zwei Blöcken“ gewesen sei, meint Senèze von La Croix, sei Franziskus ein „Blockfreier“ in einer „globalisierten und multipolaren Kirche“. Und Kardinal Pietro Parolin, Staatssekretär des Heiligen Stuhls, sagt mit Blick auf die Ukraine: „Er will nicht der Prediger des Westens“ sein.5 Schärfer formuliert es Alfonso Zardi, Delegierter der französischen Sektion von Pax Christi, einer internationalen katholischen Friedensbewegung. „Er weigert sich zu tun, was Kyrill für Russland tut.“

Der argentinische Pontifex lässt keine Gelegenheit aus, den Anstieg der Militärausgaben zu geißeln. Er spricht von einem Dritten Weltkrieg, den man sich „stückchenweise“ in diversen Konflikten auf den ferngesteuerten Schlachtfeldern der Großmächte liefere. Franziskus interessiert sich nicht für Militärstrategie. Er besteht auf der absoluten Ablehnung des Kriegs.

Deshalb stellte er in seiner Enzyklika Tutti Fratelli vom Oktober 2020 auf nie dagewesene Weise die Kriterien eines „gerechten Kriegs“ infrage, „die wir heute nicht mehr vertreten“: „Deshalb können wir den Krieg nicht mehr als Lösung betrachten, denn die Risiken werden wahrscheinlich immer den hypothetischen Nutzen, der ihm zugeschrieben wurde, überwiegen.“6

Das von Cicero entwickelte Konzept des „gerechten Kriegs“ wurde von Augustinus im 4. Jahrhundert ausgearbeitet und im 13. Jahrhundert von Thomas von Aquin aufgenommen. Darin wird der grundlegende Pazifismus der ersten Christen differenziert: Der Rückgriff auf Waffen kann unter bestimmten sehr genau umrissenen und restriktiven Bedingungen moralisch zulässig sein. Die Doktrin des gerechten Kriegs wurde zwar in der Kirche im letzten Jahrhundert immer mehr relativiert, ist aber noch Teil des Katechismus der katholischen Kirche von 1992.

Franziskus dagegen kehrt zu einem grundsätzlichen Pazifismus zurück, er plädiert für die Vernichtung von Atomwaffen und begnügt sich nicht damit, ihren Einsatz zu verurteilen. Er kritisiert die „ökonomisch-technokratisch-militärische Macht“, durch die die „Mäch­ti­gen“ die Welt beherrschen,7 und schlägt vor, die Militärausgaben in einen weltweiten Fonds zu stecken, um „den Hunger zu besiegen und die Entwicklung der ärmsten Länder zu fördern“.

Der Papst hat angeboten, zwischen Moskau und Kiew zu vermitteln. Bisher ist nur der ukrainische Präsident Wolodimir Se­lens­ki darauf eingegangen, aber es soll diplomatische Kontakte geben. „Wenn es etwas in dieser Richtung gibt, werden wir es nicht an die große Glocke hängen. So etwas betreibt man mit einer gewissen Diskretion“, versichert ein Diplomat im Vatikan und erinnert daran, welche Rolle Franziskus bei der Annäherung zwischen Präsident Barack Obama und Raúl Castro gespielt hat.

In einer Zeit, da „alle ein wenig kriegslüstern sind“, vor allem im Westen und in Osteuropa, wie der Historiker de Volder meint, steht der Papst als überzeugter Pazifist allein auf weiter Flur. Franziskus gibt sich zwar pessimistisch, doch er versichert: „Wir müssen alles tun, was möglich ist, damit der Krieg aufhört.“8

1 Luciano Fontana, „Intervista a Papa Francesco: „Putin non si ferma, voglio incontrarlo a Mosca. Ora non vado a Kiev“, Corriere della Sera, Mailand, 3. Mai 2022.

2 Lateranvertrag, Artikel 15.

3 In der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes.

4 Nicolas Senèze, „Comment l’Amérique veut changer de pape“, Montrouge (Bayard), 2019.

5 „Guerre en Ukraine: Le pape François n’est pas ‚russophile‘, insiste le cardinal Parolin“, Famille chrétienne, Paris, 9. August 2022.

6 Fratelli Tutti. Enzyklika des Heiligen Vaters Papst Franziskus über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft.

7 Papst Franziskus, „Contro la guerra. Il coraggio di costruire la pace“, Mailand (Solferino), 2022.

8 Luciano Fontana, siehe Anmerkung 1.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Timothée de Rauglaudre ist Journalist und Autor von „Les Moissonneurs. Voyage initiatique sur les traces de la théologie de la libération“, Paris (L’Escargot), 2022.

Le Monde diplomatique vom 09.02.2023, von Timothée de Rauglaudre