09.02.2023

London auf dem Kriegspfad

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London auf dem Kriegspfad

Mit der Ankündigung, seine Challenger-2 an die Ukraine zu liefern, eröffnete Großbritannien den Reigen der westlichen Kampfpanzer-Zusagen. Das sieht wie ein Alleingang aus – doch die außen­politische Vormundschaft der USA besteht weiterhin und hat nach dem Brexit eher noch an Bedeutung gewonnen

von Alexander Zevin

Tobias Wyrzykowski, Gasherbrum 1, 2021, Öl auf Leinwand, 100 × 140 cm
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Als Frankreichs Präsident Charles de Gaulle am 27. November 1967 zum zweiten Mal sein Veto gegen den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) einlegte, begründete er dies mit den „besonderen Beziehungen“ des Vereinigten Königreichs zu den USA, die für beide Seiten Vorteile habe, aber auch eine „gegenseitige Abhängigkeit“ begründe. Bei seinem ersten Veto – vier Jahre zuvor – hatte de Gaulle die Idee einer britischen EWG-Mitgliedschaft noch barscher zurückgewiesen und von einem „trojanischen Pferd“ gesprochen, mit dessen Hilfe die USA ihre wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft über Europa absichern wollten.

Dieser Eindruck war nicht unbegründet. Sowohl Präsident Eisenhower als auch sein Nachfolger John F. Kennedy hatten die Regierung in London gedrängt, bei der europäischen Einigung eine Führungsrolle zu übernehmen. Allerdings konnte der britische Beitritt zum Gemeinsamen Markt erst 1973 erfolgen, als Frankreich einen Präsidenten hatte, der sich an den privilegierten Beziehungen Londons zu Washington weniger störte.

Die damit vollzogene Anbindung an Europa erwies sich dann allerdings als ausgesprochen fragil. Und so dauerte es keine 50 Jahre, bis das Vereinigte Königreich aufgrund des Referendums von 2016 als erstes Land wieder aus der Europäischen Union austrat.

Während der Brexit innerhalb Großbritanniens zu endlosen Schulddebatten führte, die sich hauptsächlich um die wirtschaftlichen Kosten des Austritts drehen, geht es jenseits des Kanals vorwiegend um Fragen ähnlich denen, die de Gaulle einst aufgeworfen hatte, allerdings aus entgegengesetzter Perspektive: Was soll aus Europa werden, nachdem das trojanische Pferd wieder verschwunden ist? Wird die EU endlich unabhängiger agieren? Also nicht als Teil einer „übermächtigen atlantischen Gemeinschaft“, vor der de Gaulle gewarnt hatte, sondern als eigenständiges „Europa der Europäer“?

Unmittelbar nach vollzogenem Brexit konnte man vor allem zwei Prognosen hören: Erstens, dass ein isoliertes Großbritannien in Europa an den Rand gedrängt oder auf globaler Ebene durch die Rivalität zwischen Washington und Peking zerrieben würde; und zweitens, dass die EU zu jener inneren Entwicklungsdynamik zurückfinden würde, die ihr aufgrund der britischen Unnachgiebigkeit gegenüber einer weitergehenden politischen Einigung und gemeinsamen Verteidigungspolitik abhandengekommen war.

Doch beide Voraussagen wurden durch das geopolitische Beben zertrümmert, das wir im Februar 2022 erlebt haben, nicht einmal zwei Monate nach dem Ende der „Übergangsperiode“ der Trennung Großbritanniens von der Europäischen Union. Der Krieg in der Ukraine machte schlagartig die veränderten Machtverhältnisse sichtbar, die sich unter der Oberfläche angebahnt hatten, und zwar sowohl in den britischen Beziehungen zur EU als auch in den Beziehungen der EU und Großbritanniens zu den Vereinigten Staaten.

Was die europäische Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine betrifft, so hielt sich Großbritannien keineswegs am Rande, sondern hat im Gegenteil oft das Tempo der Reak­tio­nen diktiert. London drängte von Anfang an auf ein ganzes Paket von Sanktionen, um „Russland Schritt für Schritt aus der Weltwirtschaft hinauszudrängen“.

Was die Militärhilfe für die Ukraine betrifft, so liegt Großbritannien mit der Lieferung von Rüstungsgütern im Wert von 2,63 Milliarden Euro – darunter Panzerabwehrraketen, schwere Artillerie und Drohnen – an zweiter Stelle hinter den USA. Am 15. Januar verkündete die britische Regierung als erstes Land die Lieferung westlicher Kampfpanzer.

Zudem werden nicht nur ukrainische Soldaten auf den Armeestützpunkten in Kent und Salisbury an den britischen Waffensystemen geschult. Nach Aussage eines ranghohen Generals sind auch britische Spezialkräfte in der Ukraine seit April an „diskreten Operationen mit hohem politischen und militärischen Risiko“, beteiligt.1

Das alles veranlasste Präsident Wolodimir Selenski im Frühjahr 2022, den damaligen britischen Premierminister Boris Johnson zu seinem europäischen Lieblingsstaatsmann zu ernennen, als er gegenüber dem Economist betonte: „Großbritannien steht eindeutig auf unserer Seite. Es vollführt keinen Balanceakt.“ Was natürlich als Spitze gegen Frankreich und Deutschland gemeint war.

Alles beim Alten trotz Brexit

Ähnlich beliebt ist Großbritannien auch in den baltischen Staaten. Schon Tony Blair hatte deren Beitritt zu Nato und EU unterstützt, als Gegenleistung für ihre Beteiligung am Krieg im Irak und generell am Krieg gegen den Terror. Großbritannien stellt auch die Hauptmacht der 2012 gegründeten Joint Expeditionary Force (JEF) für das Baltikum ab, der unter Führung der Royal Navy militärische Einheiten aller baltischen und skandinavischen Staaten wie auch der Niederlande angehören. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden diese JEF-Einheiten erheblich aufgestockt.

Als Anfang April 2022 der Eindruck entstand, dass Russland und die Ukraine dabei sind, die Umrisse einer Interimsvereinbarung auszuhandeln2 , flog der britische Premier am 9. April nach Kiew, um Präsident Selenski zum Abbruch der Verhandlungen zu bewegen. Als Begründung gab er an, dass „Putin bei Weitem nicht so mächtig sei wie gedacht“, was die Chance biete, „ihn unter Druck zu setzen“.3

Im Grunde spielt Großbritannien heute dieselbe Rolle wie früher als EU-Mitglied: Man verbündet sich mit Akteuren, die – wie Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien oder die Niederlande – auf verschiedenen Gebieten dieselben Vorbehalte gegenüber der EU haben wie London, wobei es sich allerdings um bi- oder trilaterale Ad-hoc-Bündnisse handelt.

Nach dem Brexit war zu erwarten, dass die Kernmitglieder der EU entsprechend mehr Gewicht erlangen würden. Doch das Gegenteil war der Fall: Deutschland droht der wirtschaftliche Abstieg, zum einen wegen der infolge des Krieges gestiegenen Energiepreise, zum anderen weil China – immerhin der viertwichtigste Exportmarkt – eine Konjunkturschwäche durchläuft, die durch die von Washington betriebene Isolierung Pekings noch verschärft wird. Diese Entwicklung gefährdet nicht nur die kurzfristige Konjunktur, sondern das gesamte Wachstumsmodell, sodass in Deutschland sogar die „Gefahr einer Deindustrialisierung“ droht.

Nach dem Brexit ist Frankreich unter den EU-Staaten die stärkste Militärmacht – und die einzige mit Atomwaffen – sowie das einzige ständige Mitglied im UN-Sicherheitsrat. Aber Paris hat diese Machtattribute weder inner- noch außerhalb des europäischen Blocks für sich nutzen können.

Auf der weltpolitischen Bühne wurden Frankreich seine Grenzen in der Aukus-Affäre aufgezeigt, als Australien kurzfristig den vereinbarten Kauf von zwölf Diesel-U-Booten stornierte, um einen umfassenden Sicherheitspakt mit den USA und Großbritannien einzugehen, der den Aufbau einer gegen China gerichteten atomgetriebenen Flottille im Pazifik vorsieht. Aber auch innerhalb der EU ist Macron seinem erklärten Ziel, zusammen mit Deutschland die „strategische Souveränität“ Europas zu stärken, nicht näher gekommen.

In Berlin hatte schon die Merkel-Regierung im Frühjahr 2021 beschlossen, US-Kampfflugzeuge vom Typ F-18 als Nachfolgemodell für den Tornado anzuschaffen. Spätestens mit dem im März 2022 von Bundeskanzler Scholz verkündeten Kauf von 35 Exemplaren des F-35A steht das deutsch-französisch-spanische Jagdbomberprojekt Future Combat Air System (FCAS) auf der Kippe. Sein Scheitern würde auch die alte Idee eines mit Frankreich gebildeten „Kerneuropas“ infrage stellen, die mit der weiteren Ausdehnung der EU nach Osten ohnehin obsolet würde. Von den neuen Impulsen für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die man sich vom Brexit versprochen hat, ist jedenfalls nichts zu spüren.

Die Dynamik im Verhältnis Großbritanniens zu Europa wie auch innerhalb der EU ist nicht zu verstehen, ohne deren Beziehung zu den USA und der von ihnen dominierten Nato zu analysieren. Die vermeintliche Autonomie der EU gegenüber der atlantischen Allianz war schon in den 1990er Jahren mehr Wunschdenken als Realität. US-Präsident Clinton drängte darauf, die Nato-Mitgliedschaft der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten durch deren Aufnahme in die EU zu ergänzen. Die erfolgte für Polen, Ungarn und Tschechien schon 1999, kurz bevor die Nato auf dem Balkan offensiv wurde. Der EU-Beitritt von Bulgarien, Rumänien, der Slowakei, Slowenien und den baltischen Staaten folgte dann 2004, als die Allianz in Afghanistan an der Seite der USA mit ihren ersten „Out of area“-Einsätzen begann.

Ein Jahr zuvor hatte Frankreich noch damit gedroht, im UN-Sicherheitsrat sein Veto gegen den von Bush begonnenen Irakkrieg einzulegen. Dennoch durfte das US-Militär dann französische Luftwaffenstützpunkte für die Logistik der Inva­sion nutzen. Die Osteuropäer gestatteten ihrerseits der CIA, sogenannte „Black Sites“ einzurichten, wo des Terrorismus verdächtigte Personen „verschärften Verhören“ unterzogen wurden.4

Zwei Jahrzehnte später hat der Ukrainekrieg das Ausmaß dieser Unterordnung vollends deutlich gemacht. Die britischen Streitkräfte bleiben auch nach dem Brexit militärisch von ihrem „transatlantischen Partner“ abhängig, weil sie in die von den USA dominierten Kommandostrukturen eingebettet sind.

Dasselbe gilt für die militärischen Schwergewichte innerhalb der Europäischen Union. Es ist eine Tatsache, dass die Europäer praktisch keinerlei diplomatische oder militärische Initiative ergriffen haben, nachdem das Minsker Abkommen – für das sie und nicht etwa die USA die Garantiemächte waren – gescheitert war.

Mit Beginn des Krieges hat man jegliche Initiative den USA überlassen. Die Unfähigkeit, unabhängig von Washington zu handeln, rührt vor allem von den ewigen Spannungen im deutsch-französischen Tandem, die durch die jüngste Krise noch verstärkt wurden. Mangelnde finanziellen Mittel spielen hingegen keine Rolle, denn Deutschland und Frankreich geben – nimmt man Italien hinzu – alljährlich mehr als doppelt so viel Geld für Waffen aus wie Russland.

Für den Wirtschaftssoziologen Wolfgang Streeck liegt es vielmehr an der Logik, die seit dem Ende des Kalten Krieges die Essenz des europäischen Projekts ausmacht: Die EU habe sich zum „zivilen Gehilfen der Nato“ gemacht; einerseits protestiere man symbolisch gegen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs der USA, aber andererseits flüchte man sich dankbar unter den nuklearen Schutzschirm der Weltmacht USA.5

Kann die EU noch selbstständig handeln in Bereichen, in denen es um grundlegende US-Interessen geht? Was diese Frage angeht, wartet für die EU hinter der Ukraine bereits die nächste Bewährungsprobe: China. Die Biden-Regierung argumentiert, jedes Anzeichen von Schwäche gegenüber Russland könnte Peking dazu ermutigen, Taiwan anzugreifen. Bisher haben die europäischen Staatschefs wenig Neigung gezeigt, öffentlich anzuzweifeln, ob es klug wäre, den USA in diese neue Konfrontation der Großmächte zu folgen. Auf dem Nato-Gipfel im Juni in Madrid waren die Europäer erstmals bereit, China als „Systemherausforderung“ einzustufen und Südkorea, Japan, Neuseeland und Australien für ein Bündnis zu rekrutieren, das nicht mehr wirklich als „nordatlantisch“ bezeichnet werden kann.

Eine ganz andere Frage ist, ob sich Europa einen Handelskrieg mit China als logische Folge dieser Positionierung leisten kann. Schließlich hat China am europäischen Außenhandel inzwischen einen größeren Anteil als die USA. Konkret stellt sich die Frage, ob Washington zulassen wird, dass Deutschland, die Niederlande und andere EU-Staaten beim China-Handel gewisse Ausnahmeregeln für den Hightech-Sektor beanspruchen – oder ob die USA ihre enormen finanziellen Druckmittel auch gegen die europäischen Verbündeten einsetzen werden.

Der Druck, den der Krieg auf die einzelnen Staaten ausübt, sorgt im Übrigen auch für Risse in der europäische Einheitsfront in Sachen Ukraine: In Tschechien protestiert die Bevölkerung gegen die steigenden Energiepreise; in Italien ist die Regierung über die Waffenlieferungen an die Ukraine zerstritten; in Deutschland zeigen sich energieintensive Unternehmen offen empört über die US-amerikanischen Flüssiggas-Profiteure.

Dass sich Großbritannien heute im europäischen Verbund eher als Anführer denn als Mitläufer aufspielen kann, ist eine direkte Folge seiner besonderen Beziehung zu den USA, die London den Nimbus des Klassensprechers in einer Eliteschule verleiht.

Für diese Rolle war Boris Johnson die ideale Besetzung. Um seine fragile Regierung zu retten, setzte er voll auf das Thema Ukraine, bis ihn auch Fototermine in Kiew nicht mehr vor dem Aufruhr in seiner eigenen Partei retten konnte. Aber wie wurde das Vereinigte Königreich unter Johnsons Führung zu dem europäischen Staat, der sich gegenüber der Ukraine als entschiedenster Bundesgenosse der USA profiliert?

Der Krieg hat auch für Großbritannien – wie schon für Kontinentaleuropa – eine längerfristige Abhängigkeit sichtbar gemacht, die im Gefolge des Brexit noch klarer zutage tritt. Aber natürlich behauptet die politische Klasse das genaue Gegenteil und schwört auf die „britische Führungsrolle in der Welt“. Genau diese Botschaft vermittelte die Regierung Johnson schon 2021 in ihrem ersten „Integrierten Bericht“ zur Sicherheits- und Außenpolitik.6

Dieser Report befürwortet eine kleinere, schlankere Armee, die überall auf der Welt „aktiver und präsenter“ sein sollte, um rasch intervenieren zu können; dazu ein größeres Arsenal an Atomwaffen. Diese Planungen wurden durch die Ankündigung deutlich erhöhter Militärausgaben untermauert: Johnson versprach eine Aufstockung auf 2,5 Prozent des BIPs binnen zehn Jahren, seine kurzzeitige Nachfolgerin Liz Truss sprach sogar von 3 Prozent. In nackten Zahlen wären das Mehrausgaben von 20 bis 25 Milliarden Pfund pro Jahr.

Zugleich ist Großbritannien nach wie vor einer der größten Waffenexporteure der Welt und hat insbesondere fliegendes Gerät im Angebot, das seine Diplomaten im Ausland entsprechend bewerben. Zuletzt hatte London ein Übereinkommen mit Tokio eingefädelt. Danach wird sich Japan an dem Global Combat Air Pro­gramme (GCAP) beteiligen, in dem Großbritannien bereits zusammen mit Italien an der Entwicklung des neuen Kampfjets „Tempest“ arbeitet. 7

Wie der Journalist Tom Stevenson aufgezeigt hat, sind alle Entwürfe für die Strategie eines „globalen Britanniens“ durch ein Leitmotiv gekennzeichnet: die weitgehende Abstimmung mit den strategischen Prioritäten der USA.8 Bei den „Militärtheoretikern“, die den größten Einfluss auf die britische Politik haben9 , ist zwar noch reichlich „imperiale“ Nostalgie zu spüren, aber nicht immer ist klar, welchem Imperium sie gilt.

Besonders deutlich zeigt dies die britische Kehrtwendung in Sachen China, die der zitierte „Integrierte Bericht“ dokumentiert. Der sieht unter anderem vor: die Entsendung eines neuen Flugzeugträgers in den indopazifischen Raum „zur ständigen Verfügung der Nato“; die Klassifizierung Koreas als „besonders wichtiger Krisenbrennpunkt“ und eine Rückkehr in die Re­gion „östlich von Suez“ – die sich bereits 2018 abzeichnete, als Großbritannien eine Marinebasis in Bahrain etablierte, die zur Unterstützung von US-Operationen im Persischen Golf (und darüber hinaus) gedacht ist.

Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg

Die „special relationship“ (besondere Beziehung) zwischen den USA und Großbritannien wurde häufig als Floskel mit wenig konkretem Inhalt abgetan. In Wirklichkeit hatte sie seit ihren Anfängen in den 1940er Jahren sehr konkrete Wirkungen und Folgen: Die Briten erhielten als Gegenleistung für den Fortbestand der US-Militärbasen auf ihrem Territorium privilegierten Zugang zu modernster Militärtechnologie – allerdings ohne über Art und Zeitpunkt ihrer Verwendung entscheiden zu dürfen.

Nach dem Scheitern des britischen „Blue Streak“-Programms zur Entwicklung einer Mittelstreckenrakete in den 1950er Jahren bestand diese Teilhabe hauptsächlich aus einer Reihe von ballistischen Raketensystemen. Ohne US-Trägerwaffen wie Thor, Skybolt, Polaris und Trident konnte Großbritannien damals sein angeblich unabhängiges nukleares Abschreckungsarsenal weder gezielt einsetzen noch unterhalten oder auch nur testen.

Gefälligere Beschreibungen der „besonderen Beziehung“ heben vor allem auf die Zusammenarbeit der Geheimdienste ab, ebenfalls ein Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Kooperation wurde 1947 in einem geheimen britisch-amerikanischen Abkommen fortgeschrieben. Mit dem Echelon-Abhörprogramm wurde das Zweier­bündnis in den 1960er Jahren auf Australien, Kanada und Neuseeland ausgeweitet, sodass man seitdem von den „Five Eyes“10 spricht.

Die Zahl der US-Stützpunkte auf britischem Territorium schwankte in den vergangenen Jahrzehnten. 1986 zählte ein Investigativjournalist mehr als 130 militärische Einrichtungen, was die Insel zu einem „unsinkbaren Flugzeugträger“ im Nordatlantik machte, in Schlagdistanz zur Sowjet­union.

Zwar haben die USA ihre Präsenz seit dem Ende des Kalten Kriegs reduziert, doch die strategische Relevanz wie der Umfang dieser Präsenz sind nach wie vor bedeutend. Noch heute ist die Royal Air Force Base von Lakenheath zugleich der größte US-Luftwaffenstützpunkt in Europa; und auf der RAF-Basis Menwith Hill unterhält die NSA ihren größten militärischen Aufklärungsstützpunkt außerhalb der USA. Insgesamt hat die US-Luftwaffe in Großbritannien etwa 10 000 Männer und Frauen stationiert, damit ist die Insel ihr drittgrößter Außenposten nach Japan und Deutschland.

Während die militärische Dimension der „special relationship“ in den 1990er Jahren extrem umstritten war und auch heftig bekämpft wurde, hat sich das Bild mittlerweile dramatisch gewandelt. Vor 30 Jahren wurde das unterwürfige Verhalten Londons gegenüber dem transatlantischen Seniorpartner nicht nur von linken Parlamentsabgeordneten infrage gestellt, sondern auch von konservativen Verfechtern der britischen Souveränität. Heute dagegen kann man sich auch in den kühnsten Träumen keinen Premierminister vorstellen, der den USA die Nutzung der Luftwaffenstützpunkte der Royal Air Force verweigern würde – wie es Edward Heath 1973 während des Jom-Kippur-Kriegs getan hat.

Wie tiefgreifend der Wandel ist, zeigt auch der schwindende Einfluss der britischen Friedens- und Antiatomwaffenbewegung, die Anfang der 1980er Jahre ihre Blütezeit erlebte. Damals führte Michael Foot, ein Mitbegründer der Kampagne für nukleare Abrüstung CND, die Labour-Partei mit einem Programm in den Wahlkampf, das auf einseitige Abrüstungsschritte setzte und konkret den Abzug der US-Marschflugkörper und einen europäischen Sicherheitspakt forderte, der die Nato obsolet machen sollte.

Unter dem heutigen Labour-Vorsitzenden Keir Starmer würden solche Forderungen einen Parteiausschluss nach sich ziehen. Seit Februar 2022 ist es Labour-Mitgliedern de facto untersagt, an Kundgebungen gegen den Krieg teilzunehmen und Kritik an der Nato zu üben. Und seitdem Ex-Parteichef Jeremy Corbyn – der einzige nach Foot, der jemals das transatlantische Bündnis als bestimmenden Faktor der britischen Außenpolitik infrage stellte – aus der Labour-Fraktion des Unterhauses ausgeschlossen wurde, hat man reihenweise weitere sozialistische Mitglieder und Abgeordnete aus der Partei geworfen.

Das hat ironischerweise zur Folge, dass es heute in Großbritannien viel schwerer ist, die Außenpolitik Washingtons, etwa in Sachen Ukraine, zu kritisieren als in den USA selbst. Auf der Insel gibt es kein Gegenstück zu einem Quincy Institute for Responsible Statecraft. Dieser 2019 in Washington gegründete Thinktank bemüht sich, den interventionistischen Lehrmeinungen jener liberalen Geister entgegenzuwirken, die in Washington die Außenpolitik beider Parteien bestimmen.

In Großbritannien bleiben Meinungsunterschiede zwischen Politikern oder zwischen zivilen und militärischen Entscheidungsträgern weitgehend verborgen – soweit es sie überhaupt gibt. In den USA dagegen kommt es immer wieder vor, dass Beamte des Pentagon die Falken in der NSA und im Außenministerium durch Indiskretionen in Verlegenheit bringen.

Auch in den britischen Mainstream-Medien wird fast durchweg die Ansicht verbreitet, die Ukraine müsse so lange unterstützt werden, bis Russland „besiegt“ ist. Und die zahlreichen Berichte über Russlands Probleme beim Nachschub von Munition und Soldaten erweckten bei vielen den Eindruck, die Niederlage des Kreml stehe kurz bevor.

All das führt insgesamt nicht nur zu einem verzerrten Bild des Kriegs, sondern auch zu einer Art analytischen Vakuum in den politischen Debatten. Dabei sind seit der Verhängung der strengen Sanktionen, die eigentlich „das Putin-Regime in die Knie zwingen“ sollten, zwei britische Regierungen zu Fall gekommen. Im eigenen Land sind die Energiepreise gerade für die ärmsten Haushalte stärker angestiegen als im übrigen Westeuropa.

Nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds wird die britische Wirtschaft 2023 als einzige unter den G7-Staaten schrumpfen.11 Und der Ausverkauf von Staatsanleihen, der im September 2022 durch die Sparankündigungen von Regierungschefin Liz Truss ausgelöst wurde, hat die Solvenz der Rentenfonds gefährdet und die Kreditkosten so stark steigen lassen, dass die Bank of England intervenieren musste.12

Was den Verteidigungshaushalt betrifft, so ist von Sparpolitik allerdings nicht die Rede. Verteidigungsminister James Heappey erklärte am 30. Januar, die britische Armee bedürfe dringend einer „Rekapitalisierung“. Und aus dem Pentagon wurden US-Militärs zitiert, die diese Armee nicht mehr als „top-level fighting force“ einschätzen.13

Noch vernichtender urteilte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Unterhaus, der Konservative Tobias Elwood, bereits im Oktober 2022. Er sieht das britische Militär in einer Krise, die „schlimmer“ sei als die im Suezkrieg von 1956. Die Lehre aus der Suezkrise bestand nach allgemeinem Verständnis darin, dass das ehemalige britische Empire in seiner Handlungsfähigkeit durch die Hegemonialmacht USA eingeschränkt wurde. Mehr als ein halbes Jahrhundert später stellt sich die Frage eher umgekehrt: Wie hoch sind für Großbritannien die Kosten, die der vollständige Verzicht auf eine unabhängige Außenpolitik mit sich bringt?

1 „Royal Marines deployed on 'high-risk covert operations’ in ­Ukraine“, The Times, 14. Dezember 2022.

2 Siehe Fiona Hill und Angela Stent, „The World Putin Wants“, Foreign Affairs, September-Oktober 2022.

3 Siehe Roman Romaniuk, „From Zelenskyy’s ‚surrender‘ to Putin’s surrender“, Ukrainska Prawda, 5. Mai 2022. Romaniuk betont jedoch, zu diesem Zeitpunkt hätten ohnehin die aufgedeckten russischen Kriegsverbrechen weitere Verhandlungen für Kiew unmöglich gemacht.

4 Siehe Stephen Grey, „Entführt, verhört, vesteckt“, LMd, März 2005.

5 Siehe Wolfgang Streeck, „Die EU nach Merkel“, LMd, Februar 2022.

6 Der Text mit dem Titel „Global Britain in a Competitive Age“ wurde von der Regierung im März 2021 publiziert.

7 Siehe „Move over, Tempest: Japan pact takes UK-Italy fighter plan 'global’“, Defense News, 9. Dezember 2022.

8 Tom Stevenson, „At the Top Table“, London Review of Books, 6. Oktober 2022.

9 Das sind vor allem die Mitarbeiter der drei Institutionen Royal Service Institute (RUSI), Royal Institute for International Affairs (Chatham House) und Department of War Studies am Londoner King’s College.

10 Siehe Philippe Leymarie, „Allianz der Lauscher“, LMd, März 2022.

11 „Britain the only G7 economy forecast to shrink in 2023“, The Guar­dian, 31. Januar 2023.

12 Siehe Jamie Maxwell, „Großbritannien aus den Fugen“, LMd, Oktober 2022.

13 Sky News vom 30. Januar 2023

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Alexander Zevin ist Historiker an der City University of New York.

Le Monde diplomatique vom 09.02.2023, von Alexander Zevin