09.02.2023

Chilenische Realitäten

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Chilenische Realitäten

Auf der Suche nach Rohstoffen besuchte Bundeskanzler Olaf Scholz Ende Januar auch Chile. Die junge linke Regierung unter Präsident Gabriel Boric steht gegen eine oppositionelle Parlamentsmehrheit und muss mit der Wirtschaftskrise, dem Scheitern des Verfassungs­entwurfs und den Erblasten der Diktatur fertigwerden.

von Roberto Herrscher

Tobias Wyrzykowski, Sonne, 2022, Öl auf Leinwand, 160 × 160 cm
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Zehn Monate ist die linke Regierung Chiles im Amt, und es kommt einem vor, als sei die Hälfte ihrer Zeit bereits verstrichen. Gleichzeitig ist es so, als hätte die Regierung noch gar nicht richtig mit ihrer Arbeit angefangen. Es ist eine Sturzgeburt, und sie hört nicht auf.

Es gab weder Flitterwochen noch einen hunderttägigen Waffenstillstand mit der Opposition. Als der junge ehemalige Studentenführer Gabriel Boric sein Amt antrat, habe ich mich zu der Äußerung hinreißen lassen, dass es nach einer Kampagne voller blumiger Worte und Lobliedern auf Allende nun an der Zeit sei, in Prosa zu regieren. Und wie man sieht, ist die Prosa hart für die Neulinge.

Beim Referendum über die neue Verfassung am 4. September 2022 rechnete die Regierung mit Zustimmung. Dann votierten 62 Prozent der Wählerschaft dagegen.1 Boric setzte auf ein junges Kabinett mit Leuten aus seinen eigenen politischen Kreisen. Schon nach kurzer Zeit musste er zwei seiner drei engsten Verbündeten austauschen: Innenministerin Izkia Siches wurde durch Carolina Tohá ersetzt, und Giorgio Jackson, der als Stabschef des Präsidenten zu viel Gegenwind aus dem Parlament bekam, wechselte ins So­zial­mi­nis­te­rium. Eine dritte wichtige Verbündete, Karol Cariola, Leiterin der Ja-Kampagne, fiel als Kandidatin für das Amt der Parlamentspräsidentin in der Abgeordnetenkammer durch.

Der Regierung hat also noch einen weiten Weg vor sich, doch viele ihrer Wählerinnen und Wähler werden ungeduldig – ihnen reicht es nicht, wenn die Regierung lediglich „nicht so rechts ist wie die Rechten“.

Wie geht es mit Chile nun weiter? Die im folgenden genannten Schlüsselthemen könnten im schwierigen Jahr 2023 für dieses brodelnde und unberechenbare Land zwischen Kordilleren und Pazifik entscheidend werden.

Das ursprüngliche Kabinett von Gabriel Boric war nur von kurzer Dauer. Dabei war der Auftakt so vielversprechend: Am 11. März 2022 ging ein Kombinationsbild durch die sozialen Me­dien. Oben: die erste Ministerrunde seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1990, mit Präsident Patricio Aylwin in der Mitte, umgeben von anderen distinguierten Herren in Anzug und Krawatte, in ähnlichem Alter wie er selbst. Unten: Boric’ unkonventionelle Truppe aus 14 Frauen und 10 Männern, farbenfroh gekleidet, mit offenem Lächeln, überwiegend jung. Direkt neben dem Präsidenten und der Regierungssprecherin Camila Vallejo standen Gior­gio Jackson und Izkia Siches.

Heute ist nur noch die allseits beliebte Vallejo übrig. Als Sprecherin der Regierung kommuniziert sie sehr gut, aber sie muss eben auch etwas zu kommunizieren haben. Im Gegensatz zu Vallejo hat Jackson es nicht verstanden, mit einem Parlament zu verhandeln, in dem die Opposition die Mehrheit hat.

Die junge Ärztin Siches wiederum war schnell überfordert mit den Problemen, die aus allen Himmelsrichtungen auf sie einprasselten – von der Gewalt im Süden über die unkontrollierte Einwanderung im Norden bis zum Drogenhandel in der Landesmitte.

Nun sind sie und zahlreiche andere durch Staatssekretäre und Minister aus früheren Regierungen der alten Concertación ersetzt worden (zu dem Bündnis gehörten auch die Sozialistische Partei und die Christdemokraten). Es sind vor allem Leute aus den Amtszeiten Michelle Bachelets (2006–2010 und 2014–2018), die Boric’ Partei Convergencia Social (Soziale Konvergenz) und ihre Verbündeten im linken Frente Amplio (Breite Front) eigentlich „in den Ruhestand schicken“ wollten.

Mit dem neuen Kabinett und unter dem Druck, sich mit einem streitlustigen Nationalkongress zu einigen, musste Boric mehrfach zurückrudern. So hat er bei der Reform des Rentensystems zurückstecken müssen, er nahm es hin, dass die Parlamentsmehrheit das Asien–Pazifik-Abkommen durchgewunken hat, obwohl seine grünen und kommunistischen Verbündeten dagegen gewesen waren, und er hat einen Konsenshaushalt vorgelegt, der wenig Mittel für die von ihm versprochenen sozialen Verbesserungen vorsieht.

Sein jüngster parlamentarischer Misserfolg war die Ablehnung seines Kandidaten für das Amt des Generalstaatsanwalts durch den Senat (die obere Parlamentskammer). Dabei war Bo­ric’ Kandidat konservativ und vermeintlich konsensfähig.2 Seine nächste Favoritin für das Amt ist die Antikorruptionsstaatsanwältin Marta Herrera Seguel. Es gibt keine Garantie, dass sie es schaffen wird. Es ist nicht leicht, als Neuling an der Spitze der Regierung zu stehen und das Parlament gegen sich zu haben.

Am 11. Dezember 2022 empörte sich die neue Innenministerin Carolina Tohá (aus dem Lager Bachelet) über den Vorschlag der neokonservativen Amarillos por Chile (Gelbe für Chile), dass die neue Verfassung diesmal von Experten ausgearbeitet werden sollte, ernannt vom Kongress mit seiner rechten Mehrheit. „Wenn Experten das Allheilmittel sind, warum ersetzen wir dann nicht den Kongress durch einen Expertenrat?“, platzte sie in einem Interview auf CNN Chile heraus.

Doch die Wut der Ministerin ist schnell wieder verpufft. Am nächsten Tag wurde der Antrag der neokonservativen Amarillos, die von den Mainstream-Medien bejubelt werden und mit ihrer Propaganda maßgeblich zur Ablehnung der neuen Verfassung beigetragen hatten, von der Mehrheit im Kongress angenommen.

Am 25. Januar wurde eine Gruppe von 24 „anerkannten Experten“ zu gleichen Teilen vom Abgeordnetenhaus und vom Senat gewählt, die am 6. März zusammentreten werden, um einen Entwurf auszuarbeiten. Am 7. Mai sollen die 50 Mitglieder des Verfassungsrats direkt gewählt werden, die dann im Herbst den endgültigen Text zur Volksabstimmung vorlegen werden.3

Der wütendste Aufschrei gegen das Versäumnis der Linken, die es nicht geschafft haben, an dem vollständig direkt vom Volk gewählten Konvent festzuhalten, kam von einem ihrer prominentesten Veteranen: Der über 90-jährige Architekt Miguel Lawner, legendärer Schöpfer sozialer Wohnungsbauten unter Salvador Allende und politischer Gefangener während der Pinochet-Diktatur, kündigte an, er werde nicht für diese „Ungeheuerlichkeit“ stimmen. Das Volk habe verloren, sagte er.

Bei der Ankündigung des neuen verfassungsgebenden Verfahrens hatte Boric behauptet, dies sei bei dem derzeitigen Kräfteverhältnis die bestmögliche Lösung. Ausgerechnet der Mann, der bei den Aufständen im Oktober 2019 mit am lautesten und heftigsten Erneuerung gefordert hatte, ist nun beim Möglichkeitssprech eines Patricio Aylwin (1918–2016) angekommen. Der erste demokratisch gewählte Präsident nach der Diktatur hatte 1990 tatsächlich gesagt, man werde „so weit wie möglich“ die Demokratie einführen.

Rufen wir uns in Erinnerung, was am 4. September 2022 geschah: Beim Referendum wurde der Verfassungsentwurf, auf den die Regierung gesetzt hatte, mit 62 Prozent gegenüber 38 Prozent abgelehnt – eine krachende Niederlage, die sogar die Prognosen in den Umfragen übertraf. Die Medien, die von den Rechten kontrolliert werden, hatten in einer effizienten Kampagne in den sozialen Netzwerken behauptet, die neue Verfassung benachteilige die „ganz normalen Chilenen“ und begünstige Indigene, Feministinnen, Umweltaktivisten und Gefängnisinsassen.

Bei der Wahlanalyse kam heraus, dass selbst in den indigenen Gemeinden, bei den Frauen und Umweltaktivisten und bei den Häftlingen, die zum ersten Mal mit abstimmen durften, die Nein-Stimmen überwogen. Der Verfassungstext überzeugte nicht einmal diejenigen, denen er hätte zugutekommen sollen.

Was ist nur mit dem Verfassungskonvent und dem Plebiszit passiert? Ein großes Thema, über das man einen eigenen Artikel schreiben könnte. Zunächst hat das Scheitern dafür gesorgt, dass die Regierung nach gerade mal einem halben Jahr im Amt gestrauchelt und nun stark geschwächt ist. Die rechtsgerichtete Opposition wittert Morgenluft und behauptet einfach, mit dem Nein sei allen 300 Artikeln des gescheiterten Verfassungsentwurfs eine klare Absage erteilt worden. Die neue Verfassung, so ihre Schlussfolgerung, müsse nun nach anderen, nämlich ihren Vorstellungen gestaltet werden.

Derzeit fürchten viele, dass die „anerkannten Experten“, die das Grundgerüst der neuen Magna Carta errichten sollen, von den ewigen alten Politikern eingesetzt werden – denen, die geduldig abwarten, bis sich der Aufruhr gelegt hat, um dann wie aus dem Nichts wieder an der Stelle aufzutauchen, wo sie immer schon gewesen waren.

Ein weiteres Versprechen der jungen Regierung ist unerfüllt geblieben: Die Regierungen Piñera (2010–2014 und 2018–2022) hatten zu einer „verfassungsrechtlichen Ausnahmeregelung“ gegriffen, um den Süden des Landes zu kontrollieren, wo nach wie vor gewalttätige Mapuche-Gruppen das Land zurückholen wollen, das den Indigenen vor langer Zeit gestohlen wurde. Insbesondere bekämpfen sie die Forstwirtschaftsunternehmen, die die Böden vergiften und austrocknen lassen.

In Araukanien zeigen sich die Extreme am deutlichsten: Während die Mehrheit der Mapuche friedlich protestiert und erreicht hat, dass eine der ihren, die angesehene Sprachwissenschaftlerin und Hochschuldozentin Elisa Loncón, zur Vorsitzenden des Verfassungskonvents gewählt wurde, hat die militante Gruppierung Coordinadora Arauco Malleco (CAM) ihre Anschläge nach Boric’ Amtsantritt eher noch verstärkt – obwohl die neue Regierung ihnen die Hand zum Dialog gereicht hat.

Gleichzeitig dominieren rechte Parteien die Regionalpolitik in Arau­ka­nien. Nur hier gewann die Rechte 2021 die Wahlen, während in den übrigen Landesteilen die Linke triumphale Siege eingefahren hat. Streitkräfte und Polizisten greifen hier immer wieder zu brutaler Gewalt – unter dem Schutzmantel der „verfassungsrechtlichen Ausnahmeregelungen“.

Boric hatte vor, den Ausnahmezustand und damit das harte Durchgreifen der Armee zu beenden. Doch wegen der anhaltenden und stärkeren Gewalt sah er sich gezwungen, ihn immer wieder zu verlängern. Ähnlich ist die Situation im Norden des Landes, wo die organisierte Kriminalität zunehmend an Einfluss gewinnt – mit Menschen- und Drogenhandel und dem Einsickern der gefürchteten venezolanischen Mafia Tren de Aragua.

Das Gebiet, in dem der Konflikt mit einem Teil der Mapuche eskaliert ist – wobei nie vergessen werden darf, dass sie aus ihrem angestammten Gebiet vertrieben wurden und in ihrem eigenen Land rassistisch diskriminiert werden –, wird als Macrozona Sur (Südliche Makrozone) bezeichnet. Die großen menschenleeren und durchlässigen Grenzgebiete zu Bolivien und Peru, wo eine ungeregelte Einwanderung zu verschiedenen Problemen geführt hat, bekamen entsprechend den Namen Ma­cro­zona Norte (Nördliche Makrozone).

Aber nicht nur dort nehmen die Konflikte zu. Mit dem Anwachsen des Drogenhandels hat sich auch im mittleren Landesteil die Gewaltkriminalität massiv verstärkt.

Chiles linke Regierung prallt nun mit voller Wucht auf eine Realität, wie sie in Kolumbien, Mexiko und Argentinien seit Jahrzehnten besteht. Dabei wollte sie sich doch nur wie jede linke Regierung vor allem den wirtschaftlichen und sozialen Problemen widmen und weniger der inneren Sicherheit und der Kriminalität, die ja angeblich nur ein Problem der Reichen ist, weil die Armen kein Auto besitzen, das ihnen gestohlen werden kann.

Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und im Windschatten eines weitgehend abwesenden Staats sowie mangelnder Kontrollen in Zeiten von Aufständen und Pandemie sind Drogenkartelle und Banden wie Pilze aus dem Boden geschossen. Das Kinderschutzgesetz – laut der Rechten ein „Freibrief für Verbrecher“ zum Schaden der „ehrlichen Bürger“ – hat dazu geführt, dass Banden zunehmend Minderjährige für ihre Straftaten einspannen. Drei meiner Freunde sind bereits von bewaffneten Kindern ausgeraubt worden, die nicht älter als 15 oder 16 waren.

Als der Präsident Ende Dezember 12 Personen begnadigt hat, die größtenteils im Zusammenhang mit den Unruhen von 2019 verurteilt worden waren, reagierte die Opposition, die gerade mit dem Innenministerium über eine gemeinsame Sicherheitspolitik verhandelt hat, so vergrätzt, dass sie den Kopf der Justizministerin Marcela Ríos forderte. Rios musste gehen.

Anfang Dezember 2022 kamen zudem schlechte Nachrichten aus der Wirtschaft. Nach Zahlen des Nationalen Statistikinstituts (INE) war die Inflation wider Erwarten gerade um ein weiteres Prozent gestiegen. Gleichzeitig prognostizierte die Zentralbank für 2023 eine stärkere Rezession als noch im vergangenen September angenommen. Nach dem aktuellen Bericht könnte die Quote zwischen 1,75 Prozent und 0,75 Prozent liegen.4

So lauten alle Nachrichten dieser Tage. Inflation und Lebenshaltungskosten steigen, Produktivität und Investitionen gehen zurück. Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) wird Chile im Jahr 2023 das lateinamerikanische Land mit dem geringsten Wachstum sein. Das steht in krassem Gegensatz zu dem Aufschwung in den ersten beiden Jahrzehnten der Demokratie, als Chile zum Vorzeigeland der gesamten Region wurde.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten befindet sich der Dollar im Höhenflug: Von 660 chilenischen Pesos vor sechs Jahren stieg er bis auf die 1000-Peso-Marke, bevor er wieder knapp unter den vierstelligen Bereich fiel. Für diejenigen, die Schulden haben, insbesondere Hypotheken, die in einer inflationsangepassten Rechnungswährung (Unidades de Fomento) notiert sind und nicht in Pesos, schnellen die Schulden bei stagnierenden Gehältern in die Höhe.

Die wirtschaftliche Lage, die gefühlte Unsicherheit und ständig neue Nachrichten über die Inkompetenz des Kabinetts haben die Zustimmungswerte für Präsident Boric auf unter 30 Prozent sinken lassen. Er schneidet damit noch schlechter ab als sein Vorgänger Sebastián Piñera in seinem ersten Regierungsjahr.

Der Unterschied ist allerdings, dass die Unzufriedenheit vieler Wäh­le­r:in­nen der Linken oder der linken Mitte diese nicht zu der Illusion verleitet, mit einer neuen Regierung und einer anderen Verfassung würde alles besser. Das hier war bereits die Alternative.

Und es gibt durchaus Verbesserungen. Die Dialogbereitschaft des Präsidenten hat zu einem Abbau der Spannungen und einem konstruktiveren Klima zwischen den politischen Antagonisten geführt; Länder wie Argentinien, Brasilien, Peru, Kolumbien und Venezuela können von so etwas nur träumen. Der verabschiedete Staatshaushalt sorgt trotz einiger Zugeständnisse an die Rechten für soziale Verbesserungen. Das Kinder-, Kranken- und Arbeitslosengeld wurde erhöht und der Mindestlohn angehoben, außerdem sorgt der gute Ruf der Regierung im Ausland (besser als im Inland, wenn man den Umfragen glauben darf) für mehr ausländische Investitionen.

Trotz allem registriere ich eine neue Art der Gelassenheit

Die Enttäuschung über das Ausbleiben rascher Erfolge mag groß sein, aber sie ist lange nicht so groß wie die kollektive Wut, die sich damals gegen Piñera entladen hat. Um denjenigen, die aufgrund der Pandemie ihre Einkommensquelle verloren hatten, finanziell zu helfen, leerte Piñera die Staatskasse; unter seiner Regierung wurde dreimal eine Entnahme von jeweils 10 Prozent der Rentenersparnisse genehmigt.5 Die heutige Regierung trat also mit leeren Kassen an.

Trotz allem ist noch nicht mit einem Generalstreik gedroht worden, Demonstrationen und Unruhen wie im Jahr 2019 sind bisher ausgeblieben6 , und das weist darauf hin, dass trotz der geringen Popularität der Regierung eine gewisse Geduld vorhanden ist. Man macht sich vielleicht keine großen Hoffnungen, aber man wartet ab.

Weder sind multinationale Unternehmen abgewandert noch ist inländisches Kapital ins Ausland abgeflossen, wie es die Anhänger von Boric’ Rivalen, dem Rechtsextremen José Antonio Kast, vorausgesagt hatten.

Und es ist auch nicht so, dass die Regierung nicht schon große Probleme bewältigt hätte: Es gab Arbeitsniederlegungen in der Bergbauindustrie, die die wichtigste Devisenquelle des Landes ist, und bei den Lastwagenfahrern, die die Straßen lahmgelegt haben. Durch Verhandlungen und Dia­log konnten beide Streiks beendet werden. In den großen Medien und in den sozialen Netzwerken wurde das „Einknicken“ der Regierung, die sich den Streikenden nicht entgegenstellte, scharf kritisiert. Doch dank der Verhandlungen, bei denen zwei Gewerkschaften zusätzliche Verbesserungen durchgesetzt haben, konnte die Krise entschärft werden.

Aber die Wiederherstellung von Normalität ist eben keine Nachricht. Ich finde das unfair.

Vielleicht liegt es daran, dass ich in Ländern wie Argentinien und Spanien gelebt habe, wo die Stimmung aufgrund der mangelnden Dialogbereitschaft der politischen Führung grundsätzlich angespannt ist: Jedenfalls nehme ich in Chile derzeit eine neue Art der Gelassenheit wahr, eine Erleichterung darüber, dass man jetzt eine Regierung hat, die vielleicht keine schnelle Lösung für die vielen Brandherde hat, aber auch nicht versucht, diese mit Benzin zu löschen.

Anfang November trug Tomás Moschiat­ti, der Besitzer und Chefkommentator des meistgehörten Radiosenders Bío Bío in seiner Morgensendung mit der Stimme eines Tragöden vor, dass die Chilenen in einer Meinungsumfrage kürzlich die Unsicherheit als ihr größtes Problem ansähen. Ja, sie fühlten sich unmittelbar davon be­troffen.

Dabei habe die Kriminalität nach offiziellen Zahlen doch gar nicht zugenommen, flötete Moschiatti. Es gebe auch keinen Anstieg bei Raubüberfällen oder Morden. Wie sei dann aber dieses Umfrageergebnis zu erklären, lautete seine rhetorische Frage.

Als ich das im Radio hörte, schnaubte ich vor Wut: Die Antwort auf diesen scheinbaren Widerspruch liegt natürlich bei dem Sender selbst. Ständig berichtet er über Raub, Mord und Totschlag und behauptet, das Justizsystem sei eine Drehtür, durch das die Verbrecher gleich wieder auf die Bürger losgelassen würden.

Ein Bericht des Forschungsinstituts Paz Ciudadana (Bürgerfrieden) vom November 2022, den das an der Panikmache unbeteiligte Radio Universidad de Chile verbreitet hat, bestätigt: Die Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden, ist in diesem Jahr um 7,6 Prozentpunkte gestiegen und hat landesweit 28 Prozent erreicht: Das ist der höchste Wert seit 22 Jahren. Paradoxerweise blieb die von der Stiftung gemessene Zahl der Opfer (Diebstahlsdelikte) mit 32 Prozent dagegen auf dem niedrigsten Stand seit 15 Jahren.

Den anhaltenden Rückgang von Straftaten wertet Paz Ciudadana zwar als gute Nachricht, aber das Institut warnt auch, dass die Kriminalität eine neue Qualität erreicht habe. So gebe es mehr organisierte Kriminalität, die wiederum mehr Gewaltdelikte verursacht. Und diese Entwicklung habe das Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung massiv verstärkt.

Leider gibt es zu den Sendern der großen Medienkonzerne kein entsprechendes mediales Gegengewicht, das die Vision und die Pläne der Linken ernsthaft darstellen und denen eine Stimme geben würde, die einen anderen Weg gehen wollen. Wenn Regierungsmitglieder interviewt werden, geschieht dies häufig in einem extrem aggressiven Tonfall, insbesondere in TV-Talkshows. Da muss man sehr viel Geduld und Besonnenheit aufbringen und einen kühlen Kopf bewahren – so wie Camila Vallejo.

Ja, 2023 wird ein hartes Jahr. Der neue Verfassungskonvent wird unter der Leitung der neuen Experten arbeiten. Hinzu kommen die Rezession in der gesamten Region, die Ebbe in der Staatskasse, die angespannte weltpolitische Lage. Zusätzlich wird die Regierung noch von der Oppositionsmehrheit im Parlament ausgebremst.

Trotz allem hält sie sich wacker. Und wenn man aufhört, dem Katas­trophismus der meisten Medien zu lauschen, kann man auf den Straßen und in der U-Bahn die Geräusche eines Landes vernehmen, das funktioniert – dank der ehrlichen, zähen Arbeit der ganz normalen Chilen:innen. Es gibt keine großen Erwartungen, aber es wird gewartet, und das ist in diesem Land und zu dieser Zeit schon etwas.

Kürzlich habe ich das letzte Konzert von Joan Manuel Serrat in Santiago besucht. Als Präsident Boric die Arena betrat, gab es Beifall und Jubel aus allen Ecken und Enden der riesigen Movi­star-­Arena.

Ja, ich weiß: Es war das Publikum von Serrat. Aber trotzdem.

1 Siehe Víctor de la Fuente und Libio Pérez, „Für eine bessere Demokratie“, LMd, September 2022.

2 „El Senado chileno rechaza a José Morales como nue­vo Fiscal Nacional“, Efe, 30. November 2022.

3 „Chile aprueba comisión que redactará borrador de nue­va Constitución que reemplace a la de Pinochet“, AFP, 25. Januar 2023.

4 Rocío Montes, „El Banco Central chileno proyecta recesión para 2023 y una inflación mayor a la esperada“, El País, Madrid, 7. Dezember 2022.

5 Über das Modell Piñera siehe Sandra Weiss, „Die Wut der chilenischen Rentner“, LMd, Januar 2018.

6 Siehe zu den Demos 2019 unter anderem Franck Gaudichaud, „Aufstand der Frauen“, LMd, Mai 2019.

Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold

Roberto Herrscher ist ein argentinischer Autor und Journalist, Dozent für literarischen Journalismus an der Universidad Alberto Hurtado in Chile.

© LMd, Uruguay

Le Monde diplomatique vom 09.02.2023, von Roberto Herrscher