Offiziell neutral
Algerien und Marokko möchten es sich mit keiner Seite verscherzen
von Akram Belkaïd
Am 7. November 2022 kündigte Algerien offiziell an, dass man die Mitgliedschaft in der Brics-Gruppe beantragen werde. Die Brics-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika repräsentieren zusammen rund ein Drittel des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP). Algeriens Präsident Abdelmadjid Tebboune hatte bereits im vergangenen Juli über einen möglichen Beitritt gesprochen. An die Aufnahme Algeriens, die Moskau und Peking bereits befürwortet haben, knüpft Tebboune die Hoffnung, dass sein Land „als Pionier des Prinzips der Blockfreiheit davor bewahrt wird, zwischen den Polen zerrieben zu werden“.
Jenseits der wirtschaftlichen Gründe für die Bewerbung – die nicht alle Experten in Algier überzeugend finden – ist auch der gewählte Zeitpunkt bedeutsam. Der Antrag fügt sich erkennbar in eine außenpolitische Strategie, mit der Algerien die aufgrund des russischen Einmarschs in die Ukraine entstandene Krise für sich nutzen will.
Offiziell ist Algerien in diesem Konflikt neutral, getreu dem Prinzip der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Länder. Doch diese Position ist in Wahrheit weniger distanziert; sie zielt vielmehr auf eine noch stärkere Annäherung an den Partner Russland. Seit März 2022 hat sich Algier bei allen Voten über UN-Resolutionen, die direkt gegen Russland gerichtet waren, der Stimme enthalten. Und als es am 8. April um den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat ging, stimmte man sogar dagegen.
Unter vier Augen versichern algerische Diplomaten, die Enthaltungen bedeuteten nicht, „dass wir Russland blind unterstützen“ – wie es Nordkorea, Syrien, Belarus und Eritrea tun, die prinzipiell bei allen gegen Moskau gerichteten Resolutionen mit Nein stimmen. Allerdings weigert sich Algier auch, Russland zu verurteilen, was aber für viele afrikanische Regierungen gilt (siehe den nebenstehenden Text).
Im Mai 2022 haben Moskau und Algier die strategische Zusammenarbeit, die Wladimir Putin und Abdelaziz Bouteflika 2001 verabredet hatten, um weitere 20 Jahre verlängert. Am engsten sind die Beziehungen auf militärischem Gebiet. Algerien hat seine Rüstungsgüter früher vorwiegend aus der Sowjetunion und später aus Russland bezogen. 2021 bezog man Waffenlieferungen im Wert von 7 Milliarden Dollar. Damit ist Algerien nach Indien und China der drittgrößte Kunde der russischer Rüstungsindustrie.
Die militärische Kooperation hat sich 2022 weiter intensiviert, als man russische Rüstungsgüter im Wert von 11 Milliarden Dollar bezog. Ein Großteil der Summe ist für die 16 Suchoi-SU-57-Kampfflugzeuge, die Algeriens veraltete Mig-29-Flotte ersetzen soll. Solche großen Aufrüstungsprogramme sollen die eigene Position im angespannten Verhältnis mit dem Nachbarn und Rivalen Marokko stärken.1
Zu einer Zeit, da der Westen die Ukraine im Kampf gegen die russische Armee mit Waffen versorgt, halten Algerien und Russland immer mehr gemeinsam Militärmanöver ab. Im September 2022 nahmen algerische Soldaten an der Übung „Wostok 2022“ in Sibirien teil. Einen Monat später gingen im Hafen von Algier russische Kriegsschiffe vor Anker. Und im November fand unweit der Grenze zu Marokko eine Militärübung namens „Wüstenschild“ statt, in der die algerische Infanterie und russische Spezialkräfte unter anderem „das Aufspüren und Eliminieren von Terrorgruppen“ trainierten.
Dem Westen ist das enge algerisch-russische Verhältnis natürlich ein Dorn im Auge. Seit den ersten Kriegswochen reisten mehrere hochrangige Politiker – unter anderem US-Außenminister Antony Blinken (30. März) und der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian (13. April) – nach Algier und versuchten, das Land zu einem Sinneswandel zu bewegen.2
Im November wurde EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von 17 Europaabgeordneten in einem Brief aufgefordert, das 2005 unterzeichnete Assoziierungsabkommen zwischen Algerien und der EU zu revidieren. Die enge militärische Kooperation zwischen Algerien und Russland sowie Algiers Enthaltungen bei den UN seien ein Grund zu „tiefer Besorgnis“.3
Auch in den USA werden Konsequenzen gefordert. Im September riefen 27 demokratische und republikanische Kongressmitglieder – unter ihnen Senator Marco Rubio, ein potenzieller republikanische Präsidentschaftskandidat – die Biden-Regierung dazu auf, Algerien wegen seiner Waffenkäufe in Russland mit Sanktionen zu belegen.
In Algier zeigt man sich davon wenig beeindruckt: „Die westlichen Regierungsvertreter, die Algier besuchen, reden mit uns natürlich über die Ukraine, aber sie haben auch die Energieversorgung im Sinn“, sagt ein algerischer Diplomat. „Das eröffnet die Möglichkeit, einen Ausgleich zu finden zwischen unseren Interessen im Sicherheitsbereich und der Absicht des Westens, uns in einen Konflikt hineinzuziehen, der uns nicht betrifft.“
Algeriens entscheidender Trumpf ist dabei, dass es einen Teil des Erdöls und Erdgases liefern kann, das die EU nicht mehr von Russland beziehen will. Als Erstes hat Italien die Initiative ergriffen und Ende Juli 2022 eine Vereinbarung unterzeichnet, die den Import algerischen Erdgases via Pipeline sichert. Danach machten sich auch französische, spanische und deutsche Emissäre nach Algier auf, um sich erhöhte Energieimporte für ihre Länder zu sichern.
Im Oktober bot die EU-Energiekommissarin Kadri Simson der algerischen Regierung eine „langfristige strategische Partnerschaft“ an. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass Algerien und die EU sich noch Ende der 2000er Jahre über die Gasfrage zerstritten haben. Damals hatte es Brüssel abgelehnt, für die Weiterführung der Importe eine langfristige Preisfestlegung anzubieten – mit dem Argument, es gelte die Mechanismen des Markts zu respektieren.
Sandfarbene Panzer in Tschechien
Auch Marokko beteuert offiziell seine Neutralität im Ukraine-Konflikt. Das Königreich steht dem Westen sehr viel näher als sein algerischer Nachbar, erregte zu Beginn des Kriegs jedoch Aufsehen, als es in der UNO den Abstimmungen über die diversen Resolutionen gegen Russland fernblieb. Die marokkanische Regierung ließ lediglich verlauten, man lege „großen Wert auf die Wahrung der territorialen Integrität, Souveränität und nationalen Einheit aller UN-Mitgliedstaaten“.
In vielerlei Hinsicht setzen die beiden mächtigsten Maghreb-Staaten auf dasselbe Kalkül – allerdings von unterschiedlichen Ausgangspunkten. Algerien will es sich bei aller Nähe zu Russland nicht mit dem Westen verderben, weshalb sie diesen an seinen Energievorkommen teilhaben lässt. Marokko hingegen, eins alter Verbündeter der Europäer und der USA, ist darauf bedacht, Russland nicht zu verprellen.
Marokkos Politik wird vor allem von zwei Erwägungen bestimmt. Die erste ist eine ökonomische. Das Königreich ist Moskaus wichtigster Handelspartner in Afrika (wenn man Rüstungsgüter außer Acht lässt). 2021 wuchs das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern um 42 Prozent. Marokkos importiert für seine Landwirtschaft, von der es ökonomisch noch stark abhängig ist, viele organische und mineralische Düngemittel aus Russland; daneben vor allem Metalle, die es für seine Autoindustrie benötigt. Das Königreich kann Russland nicht vergrätzen, ohne sich wirtschaftlich massiv zu schaden.
Der zweite Grund ist strategischer Natur. Marokko will nicht, dass sich Russland in der Westsahara-Frage voll auf die Seite Algeriens schlägt. Rabat beansprucht das Gebiet der früheren spanischen Kolonie für sich, während Algier fordert, das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis zu respektieren, und die Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario unterstützt..
Russland vertritt trotz seiner Nähe zu Algerien eine mittlere Position, mit der Rabat leben kann. Offiziell unterstützt es zwar den von den UN moderierten Friedensprozess und das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis, russische Diplomaten haben die Konfliktparteien allerdings mehrfach ermahnt, an den Verhandlungstisch zu kommen, um eine „friedliche Lösung“ zu erzielen. Als im Oktober 2022 im UN-Sicherheitsrat über die einjährige Verlängerung der Minurso-Mission in der Westsahara abgestimmt wurde, enthielt sich Russland erneut wie schon in allen entsprechenden Abstimmungen seit 2018.
Rabat will diese „mittlere“ Position Moskaus schon deshalb nicht gefährden, weil man sich bewusst ist, dass Russland trotz aller Sanktionen wegen des Angriffs auf die Ukraine Mitglied des UN-Sicherheitsrats bleiben wird.
Im Hinblick auf den kalten Frieden, der 2021 im Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Algerien und Marokko gipfelte, gibt sich Moskau als ehrlicher Makler, dem beide Seiten vertrauen können. Für Algier ist die enge militärische Kooperation mit Russland auch deshalb sinnvoll, weil sie den Beistand Moskaus garantiert, falls Marokko seinen Nachbarn angreift – und zwar womöglich mit der Unterstützung von Tel Aviv, nachdem Rabat dem Abraham-Abkommen mit Israel beigetreten ist.
Diese Befürchtung eines solchen Angriffs wird in Algier noch ernster genommen, seit Marokko und Israel im November 2021 ihre militärische Zusammenarbeit ausgeweitet haben. Bei einem offiziellen Besuch in Casablanca am 12. August 2021 erklärte sich der israelische Außenminister Jair Lapid „beunruhigt angesichts der Rolle, die Algerien in der Region spielt, angesichts seiner Annäherung an Iran und seine Kampagne gegen die Zulassung Israels als Beobachter in der Afrikanischen Union.“
Rabat bestreitet jegliche Angriffsabsicht gegen den Nachbarn und sieht dabei in Russland den einzigen Akteur, der in der Lage ist, mäßigend auf Algerien einzuwirken. Ein hochrangiger marokkanischer Diplomat betont, dass Russland nichts gegen die Normalisierung der Beziehungen zwischen den arabischen Ländern und Israel habe, da es ja selbst gute Beziehungen zu Tel Aviv pflege.
Für Marokko wiederum ist es wichtig, den Kreml nicht zu provozieren. Deshalb darf es nicht den Eindruck erwecken, als würde es den Forderungen aus Washington und Europa vollständig nachgeben. Ausgesprochen heikel ist für Rabat deshalb ein Bericht, der am 22. Januar auf der algerischen Website Menadefense veröffentlicht wurde. Darin hieß es, Marokko habe der Ukraine eine unbestimmte Zahl von T72-Kampfpanzern überlassen.4
Laut Menadefense war die Entscheidung über die Lieferung bereits im April auf einem Treffen der Ukraine-Unterstützer in Ramstein gefallen. Dort hatten die USA allen Staaten, die schwere Waffen sowjetisch-russischer Bauart an die Ukraine liefern, Finanz- und Rüstungshilfen versprochen. Marokko hatte in den frühen 2000er Jahren mehrere hundert T72-Panzer gebraucht von Belarus gekauft.
Menadefense illustrierte seinen Text mit Fotos, die den Besuch des tschechischen Regierungschefs Petr Fiala Anfang Januar bei dem Unternehmen Excalibur zeigt, das mit der Modernisierung der Panzer beauftragt ist. Die auf den Fotos abgebildeten T72 haben teils eine sandfarbene, also marokkanische Lackierung. Das tschechische Newsportal Novincy hatte bereits Anfang Dezember berichtet, Excalibur sei mit der Modernisierung von bis zu 120 Panzern „aus einem afrikanischen Land“ beschäftigt.5
Sollte Marokko tatsächlich Panzer an die Ukraine geliefert haben, wäre dies eine schwere diplomatische Niederlage für Russland. Dann hätte erstmals ein afrikanisches Land die Ukraine mit schweren Waffen versorgt.
Ungeachtet der offiziellen Neutralitätsbekundungen in Algier und Rabat herrscht in der Bevölkerung beider Länder eine ausgeprägt prorussische Stimmung. Quer durch die sozialen Schichten wird Putin zwar nicht als Held, aber doch als Staatsmann wahrgenommen, der sich einem Diktat nicht beugt. Dabei wird die brutale Invasion der Ukraine häufig beklagt – vor allem als Ursache der vielen Preissteigerungen – und mitunter sogar verurteilt. Aber dann gewinnt doch sehr schnell die Kritik an der Rolle der Nato wieder die Oberhand.
Der Golfkrieg von 1991 und das von den USA nie eingelöste Versprechen einer „neuen internationalen Ordnung“, die nicht begründbare und auf Lügen aufgebaute Invasion des Irak 2003 und die Bombenangriffe auf Libyen 2011, die mit dem Sturz des Regimes von Muammar al-Gaddafi endeten, sind in der allgemeinen Erinnerung geblieben. Diese Ereignisse kommen in den TV-Debatten, in den sozialen Medien und sogar in Zeitungsartikeln zur Sprache, wann immer es um völkerrechtliche Fragen oder internationale Gerechtigkeit geht.
Die Ukraine hat im Maghreb und in der arabischen Welt insgesamt zu wenig Einfluss, um in dieser Region Sympathiepunkte zu sammeln. Und die mediale Omnipräsenz Wolodimir Selenskis und neuerdings auch seiner Frau erweist sich eher als kontraproduktiv. Und dass der ukrainische Präsident im Westen genau von denen geliebt wird, die einst die US-Invasion im Irak begrüßt haben oder Israel leidenschaftlich unterstützen, macht ihn in den Augen vieler algerischer und marokkanischer Intellektueller nur verdächtig.
Als Selenski vom Time Magazine zur „Person des Jahres“ ernannt wurde, gab es in den sozialen Medien höhnische Kommentare, die damit seine Unterwürfigkeit gegenüber der Nato und den USA bestätigt sahen. Seit dem 24. Februar 2022 hatte kein hochrangiger algerischer oder marokkanischer Regierungsvertreter direkten Kontakt mit dem ukrainischen Präsidenten.
1 Siehe Lakhdar Benchiba und Omar-Lotfi Lahlou, „Kriegsgefahr im Maghreb“, LMd, Januar 2022.
2 „Maghreb-Ukraine. L’Algérie et le Maroc refusent de choisir“, Orient XXI, 19. Mai 2022.
3 „Russie-Ukraine: des eurodéputés veulent sanctionner Alger“, Jeune Afrique, 22. November 2022.
4 „Le Maroc offre ses chars à l’Ukraine“, Menadefense, 22. Januar 2023.
5 „Každý čtvrtý den tank pro Ukrajinu“, novinky.cz, 5. Dezember 2022.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld