Die Hindu- Internationale
Die indischen Hindutva-Ideologen verfügen über ein dichtes globales Netzwerk. Vor allem in der anglophonen Diaspora sorgen Mäzene und deren Stiftungen für die Verbreitung ihrer rassistischen Lehren. Zur Tarnung agieren sie offiziell häufig als karitative oder Kulturvereine.
von Ingrid Therwath
Mitte September kam es im britischen Leicester zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Hindus und Muslimen. Auf der Suche nach den Ursachen stieß eine BBC-Recherche auf 200 000 Tweets, die im Vorfeld abgesetzt worden waren. Die Hälfte konnte sie Usern aus Indien zuordnen, die oft sehr viele Konten gleichzeitig verwalten und ganz offensichtlich Anhänger der Hindutva sind.1
Der Begriff Hindutva (Hindutum) wurde 1923 von Vinayak Damodar (genannt Veer) Savarkar (1883–1966) geprägt, dem geistigen Urheber der hindu-nationalistischen Ideologie. Sein Buch mit dem gleichnamigen Titel ist bis heute so etwas wie die Bibel des radikal-hinduistischen Freiwilligenkorps Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS). Gegründet wurde das RSS 1925 nach dem Vorbild von Mussolinis Fasci italiani di combattimento. Die Anhänger der militanten Organisation kamen aus allen Bevölkerungsschichten.
Zweimal wurde das RSS verboten: 1948 nach der Ermordung von Mahatma Gandhi (Savarkar soll in die Planung verwickelt gewesen sein) und 1975 bis 1977 während des von Indira Gandhi verhängten Ausnahmezustands. Nach dem zweiten Verbot beschlossen die Anführer, die Kontakte zur Diaspora systematisch auszubauen. In Großbritannien gründeten Sympathisanten 1976 die Friends of India Society International (Fisi). Die Organisation, die dazu beitragen soll, die Hindutva-Ideologie zu verbreiten, ist bis heute in Großbritannien und auf dem europäischen Festland aktiv, vor allem in Paris.
Aus dem RSS heraus wurde auch die Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei) gegründet. Der RSS-Kader Narendra Modi führte die BJP 2014 zur Macht und wurde 2019 für weitere fünf Jahre gewählt. Modi beruft sich auf die Hindutva für sein ethnonationalistisches politisches Projekt, in dem es weder um die Religion noch um Riten oder philosophische Schulen geht, sondern um Bevölkerung und Territorium.
Für die Hindutva-Anhänger ist Indien ein Hindu-Staat, und alle Hindus können sich als Inder betrachten, auch wenn sie nicht im Land leben. Nichthindus sind bestenfalls Gäste, schlimmstenfalls Invasoren, weshalb sie identifiziert, kontrolliert, entrechtet, gar vertrieben werden sollen.2 Die religiösen Minderheiten, vor allem Muslime (13 Prozent der Bevölkerung) und Christen (2,3 Prozent) sind die Hauptopfer dieser Ideologie, aber auch die Dalit (die „Unberührbaren“), die indigenen Adivasi und Frauen, egal ob Hindu oder nicht.
Die Hindu-Nationalisten sind gegen gemischte Ehen und warnen vor dem sogenannten Love Jihad: Hindufrauen heiraten Muslime und bekommen Kinder, die Muslime werden. Die paranoide Fantasie, die Mehrheit der Bevölkerung werde von einer vor allem muslimischen Minderheit beherrscht, führt immer wieder zu wüsten Kampagnen und Angriffen.
Im Ausland leistet die Diaspora – immerhin 30 Millionen Menschen in 110 Ländern – massive politische und vor allem finanzielle Unterstützung für das globale Netzwerk Sangh Parivar. Es vereint alle Organisationen, die sich auf die Hindutva berufen.3 Das RSS hatte schnell verstanden, dass es sich anpassen musste, um zu expandieren und indische Expats zu gewinnen, unter denen es viele IT-Spezialisten gibt. So wurde 1996 das Global Hindu Electronic Network (GHEN) gegründet. Die RSS-Mitglieder sind in den sozialen Medien äußerst aktiv und veranstalten häufig große virtuelle Meetings.
Die Investigativjournalistin Swati Chaturvedi hat sich undercover in die „geheime Welt der digitalen Armee des BJP“ eingeschlichen und öffentlich gemacht, dass es in Indien wie im Ausland Trollbrigaden und Bots im Dienste des BJP gibt.4 Laut dem französischen Außenministerium existiert eine „Abteilung für Informationstechnologien“ im BJP-Apparat, die gezielt Cybermobbing gegen kritische Stimmen betreibt.5 Ihre Propaganda und Einschüchterungsversuche richten sich vor allem gegen religiöse Minderheiten, Frauen (besonders, wenn sie zu unteren Kasten oder religiösen Minderheiten gehören oder lesbisch sind) und Journalist:innen. Die Trolle nutzen auf Twitter Hashtags wie „sickular“ (aus sick und secular) oder „presstitute“ (press und prostitute, ähnlich verwendet wie „Lügenpresse“).
Es ist nicht mit Ideologie allein zu erklären, dass Menschen, die am anderen Ende der Welt leben, Denk- und Handlungsweisen aus Indien importieren. Die Diaspora ist vor allem eine wichtige Finanzquelle für Sangh Parivar und ein einflussreicher Multiplikator. Im Gegenzug unterstützt das Netzwerk Auslandsinder:innen.
Nach zwei schlimmen Ereignissen im Bundesstaat Gujarat – einem schweren Erdbeben im Januar 2001 und antimuslimischen Pogromen im Februar 2002 – flossen beträchtliche Spenden in Dollar und Pfund nach Indien. Sie wurden vor allem dazu benutzt, sogenannte Hindutva-Schulen zu bauen. Der Plan war, die Stammesgemeinschaften zu „rehinduisieren“ und den Bau eines Tempels für den Gott Rama in der Stadt Ayodhya in Uttar Pradesh zu finanzieren, wo Hindu-Nationalisten 1992 eine Moschee zerstört hatten.
Bots und Troll-Brigaden in Modis Diensten
In den Jahren 2002 und 2004 berichteten zwei NGOs, Awaaz South Asia Watch und die auf säkulare Erziehung zur Toleranz spezialisierte Sabrang Communications, sowie eine britische Fernsehreportage auf Channel 4 über das illegale Finanzierungssystem durch die Diaspora.6 Die Offenlegung der strukturellen, hierarchischen und personellen Verbindungen zwischen der anglofonen Diaspora und den hindu-nationalistischen Organisationen sorgten in Indien, in den USA und in Großbritannien für einiges Aufsehen.
Bis heute ist der 1989 gegründete Indian development and relief found (IDRF) mit Sitz in Maryland, USA, der für das Sangh Parivar Spenden sammelt und überweist, als gemeinnützige, karitative Nonprofitorganisation ohne politische und religiöse Zielsetzungen registriert. Die Stiftung umfasst 75 Organisationen, von denen 60 als Ableger des Sangh Parivar identifiziert werden können. Offiziell hat der IDRF zwischen 1995 und 2002 mehr als 5 Millionen Dollar an 184 Vereine verteilt, aber 80 Prozent der Spenden gingen an Organisationen des Sangh Parivar – was die Behauptung der Neutralität widerlegt. „Seit seiner Gründung 1989 hat sich der IDRF systematisch zu einem wesentlichen Akteur der vom RSS organisierten Sammlungsaktionen im Ausland entwickelt“, heißt es im Sabrang-Bericht.
Gleiches gilt für die karitative Organisation Sewa International. Laut dem Bericht von 2004 hat sie nach dem Erdbeben von Gujarat Spenden von mindestens 2,3 Millionen britischen Pfund gesammelt. Mehr als drei Viertel dieser Summe (1,9 Millionen) gingen an Sewa Bharati Gujarat. Obwohl das Geld für den Aufbau zerstörter Dörfer gesammelt worden war, wurde ein Drittel davon für den Bau von Hindutva-Schulen verwendet, und zwar vorwiegend in Gebieten, wo Indigene leben.
Im Bericht heißt es, Sewa habe „eine Gruppe der RSS finanziert, die direkt an der gewaltsamen religiösen Säuberung eines Dorfes in Gujarat beteiligt war und für die illegale Besetzung von Ländereien verantwortlich ist, die von Rechts wegen Muslimen gehören.“
Verschiedene Forscher befassen sich mit diesen Netzwerken, darunter Vijay Prashad, der schon 2002 von „Yankee Hindutva“7 sprach, oder Thomas Blom Hansen, der die Rolle der Vishwa Hindu Parishad (VHP, religiöser Arm der RSS) in Südafrika untersucht hat.8 Die französische Anthropologin Aminah Mohammad-Arif hat den Aufstieg der VHP in den USA dokumentiert.9 Dennoch ist die weltweite Struktur der Bruderschaft noch weitgehend unbekannt. Sie hat auf jeden Fall reiche Mäzene. In den USA haben in den letzten Jahren zum Beispiel das Ehepaar Subhash und Sarojini Gupta und der Präsident der Sangh-Parivar-Organisation Hindu Swayamsevak Sangh (HSS), Ramesh Bhutada zusammen mit seinem Sohn Rishi über ihre Stiftungen jeweils über 1 Million Dollar an Pro-Hindutva-Organisationen gespendet.10
Damit festigen sie ihre Position in ihrer lokalen Gemeinschaft, bekommen politisches Gewicht (prorepublikanisch in den USA, konservativ in Großbritannien) und knüpfen Kontakte nach Indien, die ihnen materielle wie symbolische Vorteile verschaffen. 2022 enthüllte ein Bericht des Informationsportals South Asia Citizens Wire,11 dass 24 Organisationen in den USA– karitative Vereine, Denkfabriken, Organisationen für Hochschulbildung – mit einem Vermögen von zusammen fast 1 Milliarde Dollar – enge Verbindungen mit dem Sangh Parivar in Indien unterhalten und in den USA vor allem im Bildungswesen die Hindutva-Ideologie verbreiten.
Das gleiche Szenario zeigt sich in Großbritannien. Dort stößt man auf einflussreiche Unternehmer und Großspender wie den Anwalt und Geschäftsmann Manoj Ladwa oder die Brüder Srichand und Gopichand Hinduja, Präsident und Vizepräsident des international operierenden Mischkonzerns Hinduja Group: wohlhabende, gebildete Hindus aus hohen Kasten, die Einfluss auf die lokalen Behörden nehmen und in den Diaspora-Vereinen das Sagen haben. Die Rekrutierung und Förderung einer bestimmten Elite läuft außerdem über Hindutva-Studentenorganisationen.
In den meisten westlichen Ländern ist es verboten, finanziell oder auf jede andere Art zu politischen Aktivitäten im Ausland beizutragen, wenn diese zu Menschenrechtsverletzungen führen, wie es beim RSS und dessen Unterorganisationen in Indien der Fall ist. Deshalb versteckt sich das Sangh-Parivar-Netzwerk im Ausland hinter harmlos klingenden Attributen.
Vor allem in den USA sind inzwischen Forderungen laut geworden, das Netzwerk zu überwachen. Manche verlangen die Einstufung als terroristische Organisation; doch die Verteidiger der Hindutva geben sich den Anstrich, als ganz normale Kultur- und Hilfsvereine Teil des Multikulturalismus zu sein. Auf diese Weise gewinnen sie Hindus, die sich für genau solche Aktivitäten interessieren. Nach Möglichkeit vermeiden sie es, die Aufmerksamkeit der Steuer- und anderer Behörden auf sich zu ziehen.
Im August 2022 beendete der aktuelle RSS-Chef (Sarsanghchalak) Mohan Bhagwat ein weltweites Sympathisantentreffen in Bhopal mit einem Appell an die Diaspora: „Arbeitet, damit Indien gedeiht. Macht es zu einem ‚vishwa guru‘, einem Vorbild für die Welt.“12
1 „Did misinformation fan the flames in Leicester?“, BBC, 25. September 2022.
2 Vgl. Pierre Daum, „Wer darf Inder sein in Assam?“, LMd, März 2020.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Ingrid Therwath ist Journalistin.