09.02.2023

Importierter Religionskampf

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Importierter Religionskampf

Im englischen Leicester kommen Hindus und Muslime immer weniger miteinander aus

von Lou-Eve Popper

Belgrave Road ANDREW FOX/Alamy Stock Foto
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Auf der Belgrave Road, wegen ihrer vielen Juwelierläden auch The Golden Mile genannt, hängen leuchtende Girlanden in Form von Öllampen. Hier im Viertel Belgrave von Leicester in den englischen Midlands wird am 24. Oktober das hinduistische Lichterfest Diwali gefeiert.

Doch irgendetwas stimmt hier nicht. Früher war die Belgrave Road zu Diwali voller Menschen, die traditionell Schmuck einkauften. Heute bleibt sie traurig leer. Die Stadtverwaltung hat Polizeihundertschaften geschickt, damit der Abend ruhig verläuft. „Normalerweise kommen sogar Familien aus Birmingham zum Shoppen her. Heute ist nichts los“, seufzt der Eigentümer eines Sari-Geschäfts. „Die Leute haben Angst“, bestätigt der Inhaber einer benachbarten Modeboutique.

Drei Wochen zuvor hatte es in Leices­ter gewalttätige Zusammenstöße zwischen Hindus und Muslimen gegeben. Am Abend des 17. September marschierten an die 200 maskierte Männer, einige bewaffnet, durch die Einkaufsstraße Green Lane Road mitten im muslimischen Viertel. Sie riefen „Jai Shri Ram“ („Sieg dem Gott Rama“) – eine Losung, die fundamentalistische Hindus in Indien seit einigen Jahren als Schlachtruf benutzen, wenn sie gewaltsam gegen die muslimische Minderheit vorgehen.

„In Leicester stammen die meisten Muslime aus Indien, und sie wissen genau, was dort derzeit geschieht. Sie hatten Angst um ihr Leben“, sagt Sharmen Rahman, Labour-Stadträtin in Stoneygate, einem mehrheitlich muslimischen Bezirk im Osten der Stadt.

An diesem 17. September ließen die Ladenbesitzer auf der Green Lane Road eilig die Rollläden herunter. „Am nächsten Tag habe ich nur für Stammkunden aufgemacht. Ich hatte Angst, dass sie uns wieder bedrohen“, berichtet die Inhaberin eines kleinen Ladens für islamische Kleidung. Als Reaktion organisierten muslimische Gruppen einen Protestmarsch und skandierten ihrerseits „Allahu Akbar“.

Am selben Wochenende wurde die religiöse Fahne eines Hindu­tempels heruntergerissen und eine andere vor laufender Kamera verbrannt. Es kam zu Schlägereien und Flaschenwürfen, Autos wurden demoliert. Binnen kürzester Zeit eskalierte die Si­tua­tion. Die Ordnungskräfte wirkten zunächst überfordert. Viele Po­li­zis­t:in­nen waren für die Beisetzung von Königin Elisabeth II. nach London abgestellt worden.

Gerüchte auf Social Media brachten das Pulverfass zum Explodieren. Am Morgen des 18. September fand der Betreiber einer Autowaschanlage am Anfang der Golden Mile Tränengaskartuschen vor seiner Einfahrt. Die seien am Vortag abgefeuert worden, „um die Muslime daran zu hindern, in unser Viertel zu kommen“, erklärt der Mann erschüttert.

Die Brutalität der Auseinandersetzungen ist erschreckend für viele der 370 000 Einwohner Leicesters. Die Stadt war lange Zeit ein Vorbild für den gesellschaftlichen Zusammenhalt über Konfessionsgrenzen hinweg. Laut Volkszählung von 2021 gibt es 23 Prozent Muslime und 17 Prozent Hindus. Die Stadt hat eine der größten asiatischen Communitys des Landes, die meisten Menschen sind indischer Abstammung, eine Diaspora, die in den 1950er Jahren aus dem Pandschab und ab Mitte der 1960er Jahre auch aus Ostafrika eingewandert ist. Viele dieser Familien stammten ursprünglich aus dem indischen Bundesstaat Gujarat und hatten sich in den britischen Kolonien von Kenia, Tansania und Uganda niedergelassen; mit der Unabhängigkeit mussten sie diese Länder verlassen.

Seither schienen Hindus, Muslime und Sikhs in Leicester friedlich zusammenzuleben. „Ich bin Muslim und hatte immer Hindu-Freunde“, versichert der 20-jährige Taxifahrer Amjad. „Früher habe ich in einer Fabrik gearbeitet, 80 Prozent dort waren Hindus, und das war überhaupt kein Problem.“

Die Hindu-Inhaberin eines kleinen Geschäfts für Haushaltsgeräte auf der Golden Mile sagt das Gleiche: „Wir sind seit 30 Jahren hier, aber so etwas haben wir noch nie erlebt. Was diese jungen Leute da tun, ist nicht die Haltung der Hindu-Gemeinschaft.“ Der Bürgermeister von Leicester, Labour-Politiker Peter Soulsby, erklärte am 19. September in der BBC, er sei „entsetzt über diese Gewalt“ in seiner normalerweise „sehr ruhigen“ Stadt.

Doch die Spannungen waren bereits in den Monaten zuvor gewachsen. Im Mai 2022 war ein muslimischer Jugendlicher auf der Straße von mehreren Personen angegriffen worden. Angeblich wegen seines Glaubens, wie seine Mutter erzählte. Am 28. August zogen nach einem Sieg Indiens über Pakistan beim Cricket Gruppen von Hindus durch die Straßen und riefen „Tod für Pakistan“.

Der Slogan ist eine antimuslimische Beleidigung, sagt die Soziologin Fatima Rajina, die zur muslimischen Community in Großbritannien forscht. „In Indien werden die Muslime regelmäßig als Pakistaner, also als Landesverräter beschimpft. Das geschah auch in Leices­ter, wo in Wirklichkeit nur wenige Pakistaner leben.“ Eine Woche später, als das indische und das pakistanische Cricketteam erneut aufeinandertrafen, gewann Pakistan, und es kam erneut zu Angriffen.

Beide Seiten verbreiten ihre jeweils eigene Sicht auf die Ereignisse. Der muslimische Aktivist Majid Freeman behauptet, dass die Polizei monatelang nicht auf islamophobe Angriffe reagiert habe. „Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.“ Freeman wurde vom Guardian und der New York Times zitiert. Die Henry Jackson Society hingegen, ein neokonservativer Thinktank mit Sitz in London, stellt Freemans Integrität infrage und zitiert dessen höhnische Tweets nach dem Attentat auf Salman Rush­die: „Wenn er stirbt, stirbt er halt“ (12. August 2022), „er ist nur ein Symbol für den Hass des Westens auf den Islam“ (13. August). Die konservative Tageszeitung The Telegraph behauptet, Freeman habe in den sozialen Medien auch Falschinformationen über die versuchte Entführung eines muslimischen Mädchens verbreitet.1

Eine Ganesh-Statue in Leicester wurde mit Eiern beworfen, Häuser und Autos demoliert. Anfang September wandten sich mehrere Hindu-Familien an die Polizei, weil sie die muslimische Community als wachsende Bedrohung wahrnahmen. Am 4. Oktober erklärte ein Mann hinduistischen Glaubens in der BBC, er sei extra durch die Green Lane Road im muslimischen Viertel gelaufen, um gegen die wochenlangen Einschüchterungen zu protestieren. „Die Leute trauen sich nicht mehr aus dem Haus, um einzukaufen – wir müssen uns schützen.“

Eines scheint gewiss: Die jüngsten Zusammenstöße in Leicester kommen keineswegs aus heiterem Himmel. „Am Anfang stand die migrantische Community in Leicester gegen Rassismus und Rechtsextremismus fest zusammen, doch seit den 1980er Jahren hat diese Einheit Risse bekommen“, erläutert der emeritierte Politikwissenschaftler Gurharpal Singh. Die reli­giö­sen Spannungen seien importiert. „Eine entscheidende Etappe in diesem Prozess war die Rush­die-­Affä­re. Da haben die Muslime in Großbritannien angefangen, ihren Glauben zu verteidigen.“2

Zwischen 2001 und 2021 ist die muslimische Bevölkerung in Leicester dreimal so schnell gewachsen wie die der Hindus und hat sie zahlenmäßig überholt. Diese Muslime, erklärt Singh, seien vor allem Menschen, die nach den Krawallen zwischen weißen und asiatischstämmigen Jugendlichen zu Beginn der 2000er Jahre aus Nordengland hergezogen sind, Somalis, die vor der Verfolgung in den Niederlanden geflohen sind, und Muslime aus Frankreich. „Sie haben angefangen, Geschäfte im Hindu-Viertel zu kaufen. Das hat für Unfrieden gesorgt, denn die religiösen Communitys leben normalerweise in getrennten Vierteln.“ Dennoch hätten diese Reibereien nie zu größeren Konflikten geführt.

Viele sehen die Schuldigen in Neuankömmlingen aus Daman und Diu an der indischen Westküste. Weil diese Gegend einst portugiesische Kolonie war, besitzen die Leute von dort europäische Pässe. Sie waren vor dem Brexit nach Großbritannien ausgewandert. „Sie sind jung, mit der hiesigen Stadtkultur sind sie wenig vertraut“, beobachtet Singh. Die Situation verschärft sich, weil die Kommune kein Geld mehr für Integrationsprojekte hat.

„In zehn Jahren mussten wir Budgetkürzungen von 150 Millionen Pfund pro Jahr hinnehmen“, bedauert die hinduistische Labour-Stadträtin Rita Patel. „Früher hatten wir Geld, um Englischkurse zu finanzieren, Neuankömmlinge in die Sozialversicherung aufzunehmen und ihnen bei der Arbeitssuche zu helfen. Heute stehen sie allein da.“

Die wirtschaftliche Situation in Leices­ter hat sich in den letzten 30 Jahren auch wegen des Niedergangs der herstellenden Industrie verschlechtert. „Covid hat die Situation zusätzlich verschlimmert, viele Migranten mit ungeklärtem Status sind in Armut geraten und empfänglicher geworden für Manipulation“, berichtet Singh. Diese Meinung teilt auch der muslimische Labour-Stadtrat Kirk Master: „Viele Familien in den Vierteln, in denen es zu Zusammenstößen kam, haben eine geringe Bildung und sind von Arbeitslosigkeit betroffen.“

Die Stadtverwaltung hat eine Studie in Auftrag gegeben, um besser zu verstehen, wer die Unruhestifter genau sind. Fatima Rajina verweist darauf, dass „die Ankömmlinge aus Daman und Diu oft Studierende sind, deren Familien genug Geld haben, um sie nach Großbritannien zu schicken“. Singh hält dagegen, dass diese jungen Leute „unter dem Einfluss der nationalistischen Hindu-Politik aufgewachsen sind“. In Leicester sehen viele das wahre Problem in der ethnonationalistischen Hindutva-Ideologie, die sich zunehmend auch in Großbritannien verbreitet (siehe den nebenstehenden Beitrag von Ingrid Therwath).

In Indien haben sich Premierminister Narendra Modi, seine Bharatiya Janata Party (BJP) und die Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationales Freiwilligenkorps, RSS) der Umsetzung dieser Ideologie verschrieben. Das rechtsextreme RSS gilt als militanter Arm der BJP, in der britischen Diaspora gewinnt sie zunehmend an Einfluss. In Leices­ter „haben wir es viel zu lange vermieden, darüber zu sprechen, das fliegt uns jetzt um die Ohren“, meint die Labour-Politikerin Rahman.

Eine Untersuchung der BBC ergab, dass in den Wochen vor den Auseinandersetzungen hunderttausende Tweets abgesetzt wurden, die zur Hälfte aus Indien kamen und in denen behauptet wurde, in Leicester würden Muslime Hindus bedrohen.3 Zur Verbreitung der Hindutva-Ideologie tragen auch manche karitativen und religiösen Organisationen bei. Für den 20. September 2022 hatte die indische Predigerin und Hindutva-Aktivistin Sadhvi Ritambhara angekündigt, einen Tempel im Birmingham zu besuchen. Dutzende junge Muslime versammelten sich, um dagegen zu protestieren.

Über die Ereignisse vom 17. September schriebt Charlotte Littlewood in ihrem Bericht für die (konservative) Henry Jackson Society, dass es bisher keine Beweise für eine Verbindung zwischen den Organisatoren des Marschs vom 17. September und dem RSS gebe. Sie sieht die Verantwortung vor allem bei islamistischen Influencern, denen sie vorwirft, die Spannungen über ihre Social-Media-Kanäle angeheizt zu haben. Damit knüpft sie an das Narrativ der konservativen Lokalpresse und der Tory-Minderheit im Stadtrat an. Diese haben sich den von der Hindu-Community erhobenen Vorwurf zu eigen gemacht, der von der Stadtverwaltung mit der Untersuchung der Vorfälle beauftragte Berichterstatter sei par­teiisch.4

Während innerhalb der britisch-indischen Diaspora die Muslime weiterhin die Labour Party unterstützen, scheinen immer mehr Hindus geneigt, konservativ zu wählen.5 Die muslimische Aktivistin Sajidah Ali erzählt, dass es in Leicester vor den Wahlen 2019 in der Hindu-Community „regelrechte Kampagnen gegen die Labour Party“ gegeben habe, weil dieser unterstellt wird, die Muslime zu unterstützen.

Einige Hindus nehmen Labour auch übel, dass die Partei sich in den 2010er Jahren bemühte, Gesetze gegen die Diskriminierung der Dalit – der „Unberührbaren“ – in Großbritannien einzuführen.6 Dass Labour die Autonomie der Region Kaschmir verteidigt, die der indische Premierminister Modi 2019 aufgehoben hat, könnte eine weitere Erklärung für die zunehmende Entfremdung sein.

Zwar kann die Außenpolitik für die britischen Wähler indischer Abstammung als zweitrangig gelten, doch berühmte Tories wie die frühere Innenministerin Priti Patel unterstützen Modi ganz offen. Der neue britische Premierminister Rishi Sunak, selbst Hindu, ist mit der Tochter des indischen Milliardärs Narayana Murthy verheiratet, Mitbegründer des IT-Unternehmens Infosys und Bewunderer Modis. Ganz oben auf Sunaks Prioritätenliste scheint auch ein großes Handelsabkommen mit Indien zu stehen – seit dem Brexit ist das Land zum strategischen Partner geworden.

1 Aina J. Khan und Mark Brown, „Police call for calm after,serious disorder' breaks out in Leicester“, The Guar­dian, 18. September 2022; Megan Specia, „Ten­sions That Roiled English City Have Roots in India“, The New York Times, 2. Oktober 2022; Patrick Sawer, „Islamist radicals accused Hindus of kidnapping girls to stoke tensions in Leicester“, The Telegraph, 12. November 2022; Charlotte Littlewood, „Hindu-Muslim civil unrest in Leicester:,Hindutva' and the creation of a false narrative“, Henry Jackson Society, 3. November 2022.

2 Siehe auch Wendy Kristianasen, „Ein Modell auf der Kippe“, LMd, Januar 2007.

3 „Did misinformation fan the flames in Leicester?“, BBC News, 25. September 2022.

4 Asha Patel und Sali Shobowale, „Hindu leaders say they will boycott city mayor’s inquiry into east Leicester disorder“, Leicester Mercury, 28. Oktober 2022.

5 Caroline Duckworth, Devesh Kapur und Milan Vaish­nav, „Britain’s new swing voters? A survey of British Indian attitudes“, Carnegie Endowment for Interna­tio­nal Peace, November 2021.

6 Alexia Eychenne, „Die Ungerührten“, LMd, April 2016.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Lou-Eve Popper ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 09.02.2023, von Lou-Eve Popper