Woke zu den Waffen
Über die Moralisierung der US-Außenpolitik
von Christopher Mott
Giuseppe Tomasi di Lampedusa lässt in seinem Romanklassiker „Der Leopard“ eine der Hauptfiguren einen Satz sagen, der gut und gern als Leitmotiv der US-Außenpolitik dienen könnte: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern.“ Während auf der innenpolitischen Bühne in den letzten Jahren der politische Radikalismus eine dominierende Rolle spielte, wurden radikale Positionen auf dem Feld der Außenpolitik problemlos integriert, ohne die hergebrachten Normen und Praktiken zu erschüttern.
Von den späten 1990er bis Ende der 2010er Jahre setzte die etablierte Außenpolitik der liberalen Atlantiker vorzugsweise auf politische Projekte, die auf Regimewechsel abzielten. Der neue Konsens setzt offenbar auf ein Konzept, das man als „culture forming“ bezeichnen kann: also im globalen Maßstab „kulturbildend“ im Sinne westlicher Normen und Sitten zu wirken.
In näherer Zukunft dürfte der Verweis auf die Unterdrückung von Frauen und Minderheiten, oder auf mangelnden Respekt vor selbsterklärten Identitäten oder auf unerwünschte kulturelle Praktiken wie Kinderehe und geschlechtsspezifische Bekleidungsvorschriften als rhetorische Rechtfertigung für Sanktionen und Interventionen dienen, die in genau jenen Weltgegenden stattfinden, die das nordatlantische Establishment für strategisch wichtig hält.
Bewusst oder unbewusst befürwortet diese Allianz der Eliten also eine Politik, die im Erfolgsfall auf globale Homogenität hinauslaufen würde. Und die damit an die imperialen Projekte zu Zeiten des missionarischen Expansionismus des British Empire oder der USA erinnert. Wobei ein solches Social Engineering in den missionierten Regionen oft die reaktionärsten Elemente stärkt, wie es in Afghanistan, im Irak und in Libyen geschehen ist.
Dass spätmoderne, sich fortschrittlich gebende Haltungen interventionistische und expansionistische politische Bestrebungen unterfüttern können, mag zwar überraschend klingen, ist aber weder neu noch ungewöhnlich.
In der angloamerikanischen Kultur gehört ein idealistisches und moralisierendes Element seit der Ausbreitung des Puritanismus im 17. Jahrhundert zum herrschenden Narrativ. Dahinter verbargen sich zwar oft andere Motive, doch die Überzeugung selbst war durchaus echt und hat das Überleben dieser Kultur ermöglicht. In der einen oder anderen Form hat sich diese „westliche“ Weltsicht mit ihrem universalistischen Anspruch – als besondere Ausformung des Christentums – seit den Tagen Oliver Cromwells behauptet.
Eine säkularisierte Version stiftete Thomas Jefferson in der Frühzeit der Vereinigten Staaten mit seinem Glauben an ein vorbildliches „Reich der Freiheit“, das wie ein Leuchtfeuer die anderen, im Dunkel verharrenden Nationen der Welt erleuchten sollte. Mit der Präsidentschaft von Woodrow Wilson (1913–1921) gewann diese kulturelle Tendenz (oder „Zivilreligion“) direkten Einfluss auf die politischen Entscheidungen. Mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg sah Wilson die Chance, die eigenen politischen Werte zu verbreiten und einen universellen Rahmen für die Gestaltung der internationalen Beziehungen zu schaffen.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erklärte die Regierung George W. Bush – anstatt gezielt al-Qaida und ihre Verbündeten zu jagen – den globalen Krieg gegen den Terror: ein utopisches Projekt, Unruheherde überall auf der Welt durch Nation Building zu befrieden – angefangen mit Afghanistan. Diese Interventionen waren oft von expliziten Forderungen nach Demokratisierung begleitet.
Die religiöse Färbung solcher Projekte sorgte für bestimmte Prioritäten: Zum Beispiel war das Programm der Bush-Administration von 2003 zur Aidsbekämpfung in afrikanischen Ländern mit einer Kampagne für sexuelle Enthaltsamkeit verknüpft. Die war damals ein großes Kampfthema der Moral Majority (der religiösen Rechten).
Humanitäre Interventionen mit fatalen Folgen
Nation Building als Rechtfertigung für Bushs Kriege wurde zur Grundlage der US-Politik – von Afghanistan und dem Irak bis zum gesamten Großraum Naher und Mittlerer Osten. Mit der Wahl Obamas 2008 hatte das Wahlvolk dem messianisches Denken und der außenpolitischen Regime- Change-Doktrin eigentlich eine Absage erteilt. Doch die neue Regierung wechselte lediglich die Begründung für dieselbe Politik. Im Gefolge des Arabischen Frühlings von 2011 starteten die USA und ihre Verbündeten Militäroperationen in Libyen und Syrien, die als humanitäre Interventionen verkauft wurden. Als theoretischer Überbau diente das Konzept der „Schutzverantwortung“ (R2P, Responsability to Protect) der internationalen Gemeinschaft.
In Libyen zeigte sich, wie die R2P-Doktrin ein Land ruiniert. Die Intervention bedeutete das Ende der Zentralregierung und hinterließ einen gescheiterten Staat, der im Bürgerkrieg versank, gezeichnet vom Terrorismus, der zuvor nicht existiert hatte, und offen betriebenen Sklavenmärkten.
In Syrien erfolgte die Intervention eher verdeckt und nicht als direkter Nato-Eingriff, doch hier kam die Militärhilfe, die für demokratische oppositionelle Gruppen bestimmt war, vor allem dschihadistischen Gruppen zugute. Auch hier war das Resultat ein Bürgerkrieg und nicht etwa erfolgreiches Nation Building.
Die R2P-Strategie hatte verheerende Wirkungen, denn sie verschärfte nur die Probleme, die sie lösen sollte. In der Realität produzierte sie damit lediglich „gescheiterte Staaten“ (failed states), womit wiederum neue Voraussetzungen für weitere humanitäre Interventionen geschaffen waren. Diese Interventionen produzierten damit einen fatalen Teufelskreis von Krisen, die gewissermaßen eine permanente Casus-Belli-Begründung lieferten.
Während die Beziehung zwischen der kulturellen und der außenpolitischen Elite immer symbiotischer wurde, entwickelte sich unter den Akademikern ein Wettstreit um die tugendhaftesten ideologischen Rechtfertigungen für imperiale Unternehmungen. Es ging ihnen dabei um eine optimale Unterfütterung des Vormachtstrebens mit moralischen Gewissheiten und selbstgerechten Überzeugungen. Anders formuliert: Man will sich als guter Mensch präsentieren, der um die Nöte und Bedürfnisse der Marginalisierten weiß, zugleich aber auch die Räder der Kriegsmaschinerie schmieren.
Bei der Präsidentschaftswahl von 2016 wurde offensichtlich, dass es in dieser Hinsicht eine Kontinuität zwischen republikanischen und demokratischen Regierungen gibt. Damals optierten viele traditionelle Neokonservative für Hillary Clinton, der sie eher zutrauten, ihre politischen Ziele zu verwirklichen, als Donald Trump mit seinem isolationistischen Credo.
Dieser Prozess der Annäherung mündete nach Donald Trumps unerwartetem Wahlsieg in einer Mainstream-Koalition. Neue Thinktanks entstanden, in denen ehemals republikanische Analysten mit führenden Figuren der Demokratischen Partei zusammenarbeiteten. Wie für diesen Mainstream der Einsatz für Menschenrechte mit einer Unterstützung von Militärinterventionen zusammengeht, zeigen die außenpolitischen Einschätzungen zum Nahen Osten und Zentralasien, aber auch zu Süd- und Mittelamerika.
Das Onlinemagazin der linksgerichteten NGO North American Congress on Latin America (Nacla) zum Beispiel stellt die Proteste 2021 in Kuba so dar, als richteten sie sich in erster Linie gegen die exzessive Toleranz der kubanischen Regierung gegenüber Rassismus.1 Im Fall Bolivien schrieben englischsprachige Medien 2019 nach der Machtübernahme der von den USA unterstützten rechtsextremen Regierung unter Jeanine Áñez, jetzt würde in Bolivien eine „Frauenrechtlerin“ regieren. Doch ebendiese Regierung betrieb eine überaus feindselige Politik gegenüber Menschen indigener Abstammung und deren Kultur. Es dauerte nicht lange, bis Áñez abgewählt wurde. Heute sitzt sie im Gefängnis.
Noch deutlicher artikulierte sich die neue atlantische Menschenrechtsrhetorik, als im Sommer 2021 der von den USA angeführte Nato-Einsatz in Afghanistan endete. Bis dahin hatte man den Krieg in Afghanistan zunächst als Antiterroroperation, dann als Nation-Building-Projekt gerechtfertigt. In diesem Sinne wollte man, wie die Afghanistan Papers enthüllt haben, für die Regierung und das Militär sogar Geschlechterquoten vorgeben. Das führte zu riesigen Problemen mit afghanischen Rekruten und kostete die USA mindestens 110 Millionen Dollar, bis das Programm wieder aufgegeben wurde.
Vor dem Fall von Kabul im August 2021 war das mediale Interesse am Krieg in Afghanistan geschwunden. Jetzt aber waren die afghanischen Frauen und Mädchen auf einmal wieder das Topthema. Dabei verbanden die US-Medien ihre Berichterstattung mit heimischen Themen, zum Beispiel indem sie groß herausstellten, dass die Taliban in Kabul ein Wandgemälde des von einem weißen Polizisten getöteten Afroamerikaners George Floyd hatten entfernen lassen. Dieses Ereignis wurde als Beleg dafür präsentiert, dass die weltweite Verbreitung liberaler Werte in Kabul einen schweren Rückschlag erlitten habe.
Mit einer derart fokussierten Darstellung des Konflikts hat sich der Kreis geschlossen: Die moralische Rhetorik aus der Anfangsphase des Afghanistan-Konflikts kehrte am Ende des US-amerikanischen Engagements in überspitzter Form wieder.
Die US-Geheimdienste hatten im ersten Jahrzehnt des Krieges sehr explizit auf Menschen- und Frauenrechte verwiesen, um das Nation Building in Afghanistan zu begründen. Nun wurde die chaotische Machtübernahme der Taliban als eine totale und weitgehend vermeidbare Tragödie geschildert – statt zu erklären, dass sie in Wahrheit das unvermeidliche Ende des längsten Kriegs in der Geschichte der USA war.
Die Indienstnahme einer liberalen interventionistischen Ideologie beruht auf einem Konsens zwischen akademischer Wissenschaft, der Rüstungsindustrie und staatlichen Agenturen, der eine längere Tradition hat. Der erste Entwurf von Präsident Eisenhowers berühmter Rede von 1961 über die Gefahren eines „militärisch-industriellen Komplexes“2 verwies explizit auf die Bedeutung des Wissenschaftsbetriebs für die Dynamik dieser oligarchischen Verflechtung.
Wenn an den heutigen Universitäten komplexe internationale Themen durch das Prisma angloamerikanischer kultureller und ideologischer Anschauungen betrachtet werden – also mit dem Fokus auf Gerechtigkeit und Gleichheit für marginalisierte Gruppen –, werden nationale Besonderheiten wie die Souveränität eines Landes geopfert. Und zwar im Namen einer politischen Theorie, die universelle Moralstandards unterstellt und kulturelle Homogenität anstrebt und dabei sowohl auf Soft Power wie auf Hard Power setzt.
Das alles dient auch dazu, jene behutsame Argumentation zu entkräften, die geeignet ist, konkrete Pläne zu einem Regimewechsel, auch mittels internationaler Sanktionen, zu problematisieren. Solche aktivistische Rhetorik gewinnt bei den politischen Entscheidungseliten zunehmend an Popularität, wobei die sich progressiv gebende imperialistische Rhetorik dazu dient, das internationale Image der USA aufzubessern und ihre globale Großmachtrolle zu stärken.
Offenbar versprechen sich die Fraktionen, die ihre Auffassungen seit dem Ende des Kalten Kriegs nicht verändert haben, einen Nutzen davon, die innenpolitischen Gerechtigkeitsthemen in internationale Themen zu verwandeln. Und zwar ohne Rücksicht darauf, wie unterschiedlich zum Beispiel die Frage von Minderheitenrechten im jeweiligen kulturellen und historischen Kontext gesehen wird. Hier drängt sich die Parallele zu einer staatlich gelenkten Missionstätigkeit geradezu auf. Wenn man die Lebensweise von Menschen als inakzeptabel betrachtet, gilt das betreffende Land automatisch als Problemfall.
Die Übernahme progressiver Sprachmuster durch das Establishment dient auch dazu, internen Widerstand gegen die Politik der Hardliner zu brechen und zum Schweigen zu bringen. Indem sich die Vereinigten Staaten kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, demonstrieren sie eine neue Bußfertigkeit, die es erlaubt, sich anderen Ländern, die nicht den gleichen historischen Prozess durchlaufen haben, als Vorbild anzudienen.
Wie man auf diese neue Weise rivalisierende Staaten stigmatisieren kann, wurde etwa bei dem angespannten chinesisch-amerikanischen Gipfeltreffen vom März 2021 in Alaska deutlich, als sich beide Staaten gegenseitig der Heuchelei in Menschenrechtsfragen bezichtigten. In dieselbe Richtung weist ein Dekret der Biden-Administration vom September 2021, das Personen mit Sanktionen belegte, die für den Ausbruch des Bürgerkriegs in der Region Tigray im Norden Äthiopiens verantwortlich gemacht wurden. Hier wurde die Einmischung der USA in den Konflikt ausdrücklich mit der ethnisch begründeten Gewalt gerechtfertigt und mit deren Folgen insbesondere für die Frauen.
Die entscheidende Frage ist, ob solche politischen Schritte konkreten nationalen Interessen der USA dienen oder ob sie lediglich ein Vehikel sind, um die dominierende Kaste liberaler Atlantiker international zu stärken. Der kumulative Effekt wiederholter politischer Entscheidungen dieser Art besteht jedenfalls darin, anderen Staaten in den Augen des westlichen Medienpublikums ihre Legitimation abzusprechen – oder zumindest bei den Menschen, die im Wesentlichen die soziokulturellen Werte der USA teilen.
Die Rhetorik dieser ideologischen Position ist durchaus konsistent und entspricht zudem den Prioritäten der Medien. Auch deshalb wird die strategische Weisheit der so begründeten Entscheidungen und ihr Nutzen für die Allgemeinheit nicht grundlegend hinterfragt.
Im Fall des russischen Kriegs gegen die Ukraine bestimmt diese Haltung zuweilen auch die Publikationspolitik der Medien. Zum Beispiel wenn konstatiert wird, dass die Bilanz der Ukraine bei LGBTQI-Themen zwar dürftig ausfällt, aber immer noch besser ist als die russische, wobei in diesem Fall die Messlatte angesichts des in Moskau tobenden Kulturkampfs ziemlich niedrig gehängt wird. Hier zeigt sich, dass gewisse Segmente der Presse, die für den Interventionismus eintreten, das Thema offensichtlich als nützlich betrachten, da es die Soft Power der USA begünstigt.
So hat das Magazin The Atlantic, das Interventionen generell unterstützt, im Mai 2022 einen Artikel veröffentlicht, der sich für die „Entkolonialisierung“ Russlands aussprach. Darin wurde die multiethnische Geschichte des Landes mit dem viktorianischen Kolonialismus gleichgesetzt, um dann zu argumentieren, die Verhältnisse müssten durch einen Regimewechsel verändert werden.3 Das liberale Imperium hat ein klares Interesse daran, die US-Außenpolitik als „woke“ zu präsentieren und den USA nicht wohlgesinnte Länder als illiberal und das Gegenteil von woke. Entsprechende Interpretationen können sowohl vom Staat als auch von Medien und NGOs ausgehen und verbreitet werden.
Ein solcher selektiver Einsatz von woken Anklagepunkten bietet ein unbegrenztes Potenzial für Interventionen in einer langen Liste von Krisenherden im Globalen Süden. Zugleich wird damit das inländische Narrativ unterstützt, dass Interventionen eine gute Sache und unzweifelhaft gerecht seien. Und ausländischen Rivalen, die diese Politik ablehnen, wird vorgeworfen, sie stünden „auf der falschen Seite der Geschichte“, seien „gegen den Fortschritt“ und so weiter.
Washington bringt diese Themen vorzugsweise gegenüber den Ländern ins Spiel, die es zu destabilisieren gilt, beziehungsweise in den Regionen, in denen der militärische Fußabdruck der USA vergrößert werden soll. Dagegen werden dieselben Themen systematisch heruntergespielt, wenn es sich um verbündete Länder wie beispielsweise Saudi-Arabien handelt. Das setzt die USA und ihre Verbündeten natürlich dem Vorwurf der Heuchelei aus und lässt ihren Anspruch auf moralische Überlegenheit ziemlich hohl erscheinen.
Gerechtigkeitsrhetorik und kulturelle Unterwerfung
Der ideologische Faktor allein kann allerdings weder erklären, wie bestimmte Elemente des progressiven Diskurses in die politischen Entscheidungsfindungen im Machtapparat einbezogen wurden, noch die Tatsache, dass die außenpolitischen Falken fast ununterbrochen am Drücker bleiben konnten. Um das zu erklären, muss man die vorherrschende Struktur materieller und beruflicher Anreize betrachten, die das Verhalten der politischen Klasse prägen.
Schon in der Frühzeit des Kalten Kriegs finanzierte die CIA solche Künstlerinnen und Künstler, die bereit waren, „amerikanische Werte“ zu propagieren.4 Seither ist die herrschende Klasse der USA bestrebt, den kulturellen Mainstream des Westens für ihre außen- und sicherheitspolitischen Interessen zu nutzen. In der Praxis arbeiten vom Staat finanzierte Institutionen bei der Vergabe von Geldern und bei der staatlichen Bildungsförderung mit Zuckerbrot und Peitsche.
Auf diese Weise entsteht im staatlichen Apparat ein Korpsgeist, der eine ideologische Homogenität und einen Konsens über die dauerhafte weltweite Vormachtstellung der USA herstellen soll. Dabei spielen Netzwerke zur Rekrutierung und Förderung von Eliten eine wichtige Rolle, da sie das institutionelle Prestige stärken und eine Kultur des strategischen Konsenses fördern und erhalten.
Dass Politik einschließlich Außenpolitik durch die Brille der sozialen Gerechtigkeit betrachtet werden muss, ist die herrschende Auffassung unter jenen Hochschulabsolvent:innen, die heute die meisten der gehobenen Positionen in Staat, Medien und Unternehmen besetzen. Die demonstrative Verwendung von Symbolen der LGBTQI- und Black-Lives-Matter-Bewegung durch Investmentbanken und Rüstungskonzerne bedeutet allerdings keineswegs, dass diese Unternehmen auf Teile ihrer Gewinne verzichten. Und wenn die CIA und das Außenministerium öffentlich kundtun, dass sie sich den angesagten Formen des gesellschaftlichen Fortschritts verbunden fühlen, heißt das noch lange nicht, dass sie von ihren imperialen Ambitionen abrücken.
Die öffentlichen Demonstrationen der Fortschrittlichkeit werden durch das Personal oft bereits ganz von allein im Prozess der Professionalisierung übernommen. Sie sind eine Art, wie Menschen, die in den entsprechenden Institutionen Karriere machen möchten, ihre gelungene Akkulturation signalisieren.
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat diese Ressource als „kulturelles Kapital“ bezeichnet und als „Vertrautheit mit der legitimen Kultur einer Gesellschaft“ definiert. Dieses Kapital verkörpert sich meist in Form von Wissen, Fähigkeiten, Eigenheiten und Qualifikationen, die eine Person als Mitglied der herrschenden Klasse ausweisen.
Nun steht außer Frage, dass Menschen, die bestimmte progressive Ideale vertreten, von diesen durchaus aufrichtig überzeugt sein können. Aber das ist hier nicht der entscheidende Punkt. Die funktionale Bedeutung solcher Überzeugungen hängt nicht davon ab, wie sehr die Personen daran glauben, sondern davon, welche Rolle sie bei der Festigung und Verstetigung des Prestiges von Herrschaftsinstitutionen spielen.
Das heißt nicht, dass man die Bedeutung eines aufrechten Idealismus für das Verständnis von Geopolitik ausblenden könnte. Dieser Idealismus kann aber zugleich dem Zweck dienen, die Rolle des außenpolitischen Establishments abzusichern, auch wenn sich das kulturelle Umfeld ändert. In diesem Fall werden kulturelle Weichenstellungen vorgenommen, um einen Paradigmenwechsel in der US-Außenpolitik zu verhindern und deren grundlegende strategische Annahmen weiter zu legitimieren.
All jene dagegen, die einen realistischeren und vorsichtigeren Kurs der US-Außenpolitik befürworten, müssen feststellen, dass der neue Ethos der sozialen Gerechtigkeit etwa die gleiche Funktion hat wie in früheren Zeiten das Bekenntnis zur „Förderung der Demokratie“: Beide legitimieren alle militärischen und diplomatischen Unternehmungen, die in ihrem Namen geschehen, und delegitimieren zugleich jede Kritik an diesen politischen Entscheidungen.
Das neue woke Auftreten des Imperiums hat allerdings womöglich noch größere destabilisierende Wirkung, da es nicht nur auf eine politische Umstrukturierung bestimmter Länder abzielt, sondern auf deren kulturelle Unterwerfung. Das aber könnte künftig die betroffenen Länder im Globalen Süden noch weiter radikalisieren, und nicht nur gegenüber den USA, sondern grundsätzlich gegen jeden Liberalismus und Fortschrittsglauben.
Schon jetzt scheinen sich Staaten, die wenig mehr verbindet als die Ablehnung von Interventionen der USA, im Namen von staatlicher oder auch zivilgesellschaftlicher Souveränität gegenüber den hegemonialen Bestrebungen des liberalen Imperiums zu solidarisieren.
Die hier dargestellten Prozesse sind historisch gesehen weder neu noch auf die USA beschränkt. Das britische Empire förderte im 17. und 18. Jahrhundert den weltweiten Sklavenhandel, weil er lukrativ und den kolonialistischen Zwecken dienlich war. Mit dem Beginn der Industrialisierung und dem Aufkommen der Abolitionismus-Bewegung in der viktorianischen Ära wurde dann umgekehrt der Kampf gegen die Sklaverei zu einem Mittel, um die imperiale Expansion Großbritanniens mit moralischer Pflicht zu begründen – während zugleich die amerikanischen Südstaaten und deren Sklavenökonomien von den Briten militärisch unterstützt wurden.
Eine ähnliche Logik gilt auch für den liberalen Imperialismus unter der Führung des US-Establishments: Humanitäre Interventionen finden oft in Regionen statt, in denen zuvor schon aus anderen Gründen interveniert wurde, und schaffen Bedingungen für künftige neue Interventionen in einer Spirale eingefrorener und anhaltender Konflikte.
Dass es von Nutzen ist, den Krieg mit Fragen der Moral zu begründen, ist für die außenpolitischen Hardliner offensichtlich. Insofern ist die vorliegende Analyse durchaus als Warnung an begeisterte Propagandisten der Wokeness zu lesen: Der militärisch-industrielle Komplex ist absolut in der Lage und sichtlich bereit, ihre Sprache zu übernehmen und für seine militaristischen Ziele zu nutzen.
Ob sich eine woke Haltung als Deckmantel erfolgreicher nutzen lässt, um militärische Interventionen im Ausland zu rechtfertigen als frühere ideologische Verkleidungen, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall ist damit zu rechnen, dass der woke Internationalismus durch ein anderes ideologisches Vehikel ersetzt werden wird, sobald er sich nicht mehr als nützlich erweist. Und dann beginnt der Kreislauf von vorn.
3 Casey Michel, „Decolonize Russia“, The Atlantic, 27. Mai 2022.
Aus dem Englischen von Ursel Schäfer
Christopher Mott war Referent im US-Außenministerium und forscht am Institute for Peace and Diplomacy. Eine längere Fassung dieses Beitrags ist auf peacediplomacy.org erschienen.