12.01.2023

Ukraine: Was wollen die USA?

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Ukraine: Was wollen die USA?

Die Fronten sind verhärtet. Weder Moskau noch Kiew wollen zurück an den Verhandlungstisch. Für die USA, die bisher nicht wenig vom Krieg profitiert haben, sind jedoch Verhandlungen kein Tabu mehr.

von Hélène Richard

Tiina Itkonen, Falling Iceberg, Uummannaq, 2010, 70 × 200 cm
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Im November drangen neue, friedvollere Töne aus dem Weißen Haus. Die Presse berichtete, dass der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan in Kontakt stehe mit Vertrauten des russischen Präsidenten, insbesondere Juri Utschakow, Putins außenpolitischem Berater. Dass dieser Kanal existiert und von Washington öffentlich gemacht wurde, ist als Zeichen interpretiert worden, dass man Verhandlungen mit Russland sondiert. Gleichzeitig betonte US-Präsident Joe Biden am 14. November auf dem Weg zum G20-Gipfel auf Bali erneut, dass Kiew weiter den Fahrplan bestimme. Es würden keine Entscheidungen „über die Ukraine ohne die Ukraine“ gefällt.

Der Besuch seines ukrainischen Amtskollegen Selenski am 21. Dezember in Washington war dann die Gelegenheit, eine Botschaft der „Koordination und Übereinstimmung“ auszusenden, wie ein Beamter des Weißen Hauses kurz vor dem Treffen sagte. Gleichwohl sind Verhandlungen für die USA kein Tabu mehr, auch wenn weiter große Mengen an Waffen und Muni­tion in die Ukraine geliefert werden.

Überraschenderweise hält derzeit das Pentagon die Fahne der Diplomatie höher als das Weiße Haus. Laut US-Generalstabschef Mark Milley könnte ein Abflauen der Kämpfe im Winter eine „Gelegenheit für Verhandlungen“ bieten. Die US-Militärs sind zur Überzeugung gelangt, dass keines der beiden Lager das andere besiegen kann. „Es braucht die beidseitige Anerkennung, dass ein militärischer Sieg im eigentlichen Wortsinn wahrscheinlich nicht möglich ist und man sich daher anderen Mitteln zuwenden muss“, erklärte Milley bei einer Rede vor dem New York Economic Club im November.

Die diplomatische Annäherung kommt zu einer Zeit, da Washington bereits nicht wenig vom Krieg profitiert hat: Das militärische Versagen des russischen Rivalen ist offensichtlich. In Cherson hat die russische Armee ihre dritte Niederlage erlitten, nachdem sie sich bereits im März aus der Re­gion ­Kiew und im September aus der Oblast Charkiw zurückziehen musste. Die Nato hat mit Finnland und Schweden zwei neue potenzielle Mitglieder gewonnen. Und die Auftragsbücher des militärisch-industriellen Komplexes der USA füllen sich.1

Überdies ist die energiepolitische Abkopplung Europas von Russland, die von den USA spätestens seit dem Bau der Pipeline Nord Stream 1 in den 2000er Jahren betrieben wurde, besiegelt. Das zeigt etwa die Unterzeichnung langfristiger Verträge mit Katar über die Lieferung von Flüssiggas (LNG). Auch immer mehr US-Frackinggas fließt durch europäische Leitungen; seit Kurzem wird es auch über den ersten deutschen LNG-Terminal in Wilhelmshaven angelandet. Zugleich leidet die europäische Industrie unter den massiven Energiepreissteigerungen und verliert einen Wettbewerbsvorteil – wovon vor allem die mit Staatshilfen gepäppelte US-Konkurrenz profitiert.

Diese spektakuläre Stärkung der amerikanischen Position ist das Ergebnis einer Strategie, die mehrfach angepasst wurde, aber stets dasselbe Ziel verfolgte: Russland, dem neben China größten Systemrivalen der USA, möglichst eine strategische Niederlage zuzufügen. Dabei tritt Washington vor allem dann für eine gerechte Sache ein, wenn dies auch seinen eigenen Interessen nutzt.

Der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar kam Washington indes alles andere als gelegen. Denn eigentlich stand die Rivalität mit China im Fokus. Nach Beginn der Invasion erwogen die USA zunächst, die ukrainische Armee ihrem Schicksal zu überlassen. Sie trauten ihr kaum zu, dem Ansturm der russischen Truppen standzuhalten. Präsident Wolodimir Selenski bot man Fluchthilfe an, damit dieser eine Exilregierung aufbauen könnte.

Umfassende Wirtschaftssanktionen bildeten zunächst das Herzstück der zwischen Washington und Brüssel koordinierten Strategie.2 Erst Ende März, als sich die russischen Truppen aus den Vororten Kiews zurückziehen mussten, entschlossen sich die USA zu einer soliden Bewaffnung der ukrainischen Streitkräfte. Dem Weißen Haus kamen dabei die strategischen Fehler des Kreml zupass. Als dann am 1. April die Gräueltaten der russischen Armee in Butscha ans Licht kamen, begünstigte dieser Schock den Strategiewechsel zusätzlich.

Die westlichen Alliierten traten auf die Bremse, als die Ukraine mit Russland sprach und im Gegenzug für Sicherheitsgarantien die eigene Neutralität anbot. Als am 9. April der damalige britische Premierministers Boris Johnson überraschend die Ukraine besuchte, war klar: London und damit auch Washington, als dessen Gesandter er auftrat, lehnten solche Konzessionen gegenüber Putin ab.3

Die Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew wurden zunächst auf die Arbeitsebene herabgestuft, am 13. April scheiterten sie endgültig. Danach wurden die Waffenlieferungen an die Ukraine das ganze Frühjahr hindurch immer weiter aufgestockt. Die Palette reichte von mobilen Panzer- und Luftabwehrraketen der Typen Javelin und Stinger bis hin zu Flugabwehr- und Anti­schiffssystemen. Die gelieferten Waffen spielten eine entscheidende Rolle bei der erfolgreichen Gegenoffensive ab September, bei der die ukrai­nische Armee die Stadt Cherson im Süden des Landes zurückeroberte.

Washington hielt sich also zunächst zurück, wendet dann aber gewaltige Summen auf, um Kiew zu unterstützen. Laut dem deutschen Kiel Institut für Weltwirtschaft mobilisierten die USA fast 48 Milliarden US-Dollar, von denen 23 Milliarden auf die Militärhilfe entfielen.4 Inzwischen sucht die US-Regierung jedoch das Bremspedal. Sie ist sich bewusst, dass eine Eskalation und eine daraus folgende direkte Konfrontation mit Moskau ihre strategischen Gewinne zunichtemachen würden.

Ende August führte die Ukraine mehrere Operationen auf russischem Boden durch, die in Washington für Irritation sorgten. Anonyme Quellen aus dem Pentagon und bei der CIA ließen die New York Times5 – und damit auch Kiew – wissen, dass der mutmaßlich vom ukrainischen Geheimdienst begangene Mord an Daria Dugina, der Tochter des russischen Ideologen Alexander Dugin, nicht gutgeheißen wurde.

Auch der Anschlag vom 8. Oktober auf die Kertsch-Brücke, die die Krim mit Russland verbindet, stieß im Weißen Haus auf wenig Begeisterung. Diese Aktionen hatten eher symbolische  denn militärische Bedeutung. Die Brücke wurde unverzüglich repariert und von Präsident Putin persönlich in Augenschein genommen. Russland reagierte mit einer ersten Angriffswelle auf die ukrainische Energieinfrastruktur und verstärkte die Angriffe noch, nachdem die Ukraine Cherson zurückerobert hatte.

Die Lage der russischen Armee am Boden ist schwierig, weshalb Moskau seinen einzigen verbliebenen Trumpf zieht: Der Kreml nutzt die Tiefe des eigenen Territoriums, um aus dem Hinterland auch ukrainische Regionen fernab der Front unter Dauerbeschuss zu nehmen. Dass Ende Oktober auf dem Territorium des Nato-Mitglieds Polen eine Rakete niederging, konnte niemanden überraschen.

Washington fürchtet solche Zwischenfälle, die zu einer Ausweitung des Konflikts führen könnten. Das Weiße Haus distanzierte sich deshalb sofort von den Anschuldigungen der ukrainischen Regierung, die fälschlicherweise von einer russischen Rakete sprach. (Es handelte sich um eine fehlgeleitete ukrai­ni­sche Flugabwehrrakete.)

Trotz Bedenken will Washington Kiew auch weiterhin die nötigen Mittel in die Hand geben, um die russischen Raketen abzuwehren. Mittlerweile hat die Ukraine russische Flugplätze in den mehr als 500 Kilometer von der ukrai­ni­schen Grenze entfernten Regionen Saratow und Rjasan angegriffen, auf denen strategische Bomber stationiert sind. Damit hat der Konflikt eine neue Dimension bekommen. Die für die Angriffe eingesetzten Kamikazedrohnen sind nach Ansicht russischer Militäranalysten mit technischer und finanzieller Unterstützung Großbritanniens und der USA gebaut worden.6

Hinzu kommt, dass die Vereinigten Staaten grünes Licht für die Lieferung des hochmodernen Flugabwehrsystems Patriot gegeben haben, das eigentlich ihren engsten Verbündeten vorbehalten ist. Der russische Botschafter in den USA bezeichnete die Entscheidung postwendend als „provokanten Schritt“, der „unabsehbare Folgen“ haben könnte.7 Die USA bewegen sich somit auf einem schmalen Grat: Sie schließen Verhandlungen nicht mehr aus, laufen aber gleichzeitig Gefahr, als Kriegspartei in den Konflikt hineingezogen zu werden. Dabei sind die amerikanischen Kriegsziele nicht in Stein gemeißelt. Die Idee eines Regimewechsels, die US-Präsident Biden im März bei einer Rede in Warschau angedeutet hatte, entspricht nicht mehr der offi­ziel­len Linie.

US-Außenminister Antony Blinken sagte am 6. September, die amerikanische Unterstützung beschränke sich auf die Rückeroberung der seit dem 24. Februar 2022 verlorenen Gebiete, womit die Krim und die Separatistengebiete im Donbass ausgenommen wären. Nur die baltischen Staaten und Polen unterstützen Kiews Pläne, die Offensive bis zur Rückeroberung der Krim fortzusetzen. Ihre Waffenlieferungen machen aber nur einen Bruchteil des militärischen Materials aus, das die Ukraine aus dem Ausland erhält.

Der Konflikt hat ein Ausmaß erreicht, das eine Umkehr schwierig macht. Weder die russische Regierung, deren politisches Überleben auf dem Spiel steht, noch die von massiven Zerstörungen erschütterte Ukraine wollen aktuell an den Verhandlungstisch zurück. Die Fronten zwischen den Kriegsparteien sind verhärtet.

Im September annektierte Russland Gebiete in vier ukrainischen Regionen. Dabei hatte es im März noch so ausgesehen, als würde der Kreml die Räumung der südlichen Regionen Cherson und Saporischschja im Austausch gegen eine Anerkennung der Unabhängigkeit des Donbass und der Angliederung der Krim an Russland nicht ausschließen. Präsident Selenski bekundete am 15. November in seiner Videoansprache auf dem G20-Gipfel ein eher theoretisches Interesse an Verhandlungen. Als Vorbedingung forderte er den Abzug der russischen Truppen hinter die Grenzen von 1991, also auch aus dem Donbass und von der Krim.

Von einer neutralen Ukraine ist keine Rede mehr

Im März hatte die Ukraine diese beiden Gebiete aus ihren Forderungen nach Sicherheitsgarantien ausgeklammert. Das war ein Hinweis darauf, dass Kiew Gespräche über die russisch-­ukrai­ni­sche Grenze zumindest in Erwägung zog. Der „Sicherheitspakt“, den die ukrainische Regierung inzwischen einfordert, zielt darauf ab, die militärische und finanzielle Hilfe des Westens zu verstetigen. Gleichzeitig soll die Ukrai­ne eng an die Nato gebunden werden, mit Option auf eine zukünftige Mitgliedschaft.

Damit hat sich die Ukraine weit von der Position entfernt, die sie zu Beginn der russischen Invasion vertrat. Damals hatte Kiew eine dauerhafte Neutralität ins Gespräch gebracht und in Aussicht gestellt, auf Atomwaffen zu verzichten und seine militärischen Zusammenarbeit mit der Nato zu beschränken (sprich: keine Militärbasen oder permanent stationierte ausländische Truppen auf ukrainischem Boden).

Sollte es zu besagtem „Sicherheitspakt“ kommen, den Selenskis Kabinettschef zusammen mit dem ehemaligen Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen entworfen hat, würde Moskaus strategischer Albtraum wahr werden, den Putin durch seinen Angriff auf die Ukraine angeblich verhindern wollte. Der Kreml ist nicht bereit, eine solche Niederlage hinzunehmen.

Mit seinem Versuch, die Grenzen gewaltsam zu verschieben, hat Moskau einen der schwerwiegendsten Verstöße gegen die UN-Charta begangen. Dies verurteilen sogar Indien und China, die engsten Verbündeten Russlands. Gleichzeitig ist eine große Mehrheit von Russlands Verbündeten der Ansicht, dass es auch keine Option sein kann, dass die Ukraine die Wiedereingliederung des Donbass und der Krim erzwingt. Dies würde nicht nur die Gefahr von Atomschlägen erhöhen, sondern auch auf den Widerstand eines Großteils der lokalen Bevölkerung stoßen.

Wie groß dieser Widerstand wäre, ist indes unklar. 2014 stimmten beim rechtswidrigen Referendum zur „Angliederung der Krim an die Russische Föderation“ 96 Prozent der Krim­be­woh­ne­r:in­nen mit Ja. Eine Zustimmungsquote mit bedingter Aussagekraft: Der Frust über den Sturz des prorussischen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch im Zuge der Maidan-Revolution war groß; das Referendum wurde überhastet organisiert, und es fand unter der strengen Aufsicht von russischen Truppen ohne Hoheitszeichen statt. Zudem boykottierte die Minderheit der Krimtataren die Abstimmung. Dass sich auf der Krim eine Mehrheit Russland nahe fühlt, ist trotzdem nicht zu leugnen. Für ­Kiew stellt das eine Herausforderung dar.

Auch die Donbass-Frage ist heikel. Die Kluft zwischen Kiew und den abtrünnigen Republiken Luhansk und Donezk hat sich weiter vertieft. Wenig überraschend wurde die „militärische Spezialoperation“ Russlands dort teils mit Erleichterung aufgenommen, ganz anders als in den anderen Teilen des Donbass, die wie Mariupol mittels russischer Flächenbombardements „befreit“ wurden.8

Das Scheitern des Minsker Abkommens von 2015, das einen Sonderstatus für den Donbass innerhalb einer föderalen Ukraine vorsah, erschwert eine Lösung in dieser Region erheblich. Es wird harter Arbeit bedürfen, die Parteien von der Glaubwürdigkeit eines politischen Prozesses zu überzeugen, der auch die Möglichkeit einer formalen Angliederung an Russland nicht ausschließt (siehe den untenstehenden Artikel).

Auf diplomatischer Ebene geht es mittlerweile nicht mehr darum, den Konflikt zu lösen, sondern einzig darum, die Kriegsfolgen einzudämmen. Die Sicherheit des AKWs Sapo­risch­schja, der Austausch von Gefangenen und die Verhinderung einer Ernährungskrise sind die einzigen Bereiche, in denen sich die beiden Konfliktparteien auf Verhandlungen einlassen.

Derweil verlagert sich der Kreis der möglichen Vermittler von Europa, das immer abhängiger von Washington wird, in den Nahen Osten. Das Duo Berlin/Paris, das das Minsker Abkommen von 2015 vermittelt hatte, hat sich überlebt. Bundeskanzler Olaf Scholz hat dazu aufgerufen, die „neue Realität“ zur Kenntnis zu nehmen: die „Rückkehr des Imperialismus“, der keinen Raum für Kompromisse lasse.9

Der französische Präsident Emmanuel Macron sieht das anders. In einem Interview mit dem Fernsehsender TF1 sprach er sich am 3. Dezember sogar dafür aus, dass die Nato nicht nur Kiew, sondern auch „Russland Garantien für dessen eigene Sicherheit“ geben solle. Diese Äußerungen sind in der Presse und bei den meisten europäischen Regierungen auf massive Kritik gestoßen.

Mittlerweile ist die Türkei zur wichtigsten Mittlerin zwischen Kiew und Moskau geworden. In Antalya fanden bereits im März Friedensgespräche statt. Und im Sommer war die türkische Regierung maßgeblich am Abschluss einer Vereinbarung für den Export ukrainischen und russischen Getreides über die Schwarzmeerhäfen beteiligt.

Neben der Türkei haben sich noch andere eher untypische Vermittler ins Spiel gebracht. So wurde im September in Saudi-Arabien ein Gefangenenaustausch ausgehandelt. Und die diplomatischen Bemühungen der Vereinigten Arabischen Emirate führten zur Wiederaufnahme der Ausfuhr russischen Ammoniaks. Das zeigt auch: Das Schicksal Europas entscheidet sich weit entfernt von dessen Grenzen.

1 Julia Gledhill und William D. Hartung, „Frohlocken bei Lockheed“, LMd, Mai 2022.

2 Siehe „Der Preis der Sanktionen“, LMd, November 2022.

3 Siehe „From Zelenskyy’s,surrender' to Putin’s surrender: how the negotiations with Russia are going“, Ukrainska Pravda, 5. Mai 2022.

4 Zahlen betreffen den Zeitraum vom 24. Januar bis 20. November 2022; siehe „Ukraine Support Tracker“, Kiel Institut für Weltwirtschaft Kiel.

5 „U.S. believes Ukrainians were behind an assassination in Russia“, New York Times, 5. Oktober 2022.

6 Siehe „Kiew und Moskau beschießen sich mit Langstreckenwaffen“ (auf Russisch), Nesawissimaja Gaseta, 6. Dezember 2022.

7 Telegram-Account der russischen Botschaft in den USA, 14. Dezember 2022.

8 Siehe Loïc Ramirez, „Unterwegs im Donbass“, LMd, September 2022.

9 Olaf Scholz, „Die globale Zeitenwende. Wie ein neuer Kalter Krieg in einer multipolaren Ära vermieden werden kann“, Foreign Affairs, 5. Dezember 2022.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Le Monde diplomatique vom 12.01.2023, von Hélène Richard