12.01.2023

Stimme der Anderen

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Stimme der Anderen

Die Tageszeitung Haaretz ist das einzige Printmedium in Israel, das über die Realität der Besatzung berichtet

von Silvain Cypel

Redaktion von Haaretz, Shoken Street, Tel Aviv, Juli 2019 DEROR AVI/wikimedia commons
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Am 14. Oktober 2022 titelte die israelische Tageszeitung Haaretz: „ ‚Werft das Material in die Brunnen‘: Dokumente zeigen die biologische Kriegsführung der israelischen Armee 1948“.1 Wer weiterliest, erfährt, dass es während des Bürgerkriegs im palästinensischen Mandatsgebiet 1947/1948 – als sich die Truppen des Jischuv (jüdische Siedler in Palästina) und bewaffnete palästinensische Verbände ge­gen­über­standen2 – Befehle gab, die Brunnen von palästinensischen Dörfern zu vergiften.

Die Operation mit dem Namen „Cast thy bread“ (Verteile dein Brot)3 wurde im Auftrag des späteren ersten Premierministers von Israel, David Ben-Gurion, und seinem zukünftigen Generalstabschef, Jigael Jadin, erdacht. Sie zielte darauf ab, die Rückkehr von Palästinensern zu verhindern, die zuvor vertrieben worden waren. Aus den Dokumenten geht auch hervor, dass General Johanan Ratner darum bat, den Befehl schriftlich zu erhalten, was ihm jedoch verweigert wurde. Jadin wies seine Untergebenen an, sie sollten „unter strengster Geheimhaltung“ handeln.

Die ersten Brunnen wurden im April 1948 (die Staatsgründung Israels erfolgte am 15. Mai) in der Nähe von Akkon und in Dörfern nahe Gaza vergiftet. Allerdings erwies sich die Taktik als unwirksam und wurde schnell wieder aufgegeben.

Haaretz veröffentlicht regelmäßig Enthüllungen über die Nakba, als Israel die Palästinenser von ihrem Land vertrieb. Dabei stützt sich das Blatt häufig auf die Arbeit des jungen Historikers Adam Raz, der 2015 eine Arbeitsgruppe zum Thema gegründet hat: das Ins­titut für Forschung zum israelisch-palästinensischen Konflikt, Akovot. Akovot bedeutet „Spuren“ auf Hebräisch.

Raz sucht nach den verschütteten Spuren der israelischen Vergangenheit, die die offizielle Geschichtsschreibung ausgelöscht hat, um genau die Tatsachen zu verschleiern, die ihrer heroischen Version der Geschichte widersprechen. Seine Enthüllungen veröffentlicht er regelmäßig in Haaretz.

Darüber hinaus beschäftigt die Zeitung den Historiker und Journalisten Ofer Aderet, der die Arbeit derjenigen Historiker zu verfolgen soll, die die offi­ziellen Narrative dekonstruieren. Aderet veröffentlichte eine Reihe brisanter Artikel über die Nakba, über nie aufgeklärte Massaker, aber auch über Herausforderungen wie die Integration der Mizrachim, der jüdischen Einwanderer aus arabischen und muslimischen Ländern in den 1950er Jahren.

Aderet ist sich sicher, dass „weder Jediot Acharonot (die größte Tageszeitung des Landes) noch eine andere israelische Zeitung diese Artikel veröffentlicht hätte“. Mit Ausnahme von Ha­a­retz würden alle großen Medien lediglich die „offizielle Erzählung“ über Israels Vergangenheit verbreiten.

Aber nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit berichtet Haaretz über das, was andere verschweigen. Auch bei der aktuellen Berichterstattung ist die Zeitung in Israel einzigartig. „Wir haben keine Angst, die konfliktträchtigsten Themen anzugehen“, sagt Hagar She­zaf, eine junge Reporterin, die aus den besetzten palästinensischen Gebieten berichtet.

Ein gutes Beispiel sei der Journalist Nir Hasson, meint Amira Hass, eine international bekannte Journalistin, die seit 1993 für Haaretz über die palästinensischen Gebiete berichtet. „Hasson verfolgt seit einem Jahrzehnt die Judaisierung Jerusalems und die damit verbundene massive Verdrängung der palästinensischen Bewohner.“ Er verkörpere den „Wandel“, den die Zeitung durchgemacht hat, sagt Hass.

Nach ihrer Übernahme durch die Schockens 1935 – eine Familie wohlhabender deutscher Juden, die vor den Nazis geflohen waren4 – vertrat die Zeitung lange Zeit zionistische Positionen und war politisch in der rechten Mitte angesiedelt. Heute hingegen sieht die stellvertretende Redaktionsleiterin Noa Landau die politische Ausrichtung anders: „Zunächst einmal sind wir eine liberale Zeitung“ – im angelsächsischen Sinne des Wortes also progressiv. „Außerdem sind wir klar führend in der Berichterstattung über die besetzten palästinensischen Gebiete, die Behandlung von Migranten und beim Thema Menschenrechte.“

Jour­na­lis­t:in­nen des Blatts erklären diesen aktuellen Kurs mit zwei parallelen Entwicklungen in Israel: dem stetig voranschreitenden Siedlungsbau in den besetzten Gebieten und der Radikalisierung sowohl der israelischen Gesellschaft als auch ihrer politischen Führung. Die Redaktion von Haaretz habe sich dadurch allmählich zu mehr oder weniger scharfen Formen des „Widerstands“ gedrängt gesehen. Dabei spiele auch das Gefühl einer wachsenden Bedrohung eine Rolle, und zwar nicht so sehr für die Palästinenser, sondern für „die israelische Demokratie“.

Amos Schocken, seit 1992 Herausgeber der Zeitung, verkörpert die gemäßigte, aber kompromisslose Version dieser Tendenz. In der Redaktion betonen alle, er habe bei der Richtung, die Haaretz genommen hat, eine entscheidende Rolle gespielt.

Zunächst einmal sorgte er dafür, dass die Zeitung in Familienbesitz blieb (die Schockens halten nach wie vor 75 Prozent), so dass eine Übernahme durch große Medienkonzern verhindert werden konnte. Dann fand Schocken Minderheitsaktionäre, die die Zukunft der Zeitung sicherten. Und schließlich trug er mit einer neuen Businessbeilage (The Marker), die einen wirtschaftsliberalen Ton anschlägt, dazu bei, die finanzielle Lage der Zeitung zu verbessern. Viele sehen in Amos Schocken den entscheidenden Faktor, der die Unabhängigkeit von Haaretz garantiert.

Schocken sagt von sich selbst: „Ja, ich bin Zionist. Und wenn man an den Zionismus glaubt, wie er in der israelischen Unabhängigkeitserklärung zum Ausdruck kommt, kann man das Nationalstaatsgesetz nicht akzeptieren, es ist ein faschistisches Gesetz.“ Dieses 2018 verabschiedete Gesetz5 gehört zu den sogenannten Grundgesetzen in Israel, hat also Verfassungsrang. Es schreibt den jüdischen Charakter des israelischen Staats fest und macht Hebräisch zur alleinigen Nationalsprache. Arabische Israelis werden dadurch de facto zu Staatsbürgern zweiter Klasse. „Das führt uns in die Katastrophe“, sagt Schocken. Haaretz sprach sich bereits 2011 gegen das Nationalstaatsgesetz aus, als es zum ersten Mal im Parlament eingebracht wurde.

In jenem Jahr wurde Aluf Benn Chefredakteur; aber der „Prozess der Befreiung“, wenn es um das Sprechen über die Palästinenser geht, habe bereits unter Benns Vorgänger Dov Alfon begonnen, betont Gideon Levy. Levy ist einer der engagiertesten Kolumnisten bei Haaretz und unterstützt offen die BDS-Bewegung Boycott, Divestment, Sanc­tions.6

Laut Levy war es in der Zeitung „lange Zeit unmöglich, zu sagen, dass der Zionismus per se die Annahme einer jüdischen Überlegenheit impliziert“. Unter der Ägide von Aluf Benn wurde es dann zulässig, von „Kriegsverbrechen“, „Apartheid“ und „jüdischem Suprematismus“ zu schreiben.

Seitdem ist eine einigermaßen paradoxe Situation entstanden: Die israelische Regierung versucht die Welt davon zu überzeugen, dass die Bezeichnung „Apartheid“ für das den Palästinensern auferlegte Regime Ausdruck von Antisemitismus sei. Zugleich wird in der international bekanntesten Zeitung des Landes, so schildert es die junge Redakteurin Anat Kam, „eine breite Debatte über die Verwendung des Begriffs Apartheid geführt“. Kam arbeitet im Meinungsressort der Onlineausgabe. Sie ist sich sicher, dass diese Debatte nur geführt werden kann, weil es bei Haaretz eine kollektive Vereinbarung gebe: „Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist heilig.“

Die Veränderungen im Blatt betreffen nicht nur den Sprachgebrauch. „Lange Zeit haben wir gedacht, die Besetzung der palästinensischen Gebiete sei vorübergehend“, gibt Aluf Benn zu. Nun sei klar, dass sie auf Dauer angelegt ist. „Wenn vor 30 Jahren israelische Soldaten ein palästinensisches Kind töteten, konnte man mit einer Untersuchung rechnen. Heute segnet die Armee alles ab. Es gibt keine Untersuchungen mehr.“

Das erkläre auch, warum eine Organisation wie Breaking the Silence entstanden ist, so Benn. Die von ehemaligen Soldaten gegründete NGO berichtet über das Vorgehen der israelischen Armee in den besetzten Gebieten. Aus denselben Gründen tue das auch Haaretz. „Die meisten Zeitungen berichten nicht über die Realität der Besatzung. Bei uns ist das anders.“

Ein weiteres wichtiges Thema ist  die historische und immer noch andauernde Diskriminierung der Mizrachim. Iris Leal, die für den Literaturteil der Zeitung schreibt, stellt sich als „Orien­ta­lin vom Dienst“ vor. Sie kritisiert die historische Blindheit der traditionellen aschkenasischen (europäischstämmigen) Eliten und der lange Zeit dominanten Arbeiterpartei gegenüber den Mizrachim.

„Die Leser von Haaretz sind überwiegend Aschkenasim“, sagt Leal, also wohlhabender und besser ausgebildet. „Sie respektieren mich, weil ich links bin, aber immer wieder nennen mich Leserinnen und Leser eine ‚Heulsuse‘ und schreiben mir, dass die Frage der Orientalen überholt sei.“ Aber die Geschäftsleitung unterstütze sie, betont Leal. „Die ist darauf bedacht, dass das, was den Mizrachim in Israel widerfahren ist und immer noch widerfährt, in der Zeitung entsprechend Raum bekommt.“

Leal schreibt es zum Beispiel Haaretz zu, dass eine berüchtigte Affäre um jemenitische Babys nicht unter den Teppich gekehrt wurde. Diese schlimme Angelegenheit reicht bis Anfang der 1950er Jahre zurück und ist in Israel nach wie vor ein heißes Eisen: Hunderte Babys, deren Eltern hauptsächlich aus dem Jemen und anderen muslimischen Ländern stammten, sollen fälschlicherweise als Totgeburten ausgegeben worden sein, um sie den Eltern zu entziehen und heimlich zur Adoption an kinderlose aschkenasische Paare freizugeben, darunter auch Überlebende aus Konzentrationslagern.

Die Debatte darum tobt seit 50 Jahren. Die einen sprechen von einem „Staatsverbrechen“ ungeahnten Ausmaßes, während die anderen behaupten, es handle sich um reine Fantasie. Haaretz habe den Vertretern des Fake-News-Lagers viel Raum gegeben, sagt Leal. Aber Alon Idan, Chef der Debattenseiten, habe die Zeitung für abweichende Meinungen geöffnet und auch die andere Seite zu Wort kommen ­lassen.

Die spektakulärste Veränderung bei Haaretz ist allerdings, dass begonnen wurde, die Redaktion zu „arabisieren“: Im Jahr 2000 startete Noa Landau das Programm „Haaretz 21“ mit dem Ziel, israelische Journalistinnen und Journalisten mit palästinensischem Hintergrund einzustellen. „Die Situation war nicht mehr tragbar“, berichtet sie. „Wir brauchten Palästinenser in der Redaktion; erstens, um nicht unsere eigenen Prinzipien zu verraten, die auf der Gleichberechtigung aller israelischen Bürger beruhen; und vor allem um, zweitens, unseren Lesern die Sicht der anderen zu vermitteln, die jüdische Israelis fast nie zu hören bekommen.“

Für Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen gab es im israelischen System allerdings keine Möglichkeit, eine journalistische Ausbildung zu bekommen. „Wir haben dann selbst die Initiative ergriffen“, erzählt Landau. „Im ersten Jahrgang von Haaretz 21 waren 20 Leute dabei, von denen fünf heute bei der Zeitung arbeiten.“ Der zweite Jahrgang wird 2024 abschließen, dann sollen weitere fünf bis sechs palästinensische Jour­na­lis­t:in­nen eingestellt werden.

Zu den Ab­sol­ven­t:in­nen des ersten Jahrgangs gehört auch Sheren Falah Saab, die hauptsächlich über Gesellschaft und Kultur der israelischen Palästinenser schreibt. Ihre Artikel erscheinen häufig in der Kulturbeilage Galleria. Ihre eigene Identität beschreibt sie als „komplex“. Sie verleugnet ihre israelische Staatsbürgerschaft nicht und fühlt sich „manchmal als Palästinenserin, manchmal als Araberin, oft beides“.

Im Übrigen ist sie Drusin, was unter bestimmten Umständen ebenfalls ins Gewicht fällt. Sie erlebt jedenfalls genau „die Identitätskonflikte, die den meisten palästinensischen Israelis politisch aufgezwungen werden“.

Eine Palästinenserin, die für eine israelische Zeitung schreibt? Anfangs seien ihre Freunde misstrauisch gewesen, erzählt Falah Saab. Aber das sei jetzt vorbei. Sie betont auch, dass sie sich in der Redaktion nicht fremd fühle. Im Oktober erschien von ihr ein Porträt über Ghassan Kanafani.7 Der Schriftsteller und Sprecher der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) wurde am 8. Juli 1972 in Beirut von einem Mossad-Kommando ermordet. Für Palästinenser ist er nach wie vor ein Symbol des Widerstands.

Falah Saab stützte sich für ihren dreiseitigen Text in der Wochenendbeilage auf ein Buch des ehemaligen Haaretz-Journalisten Danny Rubinstein. Anfang der 1970er Jahre hielt man in Israel die Ermordung eines „Terroristen“ für durchaus legitim. Rubinstein schreibt über Kanafani: „Er hatte keine Leibwächter. Er wechselte nicht seinen Aufenthaltsort. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, dass Israel ihn als Terroristen betrachtete.“ Falah Saab porträtiert Kanafani als einen Mann, der von einem Teil der Gesellschaft als Monster verteufelt, von einem anderen Teil als Held verehrt wird.

Diese Pluralität in Haaretz wäre nicht möglich ohne einen Besitzer wie Amos Schocken, glaubt Gideon Levy. Für viele ist Schocken ein linker Magnat; von der israelischen Rechten wird er so heftig beschimpft wie George Soros von Trumpisten in den Vereinigten Staaten. Levy ist überzeugt: „Wenn Jediot Acharonot verschwinden würde, bliebe in Israel alles wie bisher. Wenn Haaretz verschwinden würde, gäbe es niemanden mehr, der über die palästinensischen Gebiete, Umweltthemen oder die Unterdrückung der Frauen berichtet.“

Aluf Benn pflichtet Levy bei. Für ihn ist Haaretz in gewisser Weise der letzten Stützpfeiler der Opposition im Land. Dass es so weit kommen konnte, habe vermutlich mit einem allgemeinen Überdruss zu tun: Abgesehen von den Siedlern und dem Militär geht niemand in die besetzten Gebiete.

Dort, in Dschenin und Nablus, gehen israelische Soldaten derzeit mit aller Härte gegen Aufständische vor.8 „Weder die Regierung noch das Militär geben dazu irgendeine Erklärung ab“, berichtet Benn. „Und niemand stellt Fragen. Tatsächlich interessieren sich die meisten Menschen 15 Jahre nach der zweiten Intifada nicht mehr dafür, was mit den Palästinensern geschieht.“ Dasselbe gelte im Übrigen für die wiederholten israelischen Bombardements in Syrien.

Auch für Amat Kam ist Haaretz deshalb „de facto die einzige Opposition gegen die Regierenden in Israel“. Doch dieser Umstand verdecke eine andere Tatsache: „Die Zeitung überzeugt nur diejenigen, die sowieso schon überzeugt sind.“ Bei vielen anderen Israelis ruft ihre Berichterstattung dagegen empörte Reaktionen hervor.

Ein Raum für palästinensische Perspektiven

Aber selbst vonseiten alternativer Medien wird die Zeitung immer wieder kritisiert. So zum Beispiel auch von der Nachrichtenwebsite Hamakom Hachi Ham Bagehinom (Der heißeste Ort in der Hölle)9 oder vom Fernsehsender Democrat TV, der von der israelischen Palästinenserin Lucy Aharish geleitet wird.

Das aktivste Medium jedoch, wenn es um Kritik an Haaretz von links geht, ist die Website Sikha Mekomit (Ortsgespräch) und deren englische Version +972.com. Einige ihrer Mitarbeitenden, vor allem aber Le­se­r:in­nen monieren in ihren Kommentaren, Haaretz sei zu zurückhaltend in ihrer Kritik an den israelischen Behörden.

Auch innerhalb von Haaretz selbst gibt es kritische Stimmen. Zu ihnen gehört die oben bereits genannte Amira Hass. Sie sagt zwar ebenfalls, dass es in Israel keine vergleichbare Zeitung gebe: „Wir veröffentlichen heute Artikel und Informationen, die früher nie publiziert worden wären, und verschaffen den Palästinensern eine Medienpräsenz, die es in den großen Medien sonst nirgends gibt.“

Aber sie gibt zugleich zu bedenken: „Haaretz vermittelt das Gefühl, vieles abzudecken. Aber es passiert so viel mehr, als berichtet wird, wie die Tötung von Kindern durch Soldaten, die Angriffe von Siedlern auf palästinensische Bauern und die unterschiedlichen Methoden der Landnahme durch Israel.“ Darüber adäquat zu berichten, könne vielleicht mit zehn zusätzlichen Jour­na­lis­t:in­nen gelingen, meint sie; aber das Interesse der Leser müsste größer sein. Zudem müsste häufiger aus palästinensischer Perspektive über Gesellschaftsthemen berichtet werden, sagt Hass, und nicht nur über die alltäglichen Zusammenstöße zwischen Palästinensern und Israelis.10

Andere Gesprächspartner blicken etwas abfällig auf „die Tel Aviver“, die in der Redaktion zahlenmäßig immer noch überrepräsentiert sind. Der Begriff zielt auf eine bestimmte Sorte Linker, die zwar irgendwie fortschrittlich ist, sich aber in ihrem Elfenbeinturm nicht wirklich für das Leben der Palästinenser interessiert.

Amira Hass kritisiert außerdem das Vokabular der Zeitung, das sich, jedenfalls wenn es um die Palästinenser gehe, „nicht ausreichend vom offiziellen Sprachgebrauch absetzt“. Zum Beispiel werde das Wort „Eskalation“, das israelische Militärsprecher gern bei einer Zunahme palästinensischer Attacken benutzen, oft unhinterfragt übernommen. „Der Siedlungsbau, der dermaßen konstant und aggressiv voranschreitet, wird hingegen nie als ‚Eskalation‘ bezeichnet.“

Als weiteres Beispiel nennt Hass geografische Verortungen. So werde eine palästinensische Stadt oder ein Dorf in der Presse – Haaretz eingeschlossen – oft über dessen Nähe zu einer jüdischen Siedlung verortet. Das vermittle einen falschen Eindruck von Koexistenz und Normalität. „Anstatt zu sagen, dass die Stadt Salfit in der Nähe von Ariel (einer großen israelischen Siedlung) liegt, würde ich schreiben, dass sie südwestlich von Nablus liegt und dass Ariel auf ihrem Land errichtet wurde.“

Doch Amira Hass betont auch, dass man als Journalistin bei Haaretz eine Freiheit zu Schreiben genieße, die es bei den anderen großen israelischen Medien nicht gebe. „Die betreiben alle massive Selbstzensur, wenn es um die Besatzung und die Kolonisierung geht.“

Bleibt die Frage, welchen Einfluss Haaretz auf die israelische Gesellschaft ausüben kann. Die Auflage der hebräischen Ausgabe liegt derzeit bei 69 000. Damit ist Haaretz zwar die Tageszeitung mit dem dritthöchsten Marktanteil (2021 lag dieser wochentags bei 4,7 Prozent), liegt aber weit abgeschlagen hinter Jediot Acharonot (23,9 Prozent) und der Gratiszeitung Israel Hajom (31 Prozent).11

In der Redaktion selbst gehen die Meinungen über den eigenen Einfluss auseinander. Sheren Falah Saab glaubt, dass sie „ein bisschen was bewirken“ kann. Das sehe sie an den Rückmeldungen der Leserinnen und Leser, auch wenn darunter viele Hasskommentare sind. Ihre Kollegin Hagar Shezaf spricht von den „kleinen Siegen“, wenn sich zum Beispiel die Armee gezwungen sieht, eine Erklärung zu ändern. „Aber wenn ich meine Arbeit in der Hoffnung machen würde, etwas zu ändern, würde ich wohl in tiefste Depression fallen.“

Gideon Levy sieht den Einfluss seiner Zeitung auf die israelische Gesellschaft „bei quasi null“. Allerdings sei die Geltung der Zeitung im Ausland inzwischen unbestritten. Das belegen auch die stetig steigenden Verkaufszahlen der englischsprachigen Ausgabe (mit einer aktuellen Auflage von 27 000), die in Zusammenarbeit mit der New York Times publiziert wird, sowie die Zugriffe auf die englischsprachige Website.

Alle, die sich für den Nahen Osten interessieren – Politikerinnen wie Geschäftsleute, Diplomaten wie Akademikerinnen – wüssten, dass Haaretz die einzige Quelle für zuverlässige Informationen sei, meint Levy. Die Zeitung hat zwar nicht die internationalen Machtverhältnisse verändert oder Israels diplomatische Erfolge verhindert. Aber sie ist mit ein Grund für den anhaltenden Imageverlust des Staats in der Welt.

Noa Landau hält es außerdem für verfrüht, Bilanz zu ziehen. Für sie besteht der größte Erfolg von Haaretz darin, dass sie wesentlich dazu beigetragen habe, den Versuch „die Nakba aus der gesellschaftlichen Debatte zu verbannen“, zu vereiteln. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu habe es während seiner ersten Amtszeiten mit mehreren Regierungen versucht.

Sie glaubt zudem, dass der entscheidende Erfolg ihrer Zeitung noch nicht zu merken ist, sondern sich erst durch die Gründung jüdisch-arabischer Gruppen andeutet – Gruppen wie Standing Together, die für gleiche Löhne für Juden und Araber kämpft. „Immer mehr Menschen der Linken verstehen, dass es in Israel keine Zukunft gibt, wenn man die Meinung der arabischen Seite nicht berücksichtigt.“ Immer häufiger arbeiteten Palästinenser und Is­rae­lis zusammen. „Und dieser Trend wird sich fortsetzen.“

Ob es wirklich so kommt, wird die Zukunft zeigen, aber genau dies ist der Weg, den Haaretz fördern will.

1 Ofer Aderet, „ ‚Place the Material in the Wells‘: Docs Point to Israeli Army’s 1948 Biological Warfare“, Haaretz, 14. Oktober 2022.

2 Die Staatsgründung Israels erfolgte am 15. Mai 1948.

3 Nach einem Bibelzitat aus Prediger 11,1.

4 Siehe Amos Elon, „Eine jüdische Heldensaga“, LMd, Januar 2005.

5 Siehe Charles Enderlin, „Der Weg in die Ethnokratie“, LMd, September 2019.

6 Siehe Nathan Thrall, „Boykott gegen Israel“, LMd, Dezember 2018.

7 Sheren Falah Saab, „The Tragic Life of Ghassan Kana­ fani“, Haaretz, 11. Oktober 2022.

8 Vgl. Alice Speri, „Israeli Raids in the West Bank Push Palestinians to Brink Again“, The Intercept, 16. November 2022.

9 Anspielung auf ein fälschlich Dante Aligheri zugeschriebenes Zitat: „Die heißesten Orte in der Hölle sind reserviert für jene, die in Zeiten moralischer Krisen nicht Partei ergreifen.“

10 Amira Hass hat auch in LMd publiziert, siehe etwa „Wahrheit und Wahrnehmung“, LMd, März 2004.

11 Zahlen nach dem Target Group Index (TGI).

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Sylvain Cypel ist ehemaliger Redakteur von LMd (Paris) und heute Chefredakteur von Courrier International.

© OrientXXI; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.01.2023, von Silvain Cypel