12.01.2023

Das Trauma von 1948

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Das Trauma von 1948

Wie sich palästinensische und jüdische Israelis an die Nakba erinnern

von Charlotte Wiedemann

Das Traume von 1948
Kasten: Der Teilungsplan

Es gab eine Zeit frischer, klarer Erinnerung, so klar wie der Himmel des Wintertags in der Novelle „Ein arabisches Dorf“. Sie erschien in Israel 1949, kaum ein Jahr nach der Staatsgründung.

Auszüge: „Wir sind gekommen und haben geschossen, niedergebrannt, gesprengt, verdrängt, vertrieben und verbannt. Wagen, Transporte. Woran erinnert dich das … Juden werden umgebracht. Europa. Jetzt sind wir die Herren. – Mit Hurra werden wir Wohnraum schaffen und Einwanderer eingliedern. Man wird die Felder pflügen und säen und abernten, ja wird Großes leisten. Es lebe das hebräische Chisa! Wer würde noch auf den Gedanken kommen, dass es einmal ein Chirbet Chisa gegeben hat, dass wir vertrieben und auch geerbt haben. – Meine Eingeweide schrien. Lüge schrie es in mir. Noch nie hat ein Maschinengewehr, Marke Spandau, irgendein Recht geschaffen. – In meinem Inneren stürzte etwas mit betäubender Wucht zusammen.“1

Ein schmales Büchlein, geschrieben aus Sicht eines jungen Beteiligten an den Ereignissen des Jahres 1948. Der Verfasser S. Yishar, eigentlich Yiz­har Smilanski, war kein Außenseiter; als preisgekrönter Schriftsteller gehörte er später lange der Knesset an. Anspielungen auf den Holocaust, auf die Verflochtenheit von Genozid, Staatsgründung und der Entwurzelung eines anderen Volks fanden sich damals bei einer Reihe von Dichtern und Poeten, der Prominenteste war Abba Kovner, polnischer Partisan, Schoah-Überlebender, später Zeuge im Eichmann-Prozess.2 Und vereinzelt weigerten sich jüdische Ankömmlinge aus Europa, Überlebende auch sie, in Häuser zu ziehen, wo die Teller jener anderen Geflohenen noch auf dem Tisch standen.

Zu wissen, dass es in Israel eine Zeit gab, in der klar und humanistisch die eigene Beteiligung am Inhumanen benannt wurde, war mir eine Hilfe, als ich mich auf die Suche nach verscharrter Erinnerung und verscharrter Humanität machte.

Al-Nakba, Arabisch für Katastrophe, bezeichnet das erzwungene Ende angestammter palästinensischer Existenz in jenen drei Viertel des historischen Palästinas, die zu Israel wurden. Konkret: Flucht und Vertreibung von 750 000 Männern, Frauen und Kindern zwischen Herbst 1947 und Frühling 1949. Nur im geringeren Maße war dies eine desaströse Folge des Angriffs seitens der arabischen Nachbarstaaten; vielmehr galt es, für das junge Israel strategisch zu erkämpfen, was der Teilungsplan der Vereinten Nationen gar nicht vorsah: eine eindeutige, machtvolle und haltbare jüdische Mehrheit im künftigen Staat (siehe den nebenstehenden Kasten).

Was später geschah, in weniger als einem Jahrzehnt, war ein doppeltes Auslöschen von Erinnerung: an den Akt der Vertreibungen und an die vorherige Existenz der Vertriebenen. Ich spreche darüber mit dem Holocaust-Historiker Omer Bartov, geboren 1954. „Als Kinder spielten wir in der Nähe sogenannter verlassener Dörfer, und wir fragten niemals: Wohin gingen die Araber? Warum sind sie nicht da?“ Der Staat war, wie selbstverständlich, ein Staat mit jüdischer Mehrheit, „und ich hatte lange keine Ahnung, wie diese Mehrheit zustande gekommen war“.

Risse im hermetischen Diskurs

Es habe damals zwei dominante Verneinungen gegeben: Nie über ein europäisches Gestern sprechen und nie über das Palästina, das es vorher gab. „Mit uns begann die Geschichte. Menschen wie ich galten als erste Generation von Einheimischen, während die Araber als die viel länger Einheimischen entnormalisiert wurden.“ Der Historiker erforscht in Israel die Biografien von Juden und Palästinensern seiner Generation und welche Bindung sie jeweils an das Land besaßen. Das palästinensische Einheimischsein zu bestreiten, sagt er, sei zur israelischen Staatsräson geworden.

Meine Suche nach dem Ausradierten beginnt in Tel Aviv: Die Stadt steht auf sechs zerstörten, getilgten palästinensischen Ortschaften – die Universität auf den Ruinen des Dorfs asch-Schaich Muwannis. Erhalten nur das Wohnhaus des Bürgermeisters, vom Fakultätsclub stillschweigend zum eleganten Restaurant umgebaut; kecke Verleugnung selbst an einer Stätte des Wissens. Im Ben-Gurion-Haus laufen Schwarz-Weiß- Film-Ausschnitte vom Unabhängigkeitskrieg, ohne Ton. Nichts von Vertreibungen, keine Kolonnen Flüchtender mit barfüßigen Kindern und gebeugten Alten. Meine Fantasie versucht, Szenen aus der Novelle „Ein arabisches Dorf“ in die Filmausschnitte hineinzukopieren. Damit praktiziere ich, noch ohne es zu wissen, die Methode der Organisation Zochrot: Was gelöscht wurde, wieder einfügen in die Bilder.

Zochrot bedeutet: Wir erinnern, und zwar in der weiblichen Form – so drückt sich der Wunsch aus, ein Geschichtsbild zu fördern, das nicht auf männlichen, kriegerischen Narrativen beruht, sondern auf Empathie und Inklusion. Dafür werden die Spuren palästinensischen Lebens wieder sichtbar gemacht. Eine iNakba-App zeigt auf einer digitalen Landkarte mehr als 500 entvölkerte Ortschaften; tippt man darauf, klappt zu jeder ein kleines Archiv auf, Ergebnis langjähriger Nachforschungen.

Ich schließe mich einer der regulären Touren von Zochrot an. Von Tel Aviv geht es nach Osten, über ein Gewirr von Stadtautobahnen zum „Jarkon Nationalpark“. In einer seltsamen Dialektik von Entwurzelung und Aufforstung wurden die Stätten der Vertreibung vielerorts mit schnellwachsendem Gehölz bepflanzt. Die jüdische Diaspora in aller Welt füllte Sammelbüchsen, damit in Israel der Wald wachse, wissend oder unwissend impliziert in das Begrünen der Amnesie.

Es ist Schabbat, im Park herrscht eine Atmosphäre heiteren Picknicks mit Gesängen und rauchendem Grillfleisch. Unsere Gruppe mit ihren Schildern, Landkarten und großformatigen Fotos wirkt wie von einem anderen Stern.

Die Tour wird von einer Jüdin und einer Palästinenserin gemeinsam geleitet; sie haben die Geschichte des verschwundenen Dorfs Al-Mirr rekonstruiert. Die Mutter von Rose Amer, der Palästinenserin, wurde hier geboren. Rose hält ihren Vortrag auf Arabisch, obwohl sie fließend He­bräisch spricht. Die Dominanz des Hebräischen schaffe in gemischten Gruppen stets eine nie zu überwindende Kluft. „Kolonialismus ist auch Kultur. Ich spreche jetzt zu Juden Arabisch als Ermutigung, das zu lernen.“ Die drei Dutzend Zuhörer warten geduldig auf die konsekutive Übersetzung ins Hebräische.

Um eine Rückkehr der Bewohner zu vereiteln, wurde Al-Mirr wie die meisten entvölkerten Dörfer planiert, samt dem Friedhof; nichts lässt ihn erahnen. „Meine Mutter“, sagt Rose, „kam einmal her, um den Atem der Vorfahren zu spüren. Und sie sah das hier.“ Beklommen schauen wir zu, wie sie im Waldboden die Konturen des einstigen Gräberfelds markiert. Die Tour verbindet Geschichtsunterricht mit Elementen von Erinnerungskultur. Als Rose später die arabischen Namen der ehemaligen Landbesitzer, auf deren Boden wir stehen, verliest – say their names auch hier ein Ritual des Bezeugens –, mögen sich jüdische Israelis für einen Moment als Gäste im eigenen Land empfinden. Eigen, was heißt das?

Die Ruine einer Wassermühle für Getreide: Sie stamme aus dem Altertum, informiert das Faltblatt der Parkverwaltung, und sei benannt worden nach einem Al-Mirr, das es „einst“ gegeben habe. Der Ort, wo Roses Mutter zur Welt kam, entrückt in eine neblige Ferne, die niemanden berührt. Rasch wird nun der Schutzzaun um die Ruine geöffnet und mit geübten Hammerschlägen ein Schild in den Boden gerammt, es holt Al-Mirr zurück in die jüngste Zeitgeschichte. Solche Hinweise stellen Mitstreiter von Zochrot regelmäßig auf, lange stehen bleiben sie nie.

Manchmal zertrampelt ein Passant das Holzschild mit solcher Heftigkeit, als kämen Wut und Abwehr von weit her – aus der tiefsitzenden Furcht, an das zu rühren, was der deutsch-jüdische Essayist Benjamin Korn Israels Geburtstrauma nennt: Um ihrem Exil ein Ende zu machen, hätten Juden ein anderes Volk vertrieben, das seinerseits zurückwolle. „Dieses Trauma ist so stark und reicht so tief, dass es geleugnet werden muss.“3

Jüdischen Israelis beibringen, auf Hebräisch über die Nakba zu sprechen: Damit war Zochrot bei seiner Gründung vor 20 Jahren ein Pionier, allein auf weiter Flur. Was hat sich seitdem verändert? In Zochrots bescheidenem Büro spreche ich darüber mit Umar al-Ghubari, langjähriger Dokumentar palästinensischer Geschichte und der erfahrenste Experte der Gruppe. „Unser Ziel war, Risse zu bewirken in einem hermetischen Diskurs. Heute sehe ich fast jeden Tag in einer hebräischsprachigen Zeitung das Wort Nakba; es muss nicht mehr erklärt werden, das ist ein Fortschritt. Die Vertreibungen gelten nicht mehr als Fantasiegebilde. Aber sie werden gerechtfertigt, es gibt kein Schuldbewusstsein. Und es wird daraus sogar eine Drohung an Palästinenser gerichtet: ‚Erinnert euch, was wir taten; wir können es wieder tun.‘ “ Nur bei einer kleinen jüdischen Minderheit sei jenes aufgeklärte Bewusstsein entstanden, das sich Zochrot erhoffte. Die Risse, die es nun gebe, würden von der Mehrheit umso härter bekämpft: „Aus Furcht, sie könnten das ganze Gebäude von 1948 zerstören.“

Die Anthropologin Norma Musih leitete Zochrot in den frühen Jahren. „Am Anfang dachten wir, Wissen und Verstehen sei dasselbe. Wir glaubten, aus Wissen werde Verantwortung für die Geschichte folgen. Das war Wunschdenken.“ Norma, eine Frau der eher leisen Töne, glaubt heute, die jüdische Bevölkerung Israels brauche ganz neue Imaginationsformen, um sich als gleichberechtigt mit palästinensischen Bürgerinnen und Bürgern denken zu können. Dafür hat sie den Begriff Unlearning zionism in Umlauf gebracht, den sie so übersetzt: „Denken entgegen dem, was du gelernt hast, gegen die Mechanismen deines Wissens.“ Konkret: Die „angebliche Unvermeidlichkeit“ dieser Art Staatsgründung hinterfragen. „Die zionistische Ideologie will uns glauben machen, es habe keine andere Option gegeben, und es gebe auch heute keine Alternative zum jüdischen Staat.“ Sie erinnert an Hannah Arendt, Albert Einstein, Martin Buber; waren sie nicht bereit 1948 für eine binationale Lösung, mit gleichen Rechten für alle?

Unser Gespräch findet im Garten des Museums für Moderne Kunst statt, wo sich Tel Aviv so sympathisch-unbekümmert zeigt, als gäbe es weder Besatzungsunrecht noch strukturelle Ungleichheit. „Erworbene Blindheit“ nennt die Anthropologin diesen Zug der israelischen Gesellschaft. Norma wurde in Buenos Aires geboren; die Großeltern, polnisch und rumänisch, konnten sich vor der Schoah im letzten Moment nach Argentinien retten. Norma wanderte 1990 mit 14 Jahren nach Israel ein; als Jüdin genoss sie ein Rückkehrrecht, während im Land geborenen Palästinensern die Rückkehr verweigert wird. Der Prozess, „Israeli zu werden“, habe bedeutet, die Anpassung an vieles zu erlernen, das eigentlich unerträglich sei. Nach zehn Jahren in Israel entschied sie, die Anpassung zu beenden und das ihr Unerträgliche zu bekämpfen.

Auf einem jüdischen Staat zu bestehen, bedeute ein Leben mit Gewalt, sagt sie, eine fortgesetzte Nakba. „Es geht nur jüdisch oder demokratisch, nicht beides.“ Sie unterstützt ein palästinensisches Recht auf Rückkehr, wohl wissend, dass viele ihrer jüdischen Landsleute dies mit einem zweiten Holocaust gleichsetzen.

Der syrische Historiker und Kulturphilosoph Constatine Zurayk prägte den Begriff Nakba bereits im Verlauf des Jahres 1948, doch im Westen wurde arabischer Geschichtsschreibung lange wenig Bedeutung beigemessen. Die dunkle Seite der welthistorisch aufgeladenen Gründung des jüdischen Staats wurde im anglofonen Raum erst zum Thema, als in den 1980er Jahren die Werke der israelischen „Neuen Historiker“ erschienen. Sie basierten auf Dokumenten, die staatliche Archive 30 Jahre nach den Ereignissen von 1948 freigegeben hatten. Seither ist belegt, wie Gräuel­taten eingesetzt wurden, um Panik zu schüren, wie auf Zivilisten geschossen wurde, die weiße Fahnen schwenkten, wie Granaten in Wohnungen geworfen wurden.4 Das Anliegen der Historiker, eine freimütige Debatte über die Vergangenheit anzustoßen, zerschellte in Israel indes an der Härte eines gegenläufigen Trends, am erstarkenden Nationalismus und Autoritarismus.

So wurde der zionistische Mythos von der sprichwörtlichen „Reinheit der Waffen“ nicht etwa durch eine Reflexion abgelöst, die womöglich auch den Blick auf die Palästinenser verändert hätte, sondern durch hemdsärmelige Apologie: Die Staatsgründung erforderte eben Grausamkeiten, aber das seien Einzelfälle gewesen.

Wissen ohne Empathie sei in Israel heute die vorherrschende Haltung zur Nakba, glaubt der Historiker Derek Penslar, während sein Kollege Ofer Ashkenazi so formuliert: „Der Mainstream arbeitet weiter hart daran, über die Details und die langfristige Wirkung der palästinensischen Tragödie unwissend zu bleiben.“5 Die Nakba sei in Israels Identität „zugleich abwesend und schmerzlich anwesend“. Alon Confino benennt diese Dialektik so: Die Nakba werde auch durch ihre Verleugnung erinnert.

Das Bildungsministerium verbietet Schulen, das Thema im Unterricht zu behandeln. Manche jüdischen Lehrkräfte versuchen es dennoch, buchen eine Tour für ihre Klasse bei Zochrot oder benutzen deren Lernmaterialien. Werden sie angeschwärzt, droht Kündigung. So wie ein Guide von Yad Vashem entlassen wurde, nachdem er einer Besuchergruppe erklärte, sie könnten von der Aussichtsplattform der Gedenkstätte den Schauplatz des Massakers von Deir Yasin sehen. Am 9. April 1948 wurden in diesem Dorf über hundert Menschen ermordet, Gefangene gefoltert, vergewaltigt.6 Die Nachricht über das Massaker löste andernorts panische Fluchtbewegungen der arabischen Bevölkerung aus, etwa in Haifa.

Das Gebäude der Verleugnung wurde lange auch von linksliberalen Intellektuellen gestützt. Sie konzentrierten ihre Kritik lieber auf die Besetzung des Westjordanlands, als Abweichung vom vermeintlich gerechteren Zionismus der Ära Ben-Gu­rion.7 Die Wahrheit über die Nakba passte da nicht hinein. Manchmal spotten Siedler aus dem Westjordanland über die Liberalen in Tel Aviv: Ihr redet über Menschenrechte und lebt selbst auf arabischem Land; was ihr getan habt, war viel gewalttätiger als unser Siedlungsbau.

Aufwachsen mit der Hoffnung auf Rückkehr

In jenem Maße, wie eine Zweistaatenlösung unrealistisch wird und die friedenspolitische Linke bedeutungslos, rückt 1948 nun in den Fokus einer neuen zivilgesellschaftlichen Opposition; sie betrachtet Besatzung und Nakba als zwei Seiten derselben Münze. Und tatsächlich ist 1948 der neuralgische Punkt, auf den entscheidende Fragen der Gegenwart zurückverweisen – nach der Zukunft des damals konstruierten jüdischen Staats und nach der Möglichkeit eines gemeinsamen Einheimischseins von Juden und Palästinensern.

Von Tel Aviv sind es im Bus zwei Stunden bis Nazareth. Nun bin ich in einem Gebiet, das nach dem UN-Teilungsplan von 1947 zum arabischen Staat gehören sollte; binnen weniger Tage wurde es von der israelischen Armee erobert. Da waren im östlichen Galiläa, das wiederum zum jüdischen Staat gehören sollte, die meisten Palästinenser schon aus ihren Dörfern vertrieben.

Nermeen Mawed holt mich in ihrem Mini-Cooper ab. Britisch sei eigentlich nicht ihr Ding, sagt sie, siehe Kolonialismus. Eine Muslimin, die ein christliches Gymnasium besuchte, Innenarchitektur und Journalismus studierte, mit 40 Jahren ledig, ein kritischer Geist. Die Verwandtschaft weit verstreut: Libanon, Syrien, Deutschland. Für unseren Ausflug ins Dorf der Vorfahren hat sie sich mit Bedacht gekleidet: ein besticktes Tuch über der weißen Bluse, darauf der Silberanhänger mit einem Zitat von Mahmud Darwisch. Sie möchte Palästina würdig vertreten und dabei gut aussehen.

Unser Ziel, nördlich von Nazareth, ist ein geschichtspolitisches Phänomen: Ein Ort, drei Zeitschichten, drei ähnliche Namen. Sepphoris, eine römische Siedlung; Ausgrabungen sind zu besichtigen. Saffuriya, osmanisch-palästinensisches Dorf aus dem 16. Jahrhundert. Tzippori, jüdische Agrarsiedlung von 1949.

Die mittlere Schicht, die palästinensische, ist verschwunden. Fast nichts blieb vom muslimischen Dorf Saffuriya, mit 5000 Einwohnern das größte in Galiläa. Eine Mauer aus hellen Steinen, ein Wasserbecken, dorthin führt mich Nermeen. Die Quelle, mythischer Ort in allen Erzählungen, hier trafen sich die Frauen, plauderten, lernten ihre künftigen Ehemänner kennen. So war es auch bei ihrer Großmutter, von der Nermeen sagt: „Ich entdeckte Saffuriya durch ihre Augen und ihre Tränen.“ Sie war Chronistin des kollektiven Schicksals, ohne den Begriff Nakba zu kennen.

Nermeen nennt das Dorf, das sie nie gesehen hat, ihre Identity Card: „Die Dörfer sind unser Palästina“, Ersatz für Heimat. „Israel ist nicht mein Staat“, sagt sie, „ich gehöre nicht dazu.“ Für die Aneignung palästinensischen Erbes durch Juden verwendet sie das Wort Israelisierung. Etwa Sabra, die Feigenkakteen; sie sind hier – wie die Steine an der Quelle – die unverwüstlichen letzten Zeugen des Vergangenen. Über Jahrhunderte markierten sie die Grenzen palästinensischer Dörfer. Und dann wurde Sabra zur Bezeichnung in Israel geborener Juden, der neuen echten Einheimischen, die nun sabr, die Ausdauer, für sich reklamierten.

Nermeen hat Videos gedreht mit Teenagern, damit die vierte Generation nach der Nakba, deren Arabisch von Hebräisch durchzogen ist, nicht die Worte verliert und das Wissen. Das Ortsschild von Tzippori ist zu sehen, überklebt mit dem Schriftzug Saffuriya; eine männliche Stimme singt „Ya Baladi“, mein Land!, ein Pferd galoppiert durchs Bild, Kinder betasten alte Gewänder.

Die Videos waren Teil eines „Al-Awda“-Projekts, Arabisch für Rückkehr. Was bedeutet, jenseits von Nostalgie, Awda für sie? Nermeen zögert. Sie schreibe an einer Kurzgeschichte, über ihre Verwandten im Libanon: Sie kommen aus dem Flüchtlingslager, suchen nach dem unsichtbaren Saffuriya. Ob sie bleiben, sei in der Erzählung noch nicht entschieden. „Es soll keine gewalttätige Geschichte sein. Wir sollten den Juden nicht das antun, was sie unseren Großeltern antaten.“

In Nazareth wohnt sie im Viertel Safafira; ein vierter Name und eine vierte Zeitschicht: An diesem nordwestlichen Stadtrand ließ sich die erste Generation der Vertriebenen nieder, von hier sahen sie auf ihre Ländereien. Wenn sie versuchten, in das, was so nah schien, zurückzukehren, galten sie als feindliche Eindringlinge, auf die geschossen werden durfte.

Suheil Khouri, schwarze Soutane, 64 Jahre, hat den zügigen und zugleich bedachtsamen Schritt eines Kirchenmanns. Der orthodoxe Priester stammt aus Iqrit, so formuliert er es, obwohl sein Geburtsort wegen der Vertreibung einige Kilometer entfernt lag. In seiner Kindheit, sagt er, sei er mit der Hoffnung auf Rückkehr aufgewachsen „wie mit Speis und Trank“.

Iqrit in Nordgaliläa, etwa 50 Kilometer von der Grenze zum Libanon, war ein besonderer Fall. Als israelische Soldaten das christliche Dorf einnahmen, hieß sie der Dorfpriester mit der Bibel in der Hand als „Kinder Israels“ willkommen. Wenig später sollten die 480 Einwohner den Ort aus Sicherheitsgründen vorübergehend räumen, nur für zwei Wochen. Sie bestiegen die Lastwagen der Armee und ließen in gutem Glauben alles zurück. „Seitdem leben wir die Nakba“, sagt der Priester.

1951 errangen die Iqriter ein Urteil des obersten Gerichts: Sie dürften wieder in ihr Dorf – sofern die Armee zustimme. In der darauffolgenden Weihnachtsnacht sprengten Soldaten sämtliche Häuser, verschonten nur Kirche und Friedhof. Daran hielten sich die Iqriter fest, machten Taufe, Hochzeit, Beerdigung zum spirituellen Rückkehrersatz.

Die erste Eheschließung 1972 fand unter einem hohen Feigenkaktus statt, Suheil Khouri sah als Halbwüchsiger zu. „Damals ließ uns die Polizei noch nicht in die Kirche.“ Später wurde der Bau aus behauenen Quadern mit vereinten Kräften renoviert. Die Marienstatue auf dem Dach in frischem Weiß, die Glocke am bodenlangen Seil, Blumentöpfe auf dem Vorplatz. Drinnen alles fein geschmückt, vor dem Altar ein Teppich, dort stehen Mädchen mit Kerzen in hohen Silberleuchtern, wenn der Priester die Messe liest. „Die Kirche“, sagt er, „ist unser einziges Zuhause in Iqrit.“

Junge Männer halten dort umschichtig Nachtwache. An Ostern wird in langen Reihen vor der Kirche getanzt. Die Sakramente verbinden drei Generationen mit dem Dorf – Suheil Khouri traut und tauft und hat mehr als 150 Bestattungen vorgenommen. Nur wer tot ist, darf bleiben. „Aber wir wollen dort leben, nicht nur beerdigt sein.“

Er zeigt mir eine Panoramaansicht von Iqrit, wie es einmal war, oben auf einem Hügel. Ein Schwarz-Weiß-Foto von 1938, der Priester trägt es auf dem Smartphone in der Soutane immer bei sich, zusätzlich eine kolorierte Kopie: das Objekt der Liebe, bunt wie von Hundertwasser gemalt, unter einem fantastisch blauen Himmel.

Aus den 480 Iqritern sind heute 1300 geworden, sämtlich in Israel. Wäre es möglich, frage ich, dass alle wieder auf dem Hügel lebten? „Natürlich“, sagt der Priester. „Ich wäre der Erste, der zurückginge.“ Es wurde ein Masterplan entwickelt, von einem Experten an der Technischen Universität Haifa, für ein größeres, modernes Iqrit von morgen. Es gibt mehr solcher Modelle; auch Zochrot arbeitet daran, die Praktikabilität von Rückkehr zu zeigen und das Thema aus seiner Abstraktion zu holen, wo es ein Platzhalter ist für palästinensische Träume und für jüdische Furcht.

Über allem aber steht die vorenthaltene Anerkennung von Verlust und Schmerz.

Im Bus nach Jerusalem hört der Fahrer Koranrezitationen, während ein Reisender mit wehenden Schläfenlocken das Erbrochene aufwischt, das sein Baby in weitem Bogen durch den Gang gespuckt hat. Wie eng lebt man aufeinander in diesem kleinen Land, obgleich oft so getrennt.

Eng beieinander kann das Trennende auch in einer jüdischen Familienbiografie sein, wie im Fall der Juradozentin und Menschenrechtsaktivistin Daphna Golan, eine Mittsechzigerin mit ungebändigten silbergrauen Locken und verhaltenem Trotz in den Augen. Ihr geliebter Vater war ein Akteur der Nakba, und sie beschützt nun die Überreste eines Dorfs, dessen Bewohner vor Menschen wie ihm die Flucht ergriffen.

Lifta, in idyllischer Hanglage am westlichen Stadtrand Jerusalems, ist die einzige palästinensische Ortschaft im heutigen Israel, deren Architektur die Entvölkerung überdauerte. Ich gehe über gewundene Steinpfade wie durch ein Freilichtmuseum. Die Terrassen der Olivenhaine noch erkennbar mit ihren gemauerten Begrenzungen; Kanäle, Treppen, Mandelbäume, die obligatorischen Kakteenhecken, die Kuppeldächer der Häuser. All dies sollte dem Bau von Luxus­apart­ments weichen. „Rettet Lifta“, eine zivilgesellschaftliche Koalition mit Daphna Golan an der Spitze, kämpfte dagegen 16 Jahre lang, zuletzt erfolgreich.

Nun die persönliche Seite. Daphnas Vater Meir Davidovitch, gebürtiger Danziger, war ein Kommandeur der sogenannten Stern-Bande, einer Miliz des jüdischen Untergrunds, und am Massaker von Deir Yasin beteiligt. Er hing der Ideologie des rechtsextremen Rabbiners Meir Kahane an, teilte dessen Vision eines jüdischen Staats frei von Arabern. Seine Tochter tritt seit Jahrzehnten dafür ein, dass die Vision nicht Wirklichkeit wird.

Sie war Mitbegründerin von B’Tselem, des Infozentrums für Menschenrechte in den besetzten Gebieten, schrieb Berichte über Administrativhaft und Folter, und an Sonntagen fuhr sie ins  Westjordanland, um von der Armee zerstörte palästinensische Wohnhäuser wiederaufbauen zu helfen. Und sie brachte ihre Studenten nach Lifta, gemischte Gruppen, jüdisch, palästinensisch. Die einen schwiegen aus Scham, andere weinten; miteinander reden mussten alle erst lernen. Daphna verfasste ein Buch über ihre Erfahrung, an einer israelischen Universität über Palästina zu lehren: „Unsettling Denial“, die Leugnung erschüttern.8

Und nun sitzt die rechtsextreme Ideologie, die der Vater vertrat, die sinistre Vision des ethnisch gesäuberten jüdischen Staats, in der Regierung. Mit einem Minister Bezalel Smotrich, der arabischen Abgeordneten der Knesset zurief: „Ihr seid nur hier, weil Ben-Gurion den Job 1948 nicht zu Ende gebracht und euch hinausgeworfen hat.“9

Angst geht um, Angst vor neuen Vertreibungen.

Der Erhalt von Lifta ist vor diesem düsteren Panorama ein kleiner, rarer Sieg. Für Daphna Golan gleicht das Dorf einer offenen Wunde. „Fromme Juden lassen ein Stück Mauer unbemalt, wenn sie ein Haus bauen, als Erinnerung an die Zerstörung des Tempels. Das ist Lifta für den Staat Israel.“

1 S. Yishar, „Ein arabisches Dorf“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1997. Im Original: „Hirbet Hizah“, 1949.

2 Hannan Hever, „From Revenge to Empathy. Abba Kovner from Jewish Destruction to Palestinian Desruction“, in: Bashir Bashir  und Amos Goldberg (Hg.), „The Holocaust and the Nakba. A New Grammar of Trauma and History“, New York (Columbia University Press) 2019, S. 275 ff.

3 Benjamin Korn, „Kreislauf der Rache“, Lettre International, Nr. 137, Sommer 2022, S. 71.

4 Für Details siehe unter anderem Ilan Pappe, „Die ethnische Säuberung Palästinas“, Frankfurt am Main (Westend). Neuauflage 2019.

5 Ofer Ashkenazi, „Hidden in Plain Sight. The Nakba and the Legacy of the Israeli Historians' Debate“, Zeithistorische Forschungen, Heft 3, 2019.

6 Omri Böhm, „Israel – eine Utopie“, Berlin (Propyläen) 2020, S. 107.

7 Vgl. Böhm, Anmerkung 6, S. 114.

8 Daphna Golan-Agnon, „Teaching Palestine on an Israeli University Campus. Unsettling Denial“, London (Anthem Press) 2020.

9 „Smotrich at Knesset: Ben-Gurion should have ‚finished the job‘ “, Times of Israel, 3. Oktober 2021.

Charlotte Wiedemann ist Journalistin und Autorin. Zuletzt erschien von ihr „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“, Berlin (Propyläen Verlag) 2022.

© LMd, Berlin

Der Teilungsplan

Vor der Staatsgründung Israels (14. Mai 1948) machten jüdische Einwanderer und Siedler im britischen Mandatsgebiet Palästina etwa ein Drittel der 1,8 Millionen Einwohner aus; ihnen gehörten nur 6 Prozent des Bodens. Der Teilungsplan, den die Vereinten Nationen im November 1947 beschlossen, sprach dem künftigen jüdischen Staat 56 Prozent der Fläche zu, aber mit einer demografisch nur knappen jüdischen Mehrheit. Zur Annahme des schon damals skeptisch bewerteten Konstrukts reichten 33 Stimmen – die kolonisierte Welt war in der UN noch kaum vertreten.

Die palästinensische Bevölkerung lehnte den Plan ebenso ab wie die arabischen Nachbarstaaten. Letztere griffen das neu gegründete Israel im Mai 1948 an; die jüdischen Kampfverbände errangen aufgrund besserer Waffen und besseren Trainings jedoch bald die Oberhand und nutzten dies, um Israel weit über das im UN-Plan vorgesehene Territorium hinaus zu vergrößern, auf fast 80 Prozent des historischen Palästinas. Vertreibungen begannen bereits vor dem arabisch-israelischen Krieg.

Etwa 750 000 Palästinenser verließen Israel gezwungenermaßen. Die verbliebenen etwa 130 000 lebten bis 1966 unter Militärrecht; 70 Prozent ihres Landbesitzes wurde enteignet. Im Juni 1948 entschied Israel, es dürfe keine Rückkehr von Vertriebenen und Geflüchteten geben. Ihre Dörfer wurden unbewohnbar gemacht und zum Reservoir für Baumaterial.

Quellen: Jörn Böhme und Christian Sterzing, „Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts“. Frankfurt am Main (Wochenschau Verlag) 2018; ­Mu­riel Asseburg, „Palästina und die Palästinenser“. München (C. H. Beck) 2021.

Le Monde diplomatique vom 12.01.2023, von Charlotte Wiedemann