09.03.2023

Die Erde bebt und was macht Erdoğan?

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Die Erde bebt und was macht Erdoğan?

Während sich der türkische Präsident mit der Nothilfe sichtlich schwertat, war die Opposition sofort zur Stelle. Sie organisierte schnelle Unterstützung, wo staatliche Stellen versagten, und kritisierte sehr vernehmlich die Baupolitik. Trotzdem könnte der Langzeitherrscher auch diese Katastrophe überstehen.

von Ariane Bonzon

MUHAMMAD ATA/picture alliance/zumapress
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Am 6. Februar 2023 erschütterten zwei gewaltige Erdbeben die Türkei und Syrien. In zehn türkischen Provinzen und in den vor allem von Kurden besiedelten Regionen in Nordsyrien gab es mehr als 50 000 Tote (Stand 6. März), von denen viele nicht mehr identifiziert werden konnten. Fast 2 Mil­lio­nen Menschen verloren ihr Zuhause, viele blieben mehrere Tage ohne Hilfe. Ganze Stadtviertel sind zerstört, die Bewohner auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Infrastruktur ist in weiten Gebieten schwer beschädigt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan spricht von der „Katastrophe des Jahrhunderts“.

Nach dieser Katastrophe stellt sich allerdings auch die Frage nach der politischen Verantwortung Erdoğans und nach dem diplomatischen Einfluss, den sein Land künftig genießen wird. Wenige Monate vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai haben diese Fragen besonderes Gewicht.

Erdoğan hat allen Grund, eine Niederlage zu fürchten. Denn dann müsste er sich, nach 20 Jahren an der Macht, mitsamt seiner Entourage für zahllose in den letzten zehn Jahren begangene Verletzungen des Rechtsstaats verantworten und mit Anklagen wegen Betrug und Korruption rechnen. „Er­do­ğan weiß, dass er wegen Verrat und Unterschlagung vor dem obersten Gerichtshof landen wird, wenn er verliert“, erklärt Bayram Balci, Politikwissenschaftler am Centre de recherches internationales (Ceri).

Auch wenn der Präsident vor dem 6. Februar in Umfragen hinter den potentiellen Kandidaten der Republikanischen Volkspartei (CHP, Mitte-­links, laizistisch) zurücklag, stand es für ihn gar nicht so schlecht – obwohl klar war, dass Erdoğans großspurige Ankündigungen – 2023 sollte die Türkei zu den zehn stärksten Wirtschaftsmächten der Welt aufsteigen, mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 25 000 US-Dollar pro Einwohner – nicht eintreffen werden.

Alles offen vor den Wahlen

Anfang Oktober 2022 erreichte die Inflation mit über 83 Prozent ihren Höchststand, bei Lebensmitteln stiegen die Preise sogar um 93 Prozent. Im letzten Jahrzehnt ist das BIP um 1903 US-Dollar auf 9327 US-Dollar gesunken, und auf der Weltrangliste der 50 größten Volkswirtschaften stand das Land 2021 auf Platz 19.

Aber der Präsident hatte noch ein paar Trümpfe im Ärmel. Im September 2022 versprach er, 500 000 Sozialwohnungen zu bauen; vier Monate später kündigte er die Erhöhung des Mindestlohns um 50 Prozent an. Damit legte er in den Umfragen ein paar Prozentpunkte zu. Eine weitere populäre Maßnahme war die Abschaffung des Mindestalters für den Renteneintritt. Bisher wurde fast 2 Millionen türkischen Beschäftigten eine Rente auch dann verwehrt, wenn sie die nötigen Beitragsjahre vorweisen konnten.

Erdoğans offensive Außenpolitik im Kaukasus und in Afrika oder die Bombardierung der autonomen Kurdengebiete in Nordsyrien wird auch nur im Westen kritisch gesehen. In der Türkei stößt diese Politik eher auf Zustimmung; auch die Oppositionsparteien sind mit Ausnahme der Demokratischen Partei der Völker (HDP, links, für kurdische Autonomie) dafür.

Konsens besteht auch hinsichtlich der Entscheidung, die Millionen syrischen Flüchtlinge abzuschieben, die einst als „Gäste“ kamen und nun unerwünscht sind.1 Und dass die Türkei erkennbar davon profitiert, dass sie die Sanktionen gegen Russland nicht mitmacht, stellt viele Wählerinnen und Wähler ebenfalls zufrieden. Vor dem 6. Februar war der Wahlausgang zwar keineswegs sicher, aber Erdoğan hatte durchaus eine Chance – zumal im Hohen Wahlausschuss (YSK) vor allem regimefreundliche Richter sitzen und das Fernsehen „fast ausnahmslos unter Kontrolle der Regierung steht“2 .

Und nun? Das zerstörerische Erdbeben hat auch die türkische Gesellschaft erschüttert. 14 Millionen Menschen sind unmittelbar betroffen. Tagelang saß das ganze Land vor dem Fernseher, in dem rund um die Uhr und live über die Such- und Rettungsarbeiten berichtet und zu Spenden und Hilfen aufgerufen wurde. Zwei Tage nach der

Katastrophe sprach der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu in einer nüchternen und sehr ernsten Videoansprache den Opfern seine Anteilnahme aus, prangerte zugleich aber die Inkompetenz der Behörden an und auch die Desinformationskampagnen der Regierung. Am Ende erklärte Kılıçdaroğlu, es gebe einen großen Verantwortlichen für die Katastrophe, und das sei Er­do­ğan: „Zwanzig Jahre lang hat seine Regierung das Land nicht auf ein Erdbeben vorbereitet.“

Dieser Frontalangriff bedeutete eine radikale Wende. Damit brach der CHP-Vorsitzende die ungeschriebene Regel, an die sich seine Partei in der Vergangenheit im Namen der nationalen Einheit bei jedem Attentat und jeder militärischen Auslands­ope­ra­tion gehalten hatte, aber auch bei dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 oder bei der Verfolgung und Verhaftung kurdischer HDP-Abgeordneter in den vergangenen Jahren.

Die Opposition hat sehr rasch auf die Katastrophe reagiert, stellt der Sozialgeograf und Turkologe Jean-François Pérouse fest, der seit 1999 in Istanbul lebt. Sie eröffnete umgehend die Diskussion über den Umgang mit der Krise und das hyperzentralisierte Machtsystem, über die Günstlingswirtschaft und das Schneckentempo der Armee beim Einsatz in den Katastrophengebieten. Der Istanbuler CHP-Bürgermeister Ekrem İmamoğlu fuhr sofort ins Katastrophengebiet. In der schwer betroffenen Region Hatay habe die CHP mit beispielhafter Effizienz geholfen, berichtet Pérouse, und „quasi anstelle des Staats die Infrastruktur wiederhergestellt“.

Auch Selahattin Demirtaş, der frühere Co-Vorsitzende der prokurdischen HDP3 , der sich seit November 2016 in Edirne in Untersuchungshaft befindet, hat aus dem Gefängnis heraus den Staatspräsidenten für die nationale Katastrophe verantwortlich gemacht. Und darüber hinaus eine Wahlempfehlung für den CHP-Kandidaten Kılıçdaroğlu ausgesprochen. Sollte die kurdische Basis der HDP auf ihren Vorsitzenden hören, könnte das Erdoğans Wahlniederlage besiegeln.

Für den Präsidenten geht es jetzt vor allem darum, von seiner politischen Verantwortung abzulenken und sich als „Retter“ und „Organisationsgenie“ zu inszenieren. Nur wenn ihm das gelingt, kann er noch auf einen Wahlsieg hoffen. Das ist auch das Leitthema von Erdoğans PR-Feldzug, für den er alle staatlichen Ressourcen mobilisiert.

Bei seinem ersten Besuch im Erdbebengebiet sprach er zuerst von der Hand des Schicksals, gegen das der Mensch machtlos sei, und gab lediglich „Lücken“ zu, da man „unmöglich auf so eine Katastrophe vorbereitet sein“ könne. Erst nach drei Wochen, am 27. Februar, hat sich Erdoğan in Adiyaman wegen der verspäteten Rettungseinsätze entschuldigt: „Wegen der verheerenden Auswirkungen der Beben und des schlechten Wetters konnten wir in Adiyaman in den ersten Tagen nicht so arbeiten, wie wir wollten. Dafür bitte ich um Entschuldigung.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits mehrere Bau- und Immobilienunternehmer verhaften lassen, um anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Konkretes Versagen dingfest zu machen, ist aber tatsächlich gar nicht so einfach, weil die Verantwortung bis in die lokalen Behörden reicht, die die Baugenehmigungen erteilt haben. Während laut Pérouse 40 Prozent der nach 2000 errichteten Gebäude zerstört wurden, hat es bei den Sozialbauten, die im Auftrag der staatlichen Wohnungsbaubehörde Toki (Toplu Konut İda­re­si Başkanlığı) errichtet wurden, vergleichsweise geringe Schäden gegeben.

Außerdem hat der türkische Präsident eine Beihilfe von 10 000 türkischen Pfund (494 Euro) für jede betroffene Familie angekündigt und allen, die ihre Wohnung verloren haben, eine neue versprochen – und das „binnen eines Jahres“. Das Versprechen klingt total unrealistisch. Nach Sinan Ülgen, Direktor des unabhängigen Istanbuler Thinktanks Edam, ist es schlicht unmöglich, in so kurzer Zeit 250 000 Gebäude zu ersetzen.

Trotz der Organisation einer na­tio­nalen Spendenkampagne, die in den staatlichen Medien intensiv beworben wird, hat sich Ankara schnell um internationale Hilfe bemüht. Mehr als 80 Staaten haben Zusagen gegeben, darunter Länder wie Griechenland, Armenien und Israel, zu denen die Beziehungen angespannt sind.

„Das ist ein psychologischer Bruch“, stellt der Politikwissenschaftler ­Gilles Dorronsoro fest: „Bisher hat man der Öffentlichkeit eine selbstbewusste Türkei präsentiert, die etwa in Afrika Frankreich den Rang abläuft und als Vermittler zwischen dem Westen und Russland auftritt – und jetzt ist diese Türkei auf internationale Hilfe angewiesen.“ Deshalb ist kaum anzunehmen, dass die internationale Kampagne eine Dynamik erzeugt, von der Er­do­ğan profitieren kann.

Vor dem Türkei-Besuch von US-Außenminister Tony Blinken am 19. Februar urteilte der frühere Diplomat und Botschafter Michel Duclos: „Die Türkei ist geschwächt, sie muss also Entgegenkommen zeigen. Zum Beispiel, wenn Washington fordert, dass sie aufhört, Russland in die Hände zu spielen.“

Neue Perspektiven durch Erdbebendiplomatie?

Die USA könnten die Türkei auch auffordern, in Aserbaidschan dafür zu sorgen, dass das Embargo für den Latschin-Korridor aufgehoben wird, der Armenien mit Bergkarabach verbindet. Zu der langen Liste von Streitfragen, zu deren Lösung die berühmte Erdbebendiplomatie und die veränderten Kräfteverhältnisse beitragen könnten, lassen sich noch die ungeklärte Lage in Libyen und der Ägäisstreit mit Griechenland hinzufügen.

Die EU hat eine Geberkonferenz angekündigt, die, Ironie des Schicksals, unter der EU-Präsidentschaft Schwedens organisiert wird, dessen Nato-Beitritt immer noch von Ankara blockiert wird. Auch die Normalisierung der Beziehungen zu Syrien (siehe nebenstehenden Beitrag), zu der Putin seinen türkischen Amtskollegen drängt, könnte auf die lange Bank geschoben werden. Der Sicherheitsexperte Gareth Jenkins warnt jedoch vor voreiligen Schlüssen: „Er­do­ğans aggressive Außenpolitik macht wegen des Erdbebens eine Pause, aber das heißt nicht, dass er sie endgültig aufgegeben hätte.“

Der renommierte Politikwissenschaftler Bertrand Badie erinnert daran, dass „Erdoğan ein Champion des multi-alignment ist, einer offenen Beziehung statt der alten diplomatischen Ehe. Das verschafft ihm die notwendigen Ressourcen, um die Politik der internationalen Hilfe, auf die er jetzt angewiesen ist, selbst zu dirigieren, zu ­interpretieren und neu auszurichten.“

Die Erdbebenkatastrophe erschwert immerhin die verbale Eskalation gegenüber Israel oder Griechenland. Deshalb „wird sich der Wahlkampf viel weniger auf die internationale und viel mehr auf die Innenpolitik konzentrieren“, meint Sinan Ülgen, dessen ak­tuel­le Forschungen der türkischen Außenpolitik gelten.

Erdoğans zweite Amtszeit endet im Juni 2023. Nachdem über eine Verschiebung der Wahlen auf den ursprünglich geplanten 18. Juni spekuliert worden war und einige Berater Erdoğan sogar empfohlen hatten, den Termin um ein ganzes Jahr zu verschieben, hat der Präsident mittlerweile den 14. Mai offiziell bestätigt. Laut Verfassung wäre eine Verschiebung nur im Kriegsfall und nach Zustimmung des Parlaments erlaubt gewesen. Außerdem verbietet die Verfassungsreform von 2017 dem Präsidenten eine dritte Amtszeit, wenn nicht bis Juni das Parlament aufgelöst wird. Dafür wären 360 Stimmen notwendig, deutlich mehr als die 335 Stimmen, auf die Er­do­ğan zählen kann.

Laut Bayram Balci lag es außerdem nicht im Interesse Erdoğans, das Wahldatum zu weit nach hinten zu verschieben: „In ein paar Monaten wird das Scheitern der Krisenbewältigung und die Unmöglichkeit, alle Wünsche zu befriedigen, noch deutlicher hervortreten.“ Auch die ohnehin schlechte ökonomische Lage wird sich absehbar kaum verbessern – zumal die türkische Wirtschaft durch die Beben bereits 84 Mil­liarden Dollar eingebüßt haben soll.

Badie hält einen Wiederaufstieg des Präsidenten dennoch für möglich: „Er kann diese Katastrophe für seine Selbstvermarktung nutzen, wird argumentieren, dass man den Kapitän nicht wechselt, wenn das Schiff zu sinken droht. Diese Rolle beherrscht er hervorragend: eine besorgte Miene aufsetzen, kleine Schwäche eingestehen, die Schuldigen bestrafen. Erdoğans treue Wählerschaft ist für seinen Populismus durchaus empfänglich.“

Gilles Dorronsoro hingegen glaubt nicht an die patriotische Karte. Die enthemmte Inflation, der ineffiziente Staat und die Kungelei der Regierung mit den Baufirmen seien zu offensichtlich. Weder Erdoğan noch sein Koalitionspartner, die rechtsextreme MHP, „scheinen imstande zu sein, von einem nationalistischen Schub zu profitieren. Schließlich kann auch ein oppositionelles Bündnis auf diese Karte setzen.“

Cengiz Aktar, der politische Wissenschaften an der Universität Athen lehrt, verweist auf die Ernennung von elf regierungstreuen Richtern im Obersten Wahlrat (YSK) und anderen gleichermaßen AKP-treuen Richtern an der Spitze der örtlichen Wahlräte. So können Kandidaten in letzter Minute abgelehnt werden, womit es in einzelnen Wahlkreisen plötzlich gar keinen Kandidaten mehr geben würde.

Auch das Verbotsverfahren gegen die HDP und der Prozess gegen Er­do­ğans beliebten Rivalen Ekrem İma­m­oğlu sind laut Aktar nicht zu unterschätzen. Er könnte am Ende auch davon profitieren, dass Meral Akşener, die Vorsitzende der nationalkonservativen Partei Iyi – sie ist die zweitgrößte Partei in dem Oppositionsbündnis – am 3. März verkündete, sie werde Kılıçdaroğlus Kandidatur nicht unterstützen.

Zu alldem kommt hinzu, dass die Wahlkommission für die Auszählung der Stimmen „das IT-Unternehmen Ha­vel­san betraut hat, das zur „Stiftung der türkischen Streitkräfte“ (Türk Silahlı Kuvvetlerini Güçlendirme Vakfı) gehört – einer Holdinggesellschaft des türkischen Militärs. Damit sind der Manipulation Tür und Tor geöffnet, zumal die Entscheidungen des YSK nicht angefochten werden können.“4

Diese Konstruktion und die Mobilisierung des Sicherheitsapparats, also vor allem der Polizei und der islamisch-nationalistischen Milizen und eher nicht der Armee, könnten Erdoğan zum Wahlsieg verhelfen.

Allerdings hat das Erdbeben auch drei Grundpfeiler seines politischen Projekts erschüttert: die Glaubwürdigkeit des Staats, eine offensive Außenpolitik und die ökonomische Erfolgsbilanz der Vergangenheit.

1 Siehe „Exil in Gaziantep“, LMd, Mai 2020.

2 Siehe Cengiz Aktar, „Erdoğan forever?“, LMd, Februar 2023.

3 Siehe Selahattin Demirtaş, „Wir waren die Zukunft der Türkei“, LMd, Juli 2016.

4 Siehe Anmerkung 2. Zum Vertrag zwischen YSK und Havelsan siehe den Bericht der türkischen Wirtschaftswebsite BThaber vom 6. Februar 2022: Ayhan Sevgi, „A strong data center in cyber security being established in YSK“.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Ariane Bonzon ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 09.03.2023, von Ariane Bonzon