08.12.2022

Kaczyńskis Kalkül

zurück

Kaczyńskis Kalkül

Polen als Frontstaat im Ukrainekrieg

von Gert Röhrborn

Präsident Duda zu Besuch in Kiew, 28. August 2022 picture alliance/photoshot
Audio: Artikel vorlesen lassen

Am 15. November schlug eine Rakete im polnischen Dorf Przewodów unweit der ukrai­nischen Grenze ein und kostete zwei Menschen das Leben. Auch westlich der Oder wurde damit schlagartig klar, was der polnischen Bevölkerung seit dem 24. Februar 2022 nur zu bewusst ist: Der Krieg in der Ukraine hat ihr Land praktisch zum Frontstaat gemacht.

Die Warschauer Regierung, die von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und deren Vorsitzendem Jarosław Ka­czyń­ski dominiert wird, scheint an dieser Situation auf (un-)heimliche Weise Gefallen zu finden. Der russische Krieg gegen die Ukraine hat zu dramatischen geopolitischen Verwerfungen geführt, aber der polnischen Regierung bietet er – ungeachtet aller tagtäglichen Schreckensmeldungen und Horrorbilder – eine innen- wie außenpolitisch durchaus günstige Konstellation.

Polen spielt bei der zivilen und militärischen Unterstützung seines östlichen Nachbarn eine herausragende Rolle. Doch je länger der Krieg dauert, desto klarer tritt zutage, dass die PiS-Regierung in diesem Zusammenhang eine eigene Agenda verfolgt: Sie sieht sich als Vorkämpferin, die die politische Ordnung Europas nach ihren ideologischen Vorstellungen umbauen will. In Friedenszeiten konnte sie diese Rolle – wegen des EU-internen Konflikts um den Abbau des polnischen Rechtsstaats –nicht spielen.

Mittlerweile fühlen sich die polnischen Nationalkonservativen aber wieder ermutigt, ihren Anspruch als Führungsmacht nicht nur in der Re­gion, sondern auch auf transatlantischer Ebene offensiv zu formulieren. Überdies versucht die PiS-Regierung, vom Nimbus des engagierten Frontstaats zehrend, ihre xenophobe Null-Toleranz-Linie in der Immigrationspolitik nachträglich zu legitimieren.1

Der Kritik an ihren teils brutalen und rechtswidrigen Pushback-Methoden hält sie entgegen: Polen helfe nur „echten Flüchtlingen“, die „hybriden An­griffe“ an der belarussischen Grenze schlage man, stellvertretend für ganz Europa, tapfer zurück. „Heute ist Polen das Ziel, aber morgen Deutschland, Belgien, Frankreich oder Spanien“, verkündete Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in einem an die EU-Bevölkerung gerichteten Propagandavideo ganz im Sinne des historischen polnischen Messianismus. „Das ist erst der Anfang. Die Diktatoren werden hier nicht haltmachen.“

Das war im Herbst 2021. Heute kann die PiS-Regierung ihre damalige Haltung als Prophezeiung des militärischen Angriffs vom 24. Februar 2022 verkaufen. Seither fühlt sich das na­tio­nal­konservative Polen in seinem ewigen Warnen vor einer realen und akuten russischen Bedrohung bestätigt. Für ebenso berechtigt hält die PiS-Regierung auch ihre Kritik an Brüssel: Einerseits schütze die EU die Bevölkerung nicht genügend vor russischen Einflüssen und der Überflutung durch Angehörige fremder Kulturen; andererseits mische sie sich ständig in die inneren Angelegenheiten Polens ein und wolle es finanziell erpressen, indem sie die Auszahlung von Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds an rechtsstaatliche Prinzipien bindet. Aufgrund interner Querelen in der Regierungskoalition ist es Warschau bisher nicht gelungen, eine für Brüssel akzeptable Lösung anzubieten.

Das auffälligste Leitmotiv der PiS-Politik im Hinblick auf den Krieg in der Ukrai­ne ist allerdings nicht die Isolierung Russlands auf der internationalen Bühne oder die Denunzierung pazifistischer Positionen als „prorussisch“, sondern ein besonderes antideutsches Momentum. In der Wahrnehmung der Nationalkonservativen wie vieler anderer, nicht nur der rechter Parteien war die jahrzehntelange Politik Deutschlands gegenüber Russland – insbesondere die Energieabhängigkeit – ein schwerwiegender Fehler, der durch den Ukrainekrieg offensichtlich geworden ist. Darüber hinaus stellt die PiS jedoch die gesamte Politik Berlins als Verrat an der europäischen Idee dar. Diese könne nur in einem „Europa der Vaterländer“ verwirklicht werden.

Die PiS denunziert die Opposition als deutsche Partei

Das patriotisch gestimmte Polen möchte den „deutschen Einfluss“ in der EU möglichst zurückdrängen, um ein föderalistisch inspiriertes Europakonzept zu blockieren, das nicht mit einer transatlantischen Orientierung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik einhergeht. Damit würde Warschau, auch dank seiner traditionell engen Beziehungen zu Washington und London, mehr Gestaltungsspielräume – und Veto­möglich­keiten – gewinnen, als in der von Deutschland und mehr noch von Frankreich angestrebten europäischen Sicherheitsstruktur möglich sind.

In diesem Bestreben versucht die PiS-Regierung seit Langem, Verbindungen zu ultranationalistischen Kräften in anderen EU-Staaten zu knüpfen. Durch den Regierungswechsel in Italien fühlt sie sich zweifellos ermutigt, doch zugleich steht sie im Hinblick auf den Krieg gegen die Ukraine vor einem Problem: Ihre Bündnispartner sucht sie gerade unter jenen politischen Kräften – etwa in Ungarn oder Italien –, die ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu Russland und dem Kreml haben als Polen.

Die deutsch-polnische Kontroverse um die Frage, auf welcher Seite der polnisch-ukrainischen Grenze das von Berlin angebotene Patriot-Raketenabwehrsystem installiert werden soll, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Agenda der PiS-Regierung. Kaczyński ist überzeugt, dass aus Deutschland nie etwas Positives für Polen kommen könne. Jede und jeder in Polen, der etwas anderes behauptet, wird automatisch der „deutschen Partei“ zugerechnet. Die müsse bei den nächsten Wahlen von der „polnischen Partei“, also der PiS, besiegt werden. Nur so könne das Vaterland seine politische und kulturelle Unabhängigkeit innerhalb Europas bewahren.

Die große Leerstelle in dieser pa­trio­ti­schen Erzählung ist die Frage, wie die „politische Unabhängigkeit“, die sich Polen auch mit Hilfe eines forcierten EU-Beitritts der Ukraine verspricht, trotz der wirtschaftlichen Abhängigkeit Polens aussehen soll. Also angesichts der ökonomischen Verflechtungen innerhalb der EU und der finanziellen Abhängigkeit Warschaus von Geldern aus Brüssel, ohne die der polnische Staatshaushalt bereits im nächsten Jahr in massive Schieflage geraten könnte.

Schon jetzt mehren sich die beunruhigenden Vorzeichen: Die Inflation nähert sich der psychologisch wichtigen 20-Prozent-Marke; der Złoty ist unter Druck; die Monatsraten für Kredite haben sich beinahe verdoppelt; die angesichts des großen Wohnungsbedarfs wichtige Bauwirtschaft ist dramatisch eingebrochen; wegen der hohen Energiepreise stehen erste Massenentlassungen bevor. So wird es für Polen ohne die Gelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds noch schwerer, seinen Rückstand in puncto Energieeffizienz aufzuholen und künftige Stromausfälle zu vermeiden. Genau das wird die Opposition bei dem 2023 anstehenden Parlamentswahlkampf zum Thema machen.

Bei diesen düsteren Aussichten setzt die PiS offenbar auf eine künftige ökonomische „Kriegsdividende“: Das starke Engagement der polnischen Regierung für die Ukraine ist erkennbar auch durch wirtschaftliche Kalkulationen motiviert. Die PiS verspricht sich mittelfristig beträchtliche Gewinne aufgrund der privilegierten Rolle, die Warschau beim Wiederaufbau des Nachbarlands zufallen dürfte. Die Vereinbarungen auf der Ukraine-Konferenz in Lugano von Anfang Juli 2022 sehen vor, dass Polen zusammen mit Italien vor allem beim Wiederaufbau im Donbass aktiv werden soll.

Polen könnte wegen seiner geostrategischen Lage und seiner kulturellen und sprachlichen Nähe zur Ukraine überproportional an dieser auf Jahrzehnte angelegten Unternehmung verdienen. Die Struktur der polnischen Wirtschaft, mit starken und modernen Branchen wie Transport, Logistik und Bauwesen, prädestiniert sie geradezu zum Modell einer „Wiederaufbau“-Ökonomie.

Einzige ernsthafte Konkurrenz wird vermutlich die Türkei sein, die im Ukrai­ne­kon­flikt sehr geschickt agiert.2 In jedem Fall wird die Nachkriegszeit für Polen neue Aufträge für Infrastrukturprojekte, neue Investitionschancen und neue Absatzmärkte bringen. Das alles ist Stoff für die Träume der PiS-Regierung, mehr ökonomischen Spielraum zu gewinnen, um dem „Ökodiktat“ der EU-Wirtschafts- und Klimapolitik zu trotzen.

Es gibt also gute Gründe für die Annahme, dass Polen – neben den USA – am meisten von diesem Krieg wird profitieren können. Allerdings gibt es im ukrainisch-polnischen Verhältnis zwei Unsicherheitsfaktoren. Das ist zum einen die Flüchtlingsfrage, die vom Verlauf und der Dauer des Kriegs abhängt; zum anderen die in Warschau seit Langem betriebene nationalistische Geschichtspolitik, die auch das Verhältnis zur Ukraine belastet.

Polen will vom Wiederaufbau profitieren

Die gesellschaftliche Zustimmung für die Unterstützung der ukrainischen Flüchtlinge ist bisher offenbar stabil. Nach einer Umfrage vom November 2022 bewerten 69 Prozent der polnischen Bevölkerung einen längeren Aufenthalt ukrainischer Flüchtlinge in Polen als „gute Sache“ – das sind 2 Prozentpunkte mehr als noch im Mai. Allerdings bleibt abzuwarten, wie die Gesellschaft auf eine neue Fluchtwelle reagiert, die angesichts der russischen Angriffe auf die zivile Infrastruktur der Ukraine zu erwarten ist.

Erste leise Unmutsäußerungen machen sich bereits bemerkbar. Der großzügige Zugang der Flüchtlinge zum Sozial-, Gesundheits- und Bildungssystem geht einem Teil der Bevölkerung offenbar zu weit. Zwar hat die Regierung aus den chaotischen Zuständen im Frühjahr gelernt – damals übernahmen die Kommunen und die Zivilgesellschaft den größten Teil der Last – und ist jetzt logistisch besser auf den Winter vorbereitet. Aber sie hat bereits angekündigt, dass die ukrainischen Geflüchteten ab 2023 für ihre Unterbringung und ihren Unterhalt nach und nach zur Kasse gebeten werden sollen.

Was die polnische Geschichtspolitik betrifft, so hat die PiS-Regierung ihre frühere antiukrainische Rhetorik zwar gedämpft, aber keinesfalls abgeschafft. Der als Hardliner bekannte Bildungsminister Przemysław Czarnek hat eine Broschüre für den Schulunterricht herausgeben lassen, in der ukrai­ni­schen Kindern und Jugendlichen die polnische Sicht auf die wohl schmerzhafteste Epoche der polnisch-ukrainischen Geschichte beigebracht wird. Dazu gehören die Massaker an der polnischen Bevölkerung in Wolhynien und Ostgalizien während des Zweiten Weltkriegs, bei denen insbesondere im Jahr 1943 zehntausende, nach einigen Schätzungen sogar mehr als hunderttausend Polen auf teils bestialische Weise ermordet wurden. Damals wurden aber auch zahlreiche Ukrainerinnen und Ukrainer zu Opfern polnischer Vergeltungsaktionen, die in der Broschüre nicht vorkommen.

Für die ukrainischen Gräueltaten werden Teile der „Organisation der Ukrai­ni­schen Nationalisten“ (OUN) und der „Ukrainischen Aufständischen Armee“ (UPA) unter Führung von Stepan Bandera verantwortlich gemacht, der einen ethnisch reinen ukrainischen Staat anstrebte. Bandera gilt vor allem in der Westukraine immer noch als Nationalheld, obwohl er mit den Nazis kollaborierte. In Polen dagegen wird er als Kriegsverbrecher und Faschist gesehen. Die polnische Sichtweise blendet wiederum die Tatsache aus, dass sich die Zweite Polnische Republik nach 1918 Teile der Ukraine aus der Konkursmasse des Habsburgerreichs (sowie von Belarus und Litauen aus dem Zarenreich) mit militärischen Mitteln einverleibt hat.

Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass das neue polnische Selbstbewusstsein auch gegenüber Kiew zum Tragen kommen wird. Doch vorerst herrscht die Tonlage vor, die Präsident Duda in seiner Rede vor dem ukrainischen Parlament im Mai vorgegeben hat. Es seien die Feinde beider Völker, die Zwietracht und gegenseitigen Hass schüren wollen, und „dafür benutzen sie schmerzhafte Themen aus unserer gemeinsamen Geschichte“.

Die Ukraine hat sich bereits revanchiert: Pünktlich zum polnischen Unabhängigkeitsfeiertag am 11. November gab die Regierung in Kiew grünes Licht für die Suche nach weiteren polnischen Opfern der UPA, die längere Zeit unterbunden worden war.

Solange der Krieg andauert, wird das Feindbild Russland die geschichtspolitische Kontroverse zwischen Warschau und Kiew überdecken und entschärfen. Doch für die PiS-Regierung birgt das ein wahltaktisches Dilemma: Sollten die Nationalkoservativen im nächsten Jahr die absolute Mehrheit verfehlen, wären sie für ihren Machterhalt auf Abgeordnete der rechtsradikalen Konföderation angewiesen. Die aber betreibt antiukrainische Stimmungsmache und wird daher von manchen als prorussisch wahrgenommen, was in Polen einem politischen Selbstmord gleichkommt. Ihr Wiedereinzug ins Parlament ist keineswegs sicher.

Falls die PiS-Regierung im Herbst nächsten Jahres abgewählt werden sollte, ist schon jetzt klar, wem Kaczyński die Schuld an seiner Niederlage geben wird: Deutschland und der „deutschen Partei“ in Polen.

1 Gert Röhrborn, „Die ‚Migrationskrise‘ an der polnischen EU-Außengrenze mit Belarus“, Polen-Analysen, Nr. 286, Januar 2022; siehe Niels Kadritzke, „Der systematische Rechtsbruch an Europas Grenzen“, LMd, Januar 2022.

2 Günter Seufert, „Profiteur der Stunde – Wie Erdoğan sich den Ukrainekrieg zunutze macht“, LMd, Juli 2022.

Gert Röhrborn ist Autor und Übersetzer und lebt in Warschau und Belgrad.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.12.2022, von Gert Röhrborn