Unsere Jeans aus Karatschi
In der pakistanischen Textilbranche herrscht ein autoritärer Raubtierkapitalismus
von Laurent Gayer und Fawad Hasan
Green Park City liegt am Rande des Industriegebiets Landhi, südöstlich der pakistanischen Wirtschafts- und Finanzmetropole Karatschi. Die neu erbaute Gated Community, eine der wenigen grünen Inseln in diesem dicht besiedelten Gebiet, bietet ihren Bewohner:innen einen gepflegten Park, umgeben von eleganten Gebäuden, vor denen polierte SUVs parken. Hier leben Unternehmer, Arbeitsvermittler und Manager mit ihren Familien. Die meisten sind Selfmademen, die sich aus der Arbeiterklasse hochgearbeitet haben.
Die Infrastruktur des Viertels bleibt zwar hinter seinem Erscheinungsbild zurück – das Stromnetz etwa ist genauso schlecht wie in den umliegenden ärmeren Vierteln –, doch der zur Schau gestellte Wohlstand zeugt von den Aufstiegsmöglichkeiten, die die Textil- und Bekleidungsindustrie, das Flaggschiff der pakistanischen Wirtschaft, bietet.
Bilal Khan1 ist einer dieser Aufsteiger. Er empfängt uns in einer großen, aber schlicht eingerichteten Wohnung. Zwischen zwei Schlucken Kahwa-Tee blickt er auf seinen recht typischen Werdegang zurück. Er stammt aus der Region Dir im Nordwesten des Landes, wuchs in Karatschi auf und schloss dort die Mittelschule ab. Mit 15 Jahren begann er als Hilfskraft in einer Textilfabrik zu arbeiten. Heute, mit 43 Jahren, ist er Produktionsleiter in einem der größten Bekleidungsunternehmen des Landes.
Diesen Erfolg verdankt er nicht nur seinem Arbeitseifer, sondern auch seinen guten Beziehungen in die Politik. 30 Jahre lang, von 1985 bis 2015, stand Karatschi praktisch vollständig unter dem Einfluss ethnisch ausgerichteter Parteien, die Kampfverbände unterhielten und sogar den Zugang zu städtischen Dienstleistungen wie Wasser, Strom und Transport kontrollierten. Immer wieder kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen diesen Parteimilizen (siehe den nebenstehenden Kasten), die auch in den Fabriken für Ruhe sorgten. Für die lokalen Unternehmer wurden sie zu unverzichtbaren Partnern.
Khan ist nicht zu bremsen, wenn er erzählt, wie es der exportorientierten pakistanischen Textilbranche gelungen ist, selbst in der Coronapandemie mit ihren Lockdowns, Grenzschließungen und Umsatzeinbrüchen auf dem Binnenmarkt Gewinn zu machen. 2020 öffnete sich plötzlich ein neuer globaler Markt, denn weltweit wurden Schutzausrüstungen gebraucht. Binnen kürzester Zeit stellten die Großunternehmen ihre Produktion um. „Wir haben einen großen Vertrag mit den Amerikanern abgeschlossen, um Masken, Kittel und all diese Dinge herzustellen“, berichtet Khan voller Stolz. „Ich habe die Produktion von mindestens einer Million Masken und Kitteln persönlich beaufsichtigt.“
Unterstützung kam von der US-amerikanischen Entwicklungsorganisation USAID, die neun Unternehmen half, ihre Arbeitsumgebung so anzupassen, dass sie die für den Export erforderlichen Zertifizierungen erhielten. Innerhalb weniger Monate wurde eine neue globale Lieferkette aufgebaut, woran auch zivile wie militärische Luftfrachtflugzeuge in erheblichem Umfang beteiligt waren.
Den größten finanziellen Beitrag zum Ausbau und zur Modernisierung der Produktionsanlagen aber leistete die pakistanische Zentralbank. Darüber hinaus waren die von der Regierung verhängten Lockdowns lokal und zeitlich begrenzt. Das verschaffte der heimischen Industrie einen Vorteil bei der Sicherung von Marktanteilen gegenüber den Konkurrenten aus Indien, China und Bangladesch, die mit lang anhaltenden Einschränkungen konfrontiert waren. Die pakistanische Textilbranche mit 15 Millionen Beschäftigten, die 8,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt, ging also gestärkt aus der Krise hervor. Ihre Exporte, die mehr als 60 Prozent des Gesamtvolumens ausmachen, schlugen im Geschäftsjahr 2021/22 mit 19 Milliarden US-Dollar alle bisherigen Rekorde.
Dieses Wachstum könnte nun durch den Anstieg der Baumwollpreise nach den verheerenden Überschwemmungen im Sommer 2022 gefährdet werden. Hinzu kommt die Energieknappheit, die durch den Run der Europäer auf Flüssiggas (LNG) noch verschärft wird.2 Viele Unternehmer sind zudem besorgt über die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Inflation, die im Oktober bei 26 Prozent lag. Zahid Memon*, Direktor einer der größten Textilfirmen des Landes und Erbe einer Unternehmerfamilie in Karatschi, befürchtet sogar ein Szenario wie in Sri Lanka, wo es aufgrund der wirtschaftlichen Probleme zu massiven Protesten kam.3
Die pakistanische Wirtschaft hat allerdings schon oft ihre Fähigkeit zur Überwindung von Krisen unter Beweis gestellt. Das hat nicht nur mit ihrer Anpassungsfähigkeit und den staatlichen Finanzhilfen zu tun, sondern in erster Linie einem massiven Repressionsapparat. Hinzu kommt, dass die zivilen und militärischen Behörden wegen des „strategischen“ Charakters der Textilbranche illegale Praktiken der Arbeitgeber dulden. Dazu gehören Verstöße gegen das Arbeitsrecht und die Sicherheitsstandards, Nichtbezahlung von Überstunden und willkürliche Entlassungen. Die Textilindustrie in Karatschi ist ein besonders prägnantes Beispiel dieses autoritären Raubtierkapitalismus.
Am 15. Mai 2022 rief der Nationale Gewerkschaftsverband (NTUF) trotz der gerade herrschenden Hitzewelle zu Demonstrationen gegen solche illegalen Methoden auf. Vor dem Presseclub, dem wichtigsten Versammlungsort in Karatschi,4 kamen an diesem Tag allerdings nicht viele Menschen zusammen: einige Dutzend NTUF-Mitglieder sowie eine Handvoll Aktivistinnen ihrer Schwesterorganisation, der Heimarbeiterinnengewerkschaft (HBWWF). Die Ansprachen wurden auch noch, trotz Megafon, von einer gleichzeitig stattfindenden Solidaritätsdemonstration für Palästina übertönt.
Die beiden NTUF-Vorsitzenden Naseer Mansoor und Zehra Khan wollen trotzdem weiterkämpfen. Sie leisten juristischen Beistand für widerrechtlich entlassene Arbeiter:innen und für unterstützen Beschäftigte eines Betriebs, die die Anerkennung der Gewerkschaft durchsetzen wollen. Auch den Opfern von Arbeitsunfällen stehen sie zur Seite, darunter den Familien der 258 Arbeiter:innen, die am 11. September 2012 bei dem Brand in der Bekleidungsfabrik Ali Enterprises in Karatschi ums Leben kamen. Die unmittelbare Ursache dieser Katastrophe – Kurzschluss oder Brandstiftung – ist nach wie vor umstritten. In jedem Fall wurden Sicherheitsmaßnahmen nicht eingehalten, was zu einer hohen Zahl von Todesopfern geführt hat.
Die Fabrik produzierte hauptsächlich Jeans für den deutschen Textildiscounter KiK. Wer trug innerhalb der globalisierten Wertschöpfungsketten die Verantwortung am bisher tödlichste Fabrikbrand der Weltgeschichte? Die internationale Kampagne der NTUF und der Familien der Opfer in Pakistan und Deutschland hat den Konzern nach zehn Jahren zumindest dazu gebracht, die Familien angemessen zu entschädigen.
Das Landgericht Dortmund wies zwar im Januar 2019 die Klage von vier Betroffenen gegen KiK als verjährt zurück, doch das 2021 in Berlin verabschiedete Gesetz über Sorgfaltspflichten in der Lieferkette (LkSG-Gesetz), das am 1. Januar 2023 in Kraft tritt, eröffnet zumindest Möglichkeiten für eine stärkere Kontrolle der Zulieferer großer europäischer Marken.5 Es bleibt jedoch noch viel zu tun – umso mehr, wie Mansoor und Khan betonten, weil die Coronapandemie zu einem Wiederaufleben illegaler Praktiken geführt hat.
In der Provinz Sindh, in der Karatschi liegt, war der Lockdown vom 23. März bis 28. April 2020 die ideale Gelegenheit für eine „Verschlankung“ der Belegschaft. Einige Arbeiter:innen erfuhren, als sie ihren Lohn abholen wollten, dass ihre Fabrik inzwischen geschlossen worden war. Ihre Zugangskarten wurden sofort einbehalten. Anderen wurde ihre Entlassung kurz und knapp am Telefon mitgeteilt. Viele erhielten weder Lohn noch Abfindungen, was gegen das Gesetz verstößt. Diese Praktiken sind umso skandalöser, als einige Unternehmen zinsgünstige Corona-Kredite erhalten hatten, um die Löhne weiterzuzahlen, und sich im Gegenzug zu einem Entlassungsstopp verpflichtet hatten.
In der Tat nutzten viele Unternehmer die Gesundheitskrise, um ihre Produktionsketten zu „rationalisieren“, wie ein ehemaliger Vorsitzender des pakistanischen Arbeitgeberverbands und Chef eines großen Bekleidungsunternehmens unumwunden zugibt: „Covid-19 war ein Glücksfall. Die Pandemie hat uns geholfen, Marktanteile zu gewinnen, aber sie hat uns auch dazu gebracht, unsere Arbeitsweise zu überdenken und unsere Produktivität zu steigern, indem wir modernisiert und die Prozesse effizienter gemacht haben.“ In dieser Branche ist in Pakistan Modernisierung meist gleichbedeutend mit Feminisierung der Belegschaft, die aus kulturellen Gründen in Pakistan noch nicht so weit fortgeschritten ist wie in anderen asiatischen Ländern, etwa Kambodscha, Vietnam und Thailand.6 Frauen gelten als gewissenhafter und fügsamer und erhalten für die gleiche Arbeit im Durchschnitt 40 Prozent weniger Lohn als die Männer.
In letzter Zeit werden Frauen bei der Einstellung stärker bevorzugt. Der Produktionsleiter eines großen Bekleidungsunternehmens berichtet von einem Treffen, zu dem „alle Manager des Konzerns eingeladen waren, wir waren mindestens 120. Und dort sagten die Chefs zu uns: ‚Von jetzt an werdet ihr nur noch Frauen einstellen.‘ “ Diese Art der Diskriminierung wird immer sichtbarer. In Landhi fuhr ein Bus mit Arbeiterinnen an uns vorbei, an dem ein Werbebanner auf eine Rekrutierungskampagne ausschließlich für Frauen hinwies.
Derweil wird es für die männlichen Arbeitnehmer aufgrund der steigenden Rohstoffkosten und der Energieknappheit wahrscheinlich zu weiteren Entlassungswellen kommen. Zehntausende bringt das in eine extrem prekäre Lage, und es begünstigt die ausbeuterischen Praktiken der Arbeitgeber. Obwohl die gesetzliche Tagesarbeitszeit einschließlich Überstunden 12 Stunden nicht übersteigt, haben wir Arbeiter:innen getroffen, die gezwungen wurden, 24 oder sogar 36 Stunden hintereinander zu arbeiten. Zwischendurch gab es nur kurze Pausen, in denen sie auf die Toilette gehen oder eine schnelle Mahlzeit zu sich nehmen konnten. Wenn Überstunden überhaupt bezahlt werden, gibt es selten den doppelten Stundensatz, wie es das Gesetz vorsieht. In einem Umfeld, aus dem die Gewerkschaften verbannt wurden und in dem die rechtlichen Möglichkeiten auf kostspielige und langwierige Gerichtsverfahren beschränkt sind, bleibt der Widerstand isoliert und findet in den Medien kaum Beachtung.
Dennoch wagt es manchmal jemand, gegen die Arbeitgeber aufzubegehren. Abdul Latif Chandio*, der neun Jahre lang als Maschinenführer bei International Textile im Industriegebiet von Korangi im Osten Karatschis arbeitete, war einer von 25 Angestellten, die zu Beginn der Pandemie entlassen wurden. Der 25-Jährige weigerte sich, sein Schicksal zu akzeptieren. Er wandte sich an die Gewerkschafter der NTUF, die ein Verfahren vor dem Arbeitsgericht einleiteten. Über den Anwerber, der ihm die Stelle vermittelt und ihm bisher sein Gehalt ausgezahlt hatte, bot ihm die Unternehmensleitung eine Abfindung an, die er jedoch ablehnte. Seine Hartnäckigkeit ärgerte den Anwerber, der wie viele seiner Kollegen im Falle eines Arbeitskonflikts gern seine Kontakte zu den politischen Parteien und zu Kriminellen spielen lässt.
Solche Mittelsmänner sind fest in den Arbeitervierteln und „Goths“ (so werden in Karatschi Stadtviertel bezeichnet, in denen überwiegend Angehörige der ethnischen Sindhi leben) verwurzelt. So reicht der Einfluss der Arbeitgeber auf das tägliche Leben der Arbeiter:innen aus.
Als Chandio vor neun Jahren sein Heimatdorf im ländlichen Sindh verließ, um sich in einem der ältesten Goths von Korangi niederzulassen, bekam er schnell mit, wer hier das Sagen hat. In diesem Viertel heben sich viele Obstbäume und das leuchtende Grün der Felder von der grauen Industriekulisse gleich nebenan ab. Doch die Schönheit der Umgebung kann nicht von den Problemen im Viertel ablenken. Neben der massiven Umweltverschmutzung durch die Industrie, die sich, wie die Einwohner berichten, in Krebs- und Atemwegserkrankungen niederschlägt, verbreiten die Banden Angst und Schrecken, die in den 2010er Jahren die belutschischen Teile der Stadt unter ihre Kontrolle brachten (siehe den nebenstehenden Kasten). Diese Banden wurden zwischen 2013 und 2015 zwar weitgehend zerschlagen, doch ein Teil ihrer Mitglieder lässt immer noch im Dienste der Fabrikbesitzer und ihrer lokalen Verbindungsleute die Muskeln spielen.
Und so bekam Chandio, nachdem er das Abfindungsangebot seines Arbeitgebers abgelehnt hatte, schon bald Besuch von ein paar üblen Schlägertypen. Die Drohungen und die Anfeindungen in aller Öffentlichkeit machten ihm das Leben so unerträglich, dass er wegziehen musste. „Wir sind anständige Leute“, sagt er. „Sie können doch nicht einfach so zu mir kommen und mich bedrohen.“
Das nahegelegene Viertel Chakra Goth erlebt seit Jahren einen stetigen Zustrom von Wanderarbeiter:innen aus den ländlichen Gebieten Sindhs, die durch die Klimakrise aus ihren Dörfern vertrieben werden. Deren Auswirkungen, Dürren und Überschwemmungen, werden in dieser Region im Süden Pakistans immer spürbarer.
Nach einer holprigen Fahrt durch enge, verwinkelte Gassen gelangen wir zu einer beliebten Garküche, einer sogenannten Dhaba. Hierher kommen die männlichen Bewohner des Viertels zum Essen oder um sich im Schatten eines großen Niembaums eine Pause zu gönnen. Die Garküchen sind auch Orte des Austauschs und der Debatte, obwohl sie seit der Diktatur von Mohammed Zia-ul-Haq (1977–1988) von der Obrigkeit misstrauisch beobachtet werden. An der Wand hängt noch die Warnung: „Bitte verzichten Sie auf alle politischen Diskussionen.“
Arshad Khashkheli* und seine Freunde haben nicht die geringste Absicht, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Sie sitzen im Schneidersitz auf Liegen, die aus Seilen geknüpft sind, und wollen erzählen, was sie in den letzten Monaten erlebt haben. Sie haben versucht, sich im Kampf für bessere Arbeitsbedingungen zu organisieren.
Bis Oktober 2021 bediente Khashkheli Maschinen bei der Denim Clothing Company. Das 2005 gegründete Unternehmen mit Sitz in Korangi beschäftigte 8500 Mitarbeiter:innen. Im Juli 2022 wurde die Hälfte der Belegschaft fristlos entlassen. Das Unternehmen produziert Jeans für große internationale Ketten, darunter H&M, C&A, Zara, Mango und Walmart, und pflegt ein Image, das faire Arbeitsbedingungen und Umweltschutz behauptet, ebenso den Einsatz hochmoderner Technik.
Khashkheli und seine Mitstreiter schildern dagegen ein repressives Arbeitsumfeld unter Aufsicht eines ehemaligen Armeeoffiziers. Der Mann ist für das Personalmanagement zuständig ist und stützt sich zur Durchsetzung seiner Vorstellung von Fabrikdisziplin auf berüchtigte Kriminelle.
Schlägertrupps gegen die Belegschaft
Solche Verbindungen werden oft unverhohlen zur Schau gestellt. Im April 2021 wurde die Näherin Faiza Muhammad* mit einem Kettenschloss verprügelt. Sie hatte die Auszahlung des jährlichen Bonus gefordert, den Unternehmen, wenn sie Gewinn gemacht haben, ihren Arbeiter:innen traditionell gewähren. Unter den Angreifern erkannte sie mehrere Schlägertypen, die von ihrem Arbeitgeber neu eingestellt worden waren und nach dem Zwischenfall unbehelligt in der Fabrik herumliefen.
Bei dem Versuch, die Arbeiter:innen zu mobilisieren, zogen auch Khashkheli und seine Mitstreiter bald den Zorn der Unternehmensleitung und ihrer mächtigen Beschützer auf sich. Mehrere Arbeiter wurden zum Schweigen gebracht, indem die Polizei ihnen die Personalausweise abnahm. Sie mussten ihre Kündigung unterschreiben, um ihre Dokumente zurückzubekommen.
Nach monatelangen Auseinandersetzungen mit seinen Vorgesetzten wurde auch Khashkheli Opfer von Einschüchterungen. Er wurde von den Schergen des Personalchefs ergriffen, die ihm sein Mobiltelefon wegnahmen, ihm Handschellen anlegten und ihn in eine andere Produktionseinheit brachten, wo sie ihn einsperrten. Seine Entführer beriefen sich auf eine Abmachung mit dem Nachrichtendienst der Armee und drohten, ihn verschwinden zu lassen, falls er seine Entlassung vor Gericht anzufechten wage. Dass solche Drohungen an der Tagesordnung sind, wie mehrere übereinstimmende Zeugenaussagen bestätigen, zeigt, dass die Kultur des Staatsterrors längst in die alltäglichen Arbeitskonflikte eingedrungen ist.
Neben Gewaltandrohungen kommen auch willkürliche juristische Mittel zum Einsatz. Kurz nach Khashkhelis vorgetäuschter Entführung erfuhr dessen Cousin Sajid Mallah*, dass bei der örtlichen Polizei Anzeige gegen ihn erstattet worden war. Zusammen mit anderen Arbeitern von Denim Clothing wurde er beschuldigt, einen der Manager beim Verlassen der Fabrik in einen Hinterhalt gelockt zu haben – eine Anschuldigung, die er vehement abstreitet.
Er versichert, die Anzeige habe allein dazu gedient, ihn zur Kündigung zu zwingen und ihn für sein Aufbegehren zu bestrafen. Das bevorstehende Gerichtsverfahren werde ihn nicht nur finanziell belasten, sondern auch seine Jobaussichten weiter schmälern, sagt Mallah. Derartige Klagen dienen unter anderem dazu, den Ruf aufsässiger Arbeitnehmer:innen zu ruinieren, so dass die Stigmatisierten kaum noch Chancen auf eine Neueinstellung haben
Wenn der individuell ausgeübte Druck nicht ausreicht, etwa im Falle einer kollektiven Mobilisierung, wird die Polizeipräsenz vor dem Werksgelände verstärkt. Ein 2021 von Angestellten der Denim Clothing aufgenommenes Video zeigt, wie Polizisten Arbeiter:innen in einer Fabrik verfolgen und niederknüppeln. Ein hochrangiger Polizeibeamter in Korangi bestätigte auf die Frage nach seinen Beziehungen zu den örtlichen Arbeitgebern, dass man diesen nichts oder fast nichts verweigern könne. „Ihr Beitrag zur Staatskasse und den Exporteinnahmen sorgt dafür, dass die Politik sie hätschelt, wo sie nur kann.“
Beim Schutz der Unternehmen vermischen sich private und staatliche Sicherheitskräfte. In den letzten Jahren wurden im Sindh Industrial Trading Estat, dem ältesten Industriegebiet Karatschis, zinnenbewehrte, in Tarnfarben gestrichene Posten errichtet, in denen die bewaffneten Wachmänner der Rangers Security Guards sitzen. Sie sind der größten lokalen paramilitärischen Truppe am Ort, den Sindh Rangers, angegliedert.
Die Rangers sind zwar zivilen Instanzen unterstellt, werden aber von Offizieren der Armee befehligt. Diese „Dienstleistung“ wurde zwischen den Behörden und dem lokalen Arbeitgeberverband ausgehandelt. Die Bewohner:innen der umliegenden Arbeiterviertel, deren Bewegungsfreiheit durch die Mauern um das Industriegebiet erheblich gestört wird, überrascht das alles nicht. Ein Lokalpolitiker aus dem Viertel Bawani Chali zeigt auf eine Barriere, die nur zu Fuß passierbar ist. Was dahinter liegt, sieht aus wie ein militärisch-industrieller Bereich: „Wer die Kapelle bezahlt, bestimmt die Musik.“
Doch so gesichert das System der Machtausübung auch erscheinen mag, es gibt auch Schwachstellen. Wenn die gesetzliche Sorgfaltspflicht für multinationale Unternehmen ausgeweitet wird, könnten sie sich immer öfter verpflichtet sehen, über die Ausübung von Zwang und Gewalt bei ihren Zulieferern Rechenschaft abzulegen. Zu den Menschenrechtsverletzungen, die unter das deutsche Lieferkettengesetz fallen, gehören beispielsweise Einschränkungen der Vereinigungsfreiheit durch öffentliche oder private Sicherheitskräfte. Den Schlägertrupps und ähnlichen „Ordnungskräften“, die in den Textilunternehmen von Karatschi tätig sind, könnte mit dieser Klausel, sofern sie richtig angewendet wird, das Handwerk gelegt werden. Dann werden die großen globalen Marken nicht mehr wie bisher von ihren Aktivitäten profitieren.
1 Der Name wurde wie auch die übrigen mit * gekennzeichneten Namen geändert.
3 Siehe Eric Paul Meyer, „Aufstand gegen den Rajapaksa-Clan“, LMd, Juli 2022.
4 Siehe Alizeh Kohari, „Brief aus Karatschi“, LMd, Januar 2022.
6 „Employment, Wages and Productivity Trends in the Asian Garments Sector“, ILO, Genf 2022.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Laurent Gayer ist Forschungsdirektor am Centre de recherches internationales (Ceri) an der Sciences Po. Fawad Hasan ist Journalist.
Politik und Bandenkriege
Die 25-Millionen-Einwohner-Stadt Karatschi im Süden Pakistans ist ethnisch stark polarisiert. Sindhi und Belutschen beanspruchen beide den Status der Ursprungsbevölkerung; aber gegenüber zahlreichen ursprünglich nicht aus der Region stammenden Gruppen sind sie mittlerweile in der Minderheit. Die Mehrheit der Muhadschir (Emigranten) sind die Nachfahren Urdu sprechender Muslime, die nach der Teilung des Landes 1947 aus Indien kamen. Die Industrialisierung in den 1950er und 1960er Jahren lockte darüber hinaus viele Paschtu- und Pandschabisprachige in die Stadt.
Das Zusammenleben dieser Gruppen war stets von Spannungen geprägt. Zwischen 1985 und 2015 wurde Karatschi immer wieder von politisch und kriminell motivierter Gewalt erschüttert, die mehr als 20 000 Todesopfer forderte. Bei Höhepunkten der Ausbrüche in den Jahren 1995 und 2013 wurden 1742 beziehungsweise 2507 Morde verübt.
Die Gewalt hat im Wesentlichen drei Ursachen: Zum einen geht es um politische Konflikte zwischen Parteien, die nicht nur bei Wahlen gegeneinander antreten, sondern ihr Territorium auch mit bewaffneten Milizen sichern. Zweitens geht es um wirtschaftliche Interessen, insbesondere die Kontrolle über legale Ressourcen – wie den städtischen Haushalt oder Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst – und illegale Einnahmequellen, etwa aus Schutzgelderpressung, dem Schwarzmarkt für Wasser oder dem informellen Immobilienmarkt. Hier konkurrieren die politischen Parteien nicht nur miteinander, sondern bekämpfen sich auch mit zahlreichen kriminellen Organisationen.
Und drittens gibt es eine ethnische Dimension, denn die Parteien vertreten verschiedene Gruppen: die Vereinte Nationale Bewegung (MQM) die Muhadschir, die Pakistanische Volkspartei (PPP) die Sindhi und Belutschen und die Nationale Volkspartei (ANP) die Paschtunen.
Die Unberechenbarkeit des Militärs trägt zur Komplexität und Brisanz der Konflikte bei. Ende der 1980er Jahre unterstützte die Armee diskret die MQM, um die PPP unter Führung der Familie Bhutto zu schwächen. 1992 bis 1994 führte sie dann eine „Säuberungsaktion“ durch, um die nun als „Parallelstaat“ verunglimpfte MQM zu zerschlagen.
Unter Präsident Pervez Musharraf (1999–2008) genoss die MQM wieder die Unterstützung des Militärs, bevor sie erneut ins Visier genommen wurde. Kriminelle Banden wie die, die sich von 2008 bis 2013 im Volkskomitee für Frieden (PAC) zusammenschlossen, erhielten ebenfalls militärische Hilfe, um den Vormarsch der belutschischen Nationalisten in den Arbeitervierteln des Stadtzentrums zu stoppen.
Zwischen 2013 und 2016 wurden in einer von Polizeieinheiten, den paramilitärischen Sindh Rangers und dem Militär durchgeführten Antiterroroperation die bewaffneten Gruppen zerschlagen, die die Stadt unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Die „Operation Karatschi“, bei der hunderte Menschen umgebracht oder verschleppt wurden, sorgte für relative Ruhe. Seitdem greifen Unternehmer vor allem auf die Polizei und die Rangers zurück, wenn sie in ihren Fabriken für Ruhe sorgen wollen.⇥L. G.