08.12.2022

Starke Bewegung mit schwachem Führer

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Starke Bewegung mit schwachem Führer

Was wird aus dem Bolsonarismus?

von Patricio G. Talavera

Protest gegen Lulas Wahlsieg, 1. November 2022 MATEUS BONOMI/picture alliance/AA
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Die Ergebnisse der Wahlen in Brasilien zeigen, wie sich das Parteiensystem des Landes gewandelt hat. Der Wandel setzte mit den Kommunalwahlen von 2016 ein und verstärkte sich mit den allgemeinen Wahlen von 2018, aus denen Jair Bolsonaro als Präsident hervorging.

2018 wurden 47 Prozent der Mitglieder der Abgeordnetenkammer abgelöst, was zum Teil als Antwort auf den Korruptionsskandal „Lava Jato“ (Deutsch: Autowäsche)1 zu werten ist, der die politische Klasse seinerzeit schwer belastete. 2022 lag die Abwahl-Quote bei 39 Prozent und erreichte damit wieder die übliche Größenordnung. Bei den Gouverneurswahlen erhielt in 23 der 26 Bundesstaaten (plus Brasília) die jeweils regierende Partei eine Mehrheit.

Im Senat, der zweiten Kammer des Nationalkongresses, fiel die Bilanz nicht ganz so eindeutig aus. Zwar war die Fluktuation 2022 nicht so hoch wie 2018 (damals verpasste je­de:r vierte Se­na­to­r:in die Wiederwahl), aber im Zeitraum seit 1990 immer noch am zweithöchsten.

Insgesamt sprechen die Zahlen aber für eine Konsolidierung des Parteiensystems. Im Vergleich zu 2018, als 35 politische Parteien in den Nationalkongress gewählt wurden, ist die Zusammensetzung der beiden Kammern wieder etwas überschaubarer geworden. Die Anzahl der Parteien in der Abgeordnetenkammer ist so niedrig wie zuletzt 2006.

Der Bolsonarismus, eine starke Bewegung mit einem schwachen Führer, hat anderen Bewegungen wie den Evangelikalen das Wasser abgegraben. Die Evangelikalen sind so schwach vertreten wie seit 15 Jahren nicht mehr, denn ein beträchtlicher Teil ist im Bolsonarismus aufgegangen: 2018 saßen sie noch mit 23 Parteien im Parlament, bei den letzten Wahlen sind nur noch 15 angetreten.

Der Bolsonarismus ist eine politische Kraft, die sich vornehmlich auf vier Säulen stützt: die Armee, die Agrarindustrie, die evangelikalen Kirchen und den ursprünglichen Bolsonarismus mit seiner Community aus You­tubern, Entertainern, Prominenten und dem familiären und sozialen Umfeld Bolsonaros.

Insgesamt konnte das Bolsonaro-Lager fast die Hälfte aller Stimmen auf sich vereinen, doch das progressiv-liberale Lager hielt dagegen: Die Federação Brasil da Esperanza (Föderation Hoffnung für Brasilien), die Lula als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt hat, errang 80 Sitze in der Abgeordnetenkammer. Der Partido Socialismo e Libertade (PSOL), ursprünglich eine linke Abspaltung der Arbeiterpartei (PT), mit der Lulas politische Karriere verbunden ist, hat mehr Sitze errungen denn je. Erstmals wurden drei trans Abgeordnete in den brasilianischen Nationalkongress gewählt. Und schließlich stellt die Landlosenbewegung auf Bundes- wie Landesebene so viele Abgeordnete wie noch nie.

Trotz Lulas versöhnlicher Rede nach seinem Wahlsieg: Es gibt zwei Brasilien. Lula konnte sich im Nordosten und in den Hauptstädten und Ballungsgebieten behaupten, auch dank der Frauen und der unteren Mittelschicht, die Bolsonaro für seine Coronapolitik abgestraft haben.

Bolsonaro dagegen hat darauf gesetzt, die Wählerschaft der kleinen Bundesstaaten zu mobilisieren; er versprach ihr gesonderte Zuflüsse aus dem sogenannten geheimen Budget (or­ça­men­to secreto). Dieses war eingeführt worden, um auf diskrete Weise Bundesmittel direkt an Abgeordnete und Senatoren für bestimmte Projekte zu verteilen. Ein beträchtlicher Teil des Bundeshaushalts (25 Prozent im Jahr 2020) diente also der Durchsetzung politischer Ziele – mit klarer Tendenz zur Vetternwirtschaft –, um Wählerstimmen zu kaufen.

Die Schiebereien zwischen Abgeordneten und Bürgermeistern haben zu einer absurden Zunahme ungerechtfertigter und sehr spezieller öffentlicher Ausgaben geführt. So wurden in Igarape Grande, einer Stadt mit 11 500 Ein­woh­ne­r:in­nen im nordöstlichen Bundesstaat Maranhao, plötzlich 13 000 Röntgenaufnahmen von Fingern verschrieben, in etwa so viele wie in São Paulo mit seinen mehr als 12 Millionen Ein­wohner:innen.

Mit diesem System des Zuschiebens von Bundesmitteln wollte Bolsonaro seiner Regierung das Überleben sichern, nachdem diese durch die Gerichtsverfahren gegen Bolsonaros Familie und seinen Umgang mit der Pandemie in Misskredit geraten war.

Ohnehin war Bolsonaro der erfolgloseste Präsident in der Geschichte Brasiliens. Seinen Gesetzentwürfen aus dem Jahr 2021 stimmten nur durchschnittlich 28 Prozent der Abgeordneten zu, sogar Dilma Rousseff erhielt noch 2016, im Jahr ihrer Amtsenthebung, mehr Zustimmung. Auch die wirtschaftliche Erholung Brasiliens nach der Pandemie lag deutlich unter dem Weltdurchschnitt.

Im produktiven Kernland Brasi­liens, in den Bundesstaaten Minas Gerais, Rio de Janeiro und São Paulo, musste der Präsident einen deutlichen Stimmenverlust hinnehmen. Im Vergleich zu 2018 hat er hier nicht weniger als 11 Millionen Stimmen verloren. (Im nationalen Gesamtergebnis betrug die Differenz gegenüber Lula nur 2 Millionen Stimmen.)

In fast allen 38 brasilianischen Städten mit mehr als 500 000 Einwohnern erzielte Lula einen klaren Sieg. Das gilt auch für Joinville (Santa Catarina) und Nova Iguacu (Rio), obwohl Bolsonaro dort immer noch eine große Anhängerschaft besitzt; ebenso für Porto Alegre (Rio Grande do Sul) und Juiz de Fora (Minas Gerais). In diesen Großstädten konnte Lula die Ergebnisse der PT im Vergleich zu früheren Präsidentschaftswahlen verbessern.

Auch die Arbeitslosigkeit dürfte für Bolsonaros Stimmenverluste eine Rolle gespielt haben. Von den Gemeinden, die in den letzten Jahren die meisten Arbeitsplätze verloren haben, hat Lula 80 Prozent gewonnen; von den Gemeinden, in den Arbeitsplätze geschaffen wurden, sind 60 Prozent an Bolsonaro gegangen.

Die Entstehung des Bolsonarismus wird oft mit der Abgrenzung der wirtschaftlich starken Regionen gegen die rückständigen, politisch vergleichsweise homogenen Regionen wie dem Nordosten erklärt. Das Brasilien des Booms gegen das Brasilien, das am staatlichen Tropf hängt. Bolsonaro-Brasilien versus Lula-Brasilien.

Doch diese landläufige Sichtweise hält einer näheren Betrachtung kam stand. Sehen wir uns als Beispiel zwei Bundesstaaten an, in denen Bolsonaros Stammwähler zu Hause sind: Rio de Janeiro, Bolsonaros Heimat, wo er seine gesamte politische Laufbahn verbracht hat, und Santa Catarina im Süden des Landes, eine klassisch konservative Region.

Der Kampf um das Erbe ist eröffnet

Bolsonaro ist seit den frühen 1990er Jahren in der Politik. Der Bundesstaat Rio de Janeiro war damals längst nicht mehr, was er einmal gewesen war. Seine Rolle als Epizentrum der Modernisierung hatte seit 1930 nach und nach São Paulo übernommen; in den 1960er Jahren wurde zudem die Hauptstadt ins neu gegründete Brasília verlegt. Die Regierung von Rio, die die politischen Debatten in den 1950er Jahren dominierte, verlor in der 1970er Jahren ihre Vorreiterrolle und vertrat auf einer nachgeordneten Position eine zunehmend angepasste Agenda.

Vom Verfall der Erdölpreise in den Jahren 2014/15 war Rio als Hauptproduzent am meisten betroffen. Das beschleunigte den strukturellen Niedergang der Region zusätzlich und belastete den Haushalt des Bundesstaats und der Kommunen stark. Die Sparpolitik im Verein mit den Folgen der Anti-Korruptionsverfahren im „Lava Jato“-Komplex führten zum Bankrott mehrerer wichtiger Unternehmen. Zwischen 2015 und 2020 hat Rio de Janeiro mehr als 700 000 Arbeitsplätze verloren. Das entspricht der Hälfte der in diesem Zeitraum in ganz Brasilien vernichteten Arbeitsplätze.

Obwohl Rio de Janeiro (zusammen mit anderen Bundesstaaten) von einem kürzlich erlassenen Bundesgesetz profitiert, das die Gemeinden bis 2026 vom Schuldendienst befreit, liegt der Bundesstaat mit dem zweitgrößten Bruttoinlandsprodukts (BIP) des Landes und dem drittgrößten BIP pro Kopf auf dem 17. Platz der Haushaltsvolumen (pro Person).

Zusätzlich zu seiner schwachen Wirtschaft hat Rio de Janeiro auch nur eine schmale Basis an Steuereinnahmen in einem der kompliziertesten Steuersysteme der Welt. Der Bundesstaat kann nicht von der Landesumsatzsteuer (ICMS) auf das an seiner Küste geförderte Erdöl profitieren –  denn diese Steuer wird anders als bei anderen Waren dort erhoben, wo diese verbraucht werden, und nicht am Ort der Produktion.

Vom Tourismus profitieren nur fünf Gemeinden: Búzios, Paraty, Ita­tiaia, Mangaratiba und Arraial do Cabo.

Mit dem wirtschaftlichen Niedergang und sinkenden Wohlstand der Bevölkerung wurde Rio anfälliger für den Rechtspopulismus. Dazu hatte die Korruptionsbekämpfung hier besonders viel zu tun: In den letzten sechs Jahren sind sechs ehemalige Gouverneure im Gefängnis gelandet; die beiden letzten Gouverneure konnte ihre Amtszeit nicht regulär beenden.

Anhand des sozioökonomischen Wandels von Rio de Janeiro zeigt sich, dass es gerade nicht Wohlstand und wirtschaftliche Stärke waren, die Bolsonaro in seinem Heimatstaat Erfolg beschert haben. Gleiches gilt für den Bundesstaat Santa Catarina im Süden, wo Bolsonaro 70 Prozent der Stimmen holte. Auch hier spricht alles dafür, dass nicht wirtschaftliche Stärke entscheidend war für die Entstehung des Bolsonarismus.

In Santa Catarina, einem relativ reichen Bundesstaat, wo auch viele Nachkommen deutscher Einwanderer leben, wird die Lokalpolitik von wenigen Familien gesteuert: Von Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1990er Jahre haben zwei Clans, die Familien Ramos und Konder-Bornhausen, 12-mal den Regierungschef gestellt. Diese oligarchische Struktur bestimmt den Staat stärker als die politischen Parteien, die in Brasilien häufig unbeständige und ideologisch widersprüchliche Bündnisse eingehen. Lange vor dem Auftauchen Bolsonaros hatten die Familienclans die politische Macht fest in der Hand. In ihm fanden sie vor allem einen verlässlichen Gewährsmann auf nationaler Ebene, bei dem sie ihre Interessen, Bedürfnisse und Erwartungen in der Wirtschaftskrise gut vertreten sahen.

Zudem hat Santa Catarina wenige urbane Zentren. Die Hauptstadt Florianópolis hat nur knapp 600 000 Einwohner. Wegen der ländlichen Struktur des Staats hat sich keine städtische Arbeiterschaft herausgebildet, es entstand keine linke politischen Kraft, und die Sozialprogramme der PT-Regierungen fielen hier auf keinen sonderlich fruchtbaren Boden.

Santa Catarina ist ein gutes Beispiel für die vielen Gesichter des Bolsonarismus. Der neue Gouverneur Jorginho Mello von der Liberalen Partei, der inzwischen auch Bolsonaro angehört2 , gehörte einst zur parlamentarischen Basis von Dilma Rousseff. Der scheidende Gouverneur, der Offizier Carlos Moisés, der bei seiner Wahl 2018 noch Parteigenosse Bolsonaros war, distanzierte sich von ihm, kaum dass er im Amt war.

Mit anderen Worten: Pragmatismus und das Ausblenden von Unvereinbarkeiten, Geschmeidigkeit und der Wechsel der eigenen Position sind unter den Bolsonaristen auf lokaler wie auf na­tio­na­ler Ebene viel normaler, als man gemeinhin annimmt. Nach der Wahlniederlage werden sie wahrscheinlich noch häufiger vorkommen.

Die Niederlage Bolsonaros markiert das Ende einer Etappe in der Umwandlung von Brasiliens Parteienlandschaft. Der Kampf um das Erbe ist eröffnet. Gefährlich werden können Bolsonaro vor allem die neuen Anführer der erstarkten konservativen Basis, die bereits die rechte Mitte geschluckt haben. Nun könnten sie versuchen, ihn in Rente zu schicken. Gouverneure wie Romeu Zema aus Minas Gerais oder Tarcísio de Freitas aus São Paulo werden sich weniger an Lula und am obersten Wahlgericht abarbeiten, als vielmehr gegeneinander antreten.

Sie werden versuchen sich als na­tio­nale Leitfigur zu profilieren, in einer Epoche, die von einem überaus mächtigen Kongress, von politischer Instabilität und geringem Wirtschaftswachstum geprägt sein wird.

Die brasilianische Politik befindet sich also in einer riskanten Phase. Die guten Zeiten zu Beginn der 2010er Jahre sind endgültig vorbei, 2018 hat vieles verändert. Unzufriedenheit und Feindschaft gegenüber dem politischen System dauern an. Deshalb zeigte sich Lula auch offen für ein breites sozialliberales Bündnis, in dem sogar Vertreter der Agrarindustrie und des Unternehmertums von São Paulo Platz finden.

Diese Koalition soll den Geist des demokratischen Versprechens von 1985 retten, dem Ende der Militärdiktatur. Sonst könnte die Unzufriedenheit Überhand gewinnen und das Land einer neuen autoritären Führung in die Arme treiben. Es ist eine Gratwan­derung.

1 Siehe Laurent Delcourt, „Hexenjagd in Brasilien“, LMd, Mai 2016.

2 Bolsonaro wechselte mehrfach seine Parteimitgliedschaften, auch noch während seiner Präsidentschaft.

Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold

Patricio G. Talavera ist Politologe.

© Le Monde diplomatique (Edición Cono Sur), Buenos Aires; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.12.2022, von Patricio G. Talavera