08.12.2022

Putins Freund

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Putins Freund

Viktor Orbán ist der engste Verbündete des Kreml in Europa. Das war nicht immer so

von Corentin Léotard

„Russen raus!“: Studentenführer Viktor Orbán am 16. Juni 1989 TÓTH ISTVÁN CSABA/picture-alliance/dpa
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Seit Viktor Orbán 2010 wieder an die Macht kam, reist er durch die Peripherie der Europäischen Union und trommelt zum Aufstand gegen Brüssel. Dabei spricht er häufig von „uns, den Zentral­europäern“, und mahnt die Menschen in den ehemaligen „Volksdemokratien“, sich ihre Eigenheiten nicht nehmen und sich ihr Verhalten nicht vorschreiben zu lassen.

Seit mehr als zehn Jahren wirbt der ungarische Ministerpräsident außenpolitisch für eine „Öffnung nach Osten“, mit dem erklärten Ziel, die starke wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen abzubauen und sich „freizumachen von den in Westeuropa kursierenden Dogmen und Ideologien“ – sprich: vom Modell der liberalen Demokratie.1

In Washington hat man sich lange Zeit kaum für Zentraleuropa interessiert. Für Orbán war das ein Glück, denn für den repräsentieren China und Russland, die globalen Rivalen der USA, das bessere Modell für ein Ungarn, das seine Position im globalen Wettbewerb verbessern will. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Karten allerdings neu gemischt. Unter der Schirmherrschaft der USA und im Namen der Verteidigung der liberalen Demokratie ist die Europäische Union näher zusammengerückt, während Orbán gerade dabei ist, sich von den USA wie von der liberalen Demokratie zu verabschieden.

„Egal wer gewinnt – am Ende sind wir die Leidtragenden“, warnte Viktor Orbán am 15. März anlässlich der Feiern zum Jahrestag des Unabhängigkeitskampfes von 1848, der vom Militär der Habsburger Monarchie blutig niedergeschlagen wurde – mit Unterstützung russischer Truppen, wie ein Jahrhundert später beim ungarischen Volksaufstand von 1956. Laut Orbán zeigt die historische Erfahrung: „Ungarn ist für die großen Mächte nur eine Schachfigur, die sie zu opfern bereit sind, wenn es ihre Ziele erfordern und wir nicht stark genug sind.“2

Ebenfalls am 15. März reisten die Regierungschefs von Polen, Tsche­chien und Slowenien nach Kiew, um dem ukrai­nischen Präsidenten Wolodimir Selenski die „uneingeschränkte Unterstützung“ der EU zuzusichern. Damit war Orbán, der sich seit dem Streit um die europäischen Asylbewerberquoten im Jahr 2015 als Wortführer Zentraleuropas aufgespielt hatte, auf einmal völlig isoliert und musste sogar von seinem polnischen Verbündeten, der ul­trakonservativen PiS-Partei, harte Kritik einstecken (siehe den nebenstehenden Text).

Was den Ukrainekrieg betrifft, so steht Ungarn formell allerdings noch im westlichen Lager. Im Europäischen Rat stimmte das Land für die verschiedenen Sanktionspakete gegen Russland; in der UN-Vollversammlung vom 2. März 2022 verurteilte es den russischen Angriffskrieg und erklärte, die territoriale Integrität der Ukraine müsse gewahrt bleiben. Die Bevölkerung bereitete den ukrainischen Flüchtlingen, die zu Hunderttausenden über ungarisches Territorium ausreisten, einen freundlichen Empfang. Die Regierung lieferte Lebensmittel und Kraftstoff im Wert von 50 Millionen Euro ins ukrainische Transkarpatien. Auch als die Nato im Frühjahr einen „multinationalen Gefechtsverband“ an Ungarns 137 Kilometer lange Grenze zur Ukraine verlegte, machte Orbán keine Schwierigkeiten.

Der ungarische Regierungschef weigert sich jedoch, die Ukraine mit Waffen zu beliefern. Auch die offizielle Position, dass keine Waffen über ungarisches Gebiet in die Ukraine gelangen dürfen, besteht unverändert fort. Seit April plädierte Orbán für eine sofortige Waffenruhe und Friedensverhandlungen und stellte sich damit gegen die anderen EU-Mitgliedstaaten, die auf einen militärischen Sieg der Ukraine setzten. Ein solches Szenario schloss er am 10. September bei einer Parteiveranstaltung in Kötcse kategorisch aus.

Seit 2010 hat Orbán viel unternommen, um die ungarische Wirtschaft, die nach der Krise von 2008/09 darniederlag, wieder anzukurbeln. Viele dieser Bemühungen macht Russlands Krieg in der Ukraine nun zunichte. Im April gewann Orbán mit einer satten Mehrheit von 54 Prozent die vierte Parlamentswahl in Folge; vor allem dank seines Versprechens, die 2013 eingeleiteten Energiesubventionen beizubehalten.

Ein halbes Jahr später leidet die Bevölkerung unter einer massiven Inflation. Im September lag die Teuerungsrate bei 21,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, für Lebensmittel sogar bei über 35 Prozent.3 Der Forint verlor in den vergangenen fünf Jahren ein Drittel seines Werts und gab gegenüber dem Euro allein 2021 um 15 Prozent nach. Das Jahrzehnt des Wirtschaftswachstums, von dem weite Teile der ungarischen Gesellschaft profitierten, ist vorbei.

Bei einem Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz am 10. Oktober in Berlin bezeichnete Orbán die europäische Sanktionspolitik als „konzeptionell primitiv und in der Wirkung katastrophal“ und machte sie für die Krise verantwortlich. Am 14. Oktober begann eine „nationale Konsultation“ zu diesem Thema mittels Fragebogen, die an alle Haushalte geschickt wurden und bis zum 9. Dezember ausgefüllt sein sollen. Eine der Fragen lautet: „Stimmen Sie den Sanktionen zu, die für den Anstieg der Lebensmittelpreise verantwortlich sind und somit die Gefahr von Hunger in den Entwicklungsländern und den Migrationsdruck an Europas Grenzen verschärfen?“

Mit solchen Suggestivfragen ließ Orbán bereits „Konsultationen“ zu anderen Themen bestreiten, die ihn geradezu obsessiv umtreiben. Zum Beispiel zu den von der Europäischen Kommission festgelegten Asylbewerberquoten, die er als „Soros-Plan“ bezeichnete, oder zum Umgang mit der Coronapandemie.

Mit Ausnahme der Slowakei ist kein EU-Mitgliedstaat so stark von fossilen russischen Energieträgern abhängig wie Ungarn.4 Derzeit importiert das Land immer noch rund 80 Prozent seines Erdgases und 65 Prozent seines Erdöls aus Russland.5 Seinem auf Souveränität fixierten Regierungschef fällt die Wahl nicht schwer, wenn es um die Alternative geht: „preiswertes russisches Gas und teures amerikanisches Gas, von dem noch nicht einmal klar ist, wie es zu uns gelangen soll“. Angesichts dessen überrascht es nicht, dass sich Budapest der Forderung des Kreml, Gas und Öl in Rubel zu bezahlen, umstandslos gefügt hat.

Zudem ertrotzte Orbán Anfang Juni 2022 auf EU-Ebene – nach wochenlangen Verhandlungen und einer Blockade-Drohung – eine Ausnahme vom Ölembargo gegen Russland, das außer für Ungarn auch für die Slowakei und die Tschechische Republik gilt. Diese drei Binnenländer werden über die Druschba-Pipeline (Freundschaft) versorgt, durch die seit den 1960er Jahren Erdöl nach Zentraleuropa fließt. Für sie würde jede alternative Lösung kurzfristig extrem hohe Kosten verursachen.

Um die ungarisch-ukrainischen Beziehungen ist es nicht erst schlecht bestellt, seit Ungarn im Herbst 2021 an die Gasleitung „Turkstream“ angeschlossen wurde. Weil über diese Pipeline russisches Gas über das Schwarzen Meer an der Ukraine vorbei nach Ungarn gelangt, reagierte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba damals empört. Doch der offene Streit begann bereits 2017, als Ungarn mit seinem Veto­recht jede Annäherung Kiews an die Nato blockierte.

Budapest übte damit Vergeltung für die Politik der Ukrainisierung, mit der Kiew angeblich die ungarischsprachige Bevölkerung im westukrainischen Transkarpatien schikaniert. Diese Minderheit von 150 000 ist seit Langem in der mehrheitlich ruthenischen Re­gion ansässig, die lange zum Königreich Ungarn beziehungsweise zum österreichisch-ungarischen Kaiserreich gehörte. Am 20. November sorgte Orbán für Empörung, als er bei einem Fußballspiel der ungarischen Nationalmannschaft einen Fanschal trug, auf dem die Umrisse des ehemaligen Königreichs Ungarn abgebildet waren.

Während das Verhältnis zwischen Budapest und Kiew also nach wie vor angespannt ist, ist es zwischen Viktor Orbán und Wladimir Putin in den vergangenen zehn Jahren immer enger geworden, und zwar auch nach der russischen Annexion der Krim von 2014. Dabei gründete der junge Orbán seinen politische Nimbus mit seinem Auftritt vom Juni 1989 auf dem Budapester Heldenplatz, als er sich mit dem Ruf „Rusz­kik Haza!“ („Russen raus!“) zum „Freiheitskämpfer“ und Erben der „Pes­ter Jungs“ stilisierte, die sich 1956 den sowjetischen Panzern in den Weg gestellt hatten.

Aber das ist lange her. 2014 vergab Orbán den Auftrag für ein Atomkraftwerk – das größte öffentlichen Projekt der ungarischen Geschichte – ohne Ausschreibungsverfahren an das russische Unternehmen Rosatom. Und im August 2022 verkündete die ungarische Regierung, das russische Unternehmen werde demnächst mit dem Bau zweier neuer Atomreaktoren auf dem Gelände des AKWs Paks beginnen. Die Kosten dafür betragen 12,5 Milliarden Euro und werden zu 80 Prozent durch einen russischen Staatskredit finanziert.

Führende ungarische Oppositionelle sehen in Orbán einen Vasallen, wenn nicht einen Agenten Putins und erklären seine nicht mehr ganz neue Affinität zu Russland durch Korrup­tion. Nach Darstellung des Oppositionspolitikers Péter Márki-Zay, der im April die Wahl gegen Orbán verloren hat, war Orbán lange entschieden gegen Putin und ein Freund der EU. Demnach kam die große Wende am 25. November 2009 bei einem Treffen in Sankt Petersburg. „Ich weiß nicht, was Putin Orbán bei diesem Treffen gesagt oder vorgezeigt hat, um ihn zu erpressen. Darüber kann ich nur spekulieren.“

Eine mögliche Erklärung für die Annäherung zwischen den „starken Männern“ in Moskau und Budapest ist ihre ideologische Nähe. Beide sehen den Westen als imperialistische Kolonialmacht, die den moralischen Zeigefinger hebt, obwohl sie selbst schwach, dekadent und nihilistisch ist. Und für beide sind all die Dinge, die der Westen angeblich den Ländern Zentraleuropas aufzwingen will, also Einwanderung, Multikulturalismus, „Rassenmischung“ und Gender Studies – nichts anderes als „Gift für die europäische Zivilisation“.

Orbáns nationalkonservative Regierung hat die russischen Gesetze, die Nichtregierungsorganisationen als „ausländische Agenten“ abstempeln oder „homosexuelle Propaganda“ unterbinden, fast eins zu eins kopiert. Der Regierungschef glaubt fest an die Theorie vom „Großen Austausch“, die er lautstarker verbreitet. Für ihn sind die Länder Westeuropas bereits keine „Nationen“ mehr, sondern nur noch „Völkerkonglomerate“.

Ungarns Nationalisten sind stolz auf die asiatischen Wurzeln des magya­rischen Volks. Sie sind überzeugt, dass die Zukunft im Osten liegt, und sehen sich als Mittelpunkt einer neuen geopolitischen Region Eurasien. Viktor Orbán, ein Calvinist an der Spitze eines mehrheitlich katholischen Landes, wirbt heute für eine Allianz mit der orthodoxen Welt. In diesem Geiste verhinderte Ungarn im Mai 2022, dass Russlands Patriarch Kyrill auf die EU-Sanktionsliste gesetzt wurde, der revanchierte sich im September mit einem hohen Orden für den ungarischen Vize-Ministerpräsidenten Semjén.

Im selben Monat erhielt Orbán vom serbischen Patriarchen Porfirije den St.-Sava-Orden, die höchste Auszeichnung der serbisch-orthodoxen Kirche. Außerdem wurde ihm von Präsident Aleksandar Vučić, seinem neuen engsten Verbündeten, der Verdienstorden der Republik Serbien verliehen. Am 10. Oktober verkündeten Orbán und Vučić gemeinsam die Verlängerung der Druschba-Pipeline, die russisches Erdöl nach Serbien bringen und damit die EU-Sanktionen umgehen wird.

Auch die staatsnahen Medien, die in Ungarn die Presselandschaft dominieren wie in keinem anderen EU-Mitgliedsland, schreiben über das Verhältnis zu Moskau, als wären sie ein Sprachrohr der Kreml-Medien: „Russland ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr unser Feind; es ist ein aufrichtigerer Partner als manche unserer sogenannten ‚Verbündeten‘ “, war am 22. September in der rechten Tageszeitung Magyar Nemzet zu lesen. Russland sei 1991 auf ähnliche Weise „verstümmelt“ worden wie Ungarn 1920 durch den Vertrag von Trianon. Und die USA hätten den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine gezielt geplant, um die Plünderung Zentraleuropas fortzusetzen.

Die Wirkung solcher Propaganda ist nicht zu übersehen: Viele Wähler von Orbáns Fidesz-Partei und vor allem viele Rentner machen die Ukraine für den Krieg verantwortlich. Am Abend seiner triumphalen Wiederwahl am 3. April ergänzte Viktor Orbán die Reihe seiner angestammten Feinde – voran George Soros und die EU-Kommis­sion – um den ukrainischen Präsidenten Selenski. Es war als Scherz gedacht, der aber im Publikum gut ankam.

1 Siehe „La Hongrie sur la voie d’une démocratie despotique“, Le Courrier d’Europe centrale, Budapest, 2. August 2014.

2 Rede von Viktor Orbán anlässlich des 174. Jahrestags der Revolution und des Unabhängigkeitskampfs von 1848/49, 15. März 2022.

3 „Hungary cenbank leaves rates steady, sees food prices pushing inflation“, Reuters, 22. November 2022.

4 „Which countries are most reliant on Russian energy“, www.iea.org.

5 „Hungary says it’s impossible for Europe to ban Russian gas anytime soon. Putin agrees“, CNBC, 10. Juni 2022.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Corentin Léotard ist Chefredakteur des Courrier d’Europe centrale, der in Budapest erscheint.

Le Monde diplomatique vom 08.12.2022, von Corentin Léotard