China und seine unbekannten Denker
Die lebendigen – und durchaus gewollten – Debatten chinesischer Wissenschaftler:innen finden weitgehend unter dem Radar der internationalen Öffentlichkeit statt. Dabei sind sie keineswegs nur an ein chinesisches Publikum gerichtet und bieten interessante Einblicke in die innerparteilichen Machtkämpfe.
von David Ownby
Auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Oktober 2022 hat es sich gezeigt: Präsident Xi Jinping möchte werden wie Mao Tse-tung, ihn am liebsten noch übertrumpfen. Manche bezeichnen ihn sogar als „neuen Stalin“.1
Seit Jahren wachsen die Spannungen zwischen einer der mächtigsten Autokratien der Welt und dem Westen. War der ideologische Hauptgegner des Westens früher die UdSSR, ist es heute China. Die chinesischen Intellektuellen werden mit den sowjetischen refuseniks gleichgesetzt, denen schon für den Besitz verbotener Bücher der Gulag drohte. Aus Sicht der neuen Kalten Krieger ist der Fall klar: In China gibt es kein wirkliches intellektuelles Leben, außer im Privaten (oder im Gefängnis). Und so sind im Westen gemeinhin auch nur wenige chinesische Dissidenten wirklich bekannt – wie etwa der Künstler Ai Weiwei oder der Jurist Xu Zhangrun.
Wenn man schon einen historischen Vergleich ziehen will, dann hat das heutige China seit Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen jedoch weniger mit Stalins Imperium gemein als mit dem Japan der Meiji-Periode (1868–1912). Beide Regime öffneten ihr Land nach außen und trennten sich von ihrer feudalen beziehungsweise maoistischen Tradition. In beiden Nationen entstand eine blühende, bis zu einem gewissen Punkt sogar pluralistische intellektuelle Szene.
In China war diese Szene in den Jahren vor Xis Amtszeit (ab März 2013) sehr lebendig. Trotz all seiner Anstrengungen gelang es Xi auch nie, die ideologische Kontrollschraube komplett anzuziehen; ihm blieb gar nichts anderes übrig, als die Intellektuellen zu dulden. Man kann sogar sagen, dass diese Debatten teilweise beabsichtigt sind und – direkt oder indirekt – im Kampf um die Macht und das politische Programm nach wie vor eine Rolle spielen.
Ist China einzigartig?
Seit zehn Jahren leite ich ein Forschungsprojekt über die „anerkannten chinesischen Intellektuellen“2 , die in China veröffentlichen und sich an die von der Staatspartei vorgegebenen Spielregeln halten, ohne reine Sprachrohre des Regimes zu sein. Sie bilden eine Art „Gelehrtenrepublik“, die im propagandistischen Getöse des Regimes allerdings kaum wahrnehmbar ist. Und da der Austausch ausschließlich auf Chinesisch stattfindet, leidet ihre internationale Wahrnehmung zusätzlich unter der Sprachbarriere.
Die wichtigsten Diskussionen drehen sich seit etwa 2000 um drei grundlegende, miteinander verbundene Fragen: Ist China einzigartig, und wenn ja, in welcher Hinsicht? Was ist seine Rolle in der Welt, oder was sollte sie sein? Und wie ist seine Geschichte gut zu erzählen? Storytelling wurde besonders unter Xi zu einem wichtigen Instrument der chinesischen Softpower.
Zwei Ereignisse der jüngeren Vergangenheit sind dabei prägend: Die Auflösung der Sowjetunion nach 1991 und der scheinbare Niedergang des Westens – vor allem der USA – nach der globalen Finanzkrise von 2008. Während das „Reich der Mitte“ (zhong guo) aufstieg und seine großen Rivalen scheiterten oder schwankten, hat sich fast zwangsläufig die Vorstellung durchgesetzt, China sei einzigartig und sei es immer gewesen. Nach einem Jahrhundert der Demütigung und mehreren revolutionären Jahrzehnten kehrte das historische Gefühl der Überlegenheit zurück.
Gerade hier zeigt sich aber auch der Unterschied zwischen der Ära Xi und der Präsidentschaft seines Vorgängers Hu Jintao (2003–2013): Unter Hu entstand eine Art Historikerstreit über die These von der „nationalen Demütigung“. Viele kamen zu dem Schluss, dass das Schlagwort von der dynastischen Elite im Kaiserreich in die Welt gesetzt und später von Sun Yat-sen und Mao Tse-tung übernommen und instrumentalisiert worden sei.3 Dieses Narrativ ist seit Xis Amtsantritt Anfang 2013 vollständig in den Hintergrund getreten.
Zu den stolzen Verteidigern der Theorie, dass China allen anderen Ländern überlegen sei4 , gehört etwa der Politikwissenschaftler Zhang Weiwei, der zwischen 2008 und 2016 eine Trilogie über China veröffentlicht hat.5
Für Zhang Weiwei sind andere Länder nur „Nationalstaaten“, während China zugleich „Zivilisation“ und „Nationalstaat“ sei, was das Land „einzigartig“ mache. Der Autor ist vor allem bei der KPCh-Spitze populär, und seine Bücher sind nur deshalb Bestseller, weil Parteimitglieder und Regierungskader dazu angehalten werden, sie zu kaufen.
In den chinesischen Sozialwissenschaften gilt er hingegen als nicht wirklich ernst zu nehmender Autor: Erstens redet er Xi nach dem Munde, und zweitens steht ein Plagiatsvorwurf im Raum. Seine letzten beiden Bücher besitzen nämlich eine auffällige Ähnlichkeit mit dem Buch „When China Rules the World. The End of the Western World and the Birth of a New Global Order“ des Briten Martin Jacques, erschienen 2009. Es wurde in 15 Sprachen übersetzt, ein Weltbestseller. Ein chinesisches Werk über die Einzigartigkeit Chinas, das ein ausländisches Buch abkupfert, weckt denn doch gewisse Zweifel.
Hervorragende Wissenschaftler wie Jiang Quing6 , ein Vertreter des klassischen Konfuzianismus, oder Chen Ming7 , der eine instrumentelle Anpassung des Konfuzianismus an die Erfordernisse der Gegenwart fordert, begeistern sich zwar auch für die Idee von Chinas Einzigartigkeit. Aber ihre Schlussfolgerungen sind umstritten. So erklärt Chen: „Die republikanische Revolution von 1911 war ein unnötiger Fehler, denn China war bereits auf dem Weg zur konstitutionellen Monarchie.“ Oder: „Ein großer Teil des 20. Jahrhunderts war ein tragischer Fehler, weil die Regierung ständig nach westlichen Lösungen für chinesische Probleme gesucht hat.“
Wie kunstvoll diese neuen Konfuzianer die KPCh auch mit „wohlwollenden Monarchen“ der Vergangenheit vergleichen mögen – den Kommunisten wird nicht entgangen sein, dass sie den Marxismus als etwas Ausländisches verurteilen – ein höchst sensibler Punkt, denn Xi ist ein Apologet des „Kommunistischen Manifests“.
Auch die chinesische Neue Linke, die in den 2000er Jahren für einen gezähmten Kapitalismus und den Kampf gegen Ungleichheit eintrat, ist überzeugt von Chinas Einzigartigkeit. Laut Wang Hui8 oder Wang Shaoguang9 hat Chinas Aufstieg bewiesen, dass die angeblich „universellen Werte“ des Westens so universell nicht sind. Das Land verdanke seinen Erfolg vielmehr politischen Innovationen wie der „reaktiven Demokratie“ (die Staatspartei antwortet auf die Bedürfnisse des Volkes), die der durch Klientelismus, Feminismus und Multikulturalismus gelähmten „repräsentativen Demokratie“ des Westens überlegen sei. Dagegen habe China die „Rolle des Staats“ weiterentwickelt.
Diese „reaktive Demokratie“ habe eine verblüffende Ähnlichkeit mit Mao Tse-tungs „Massenlinie“, entgegnen wiederum Liberale wie der Historiker Xu Jinlin und warnen: Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten auch Japan und Deutschland einen ganz ähnlichen Staatskult entwickelt, und das habe in Krieg und Niederlage geendet. Doch auch die Liberalen finden, dass China seine eigene Vision der Moderne entwickeln und damit zur Vielfalt der universellen Werte beitragen müsse. „Die Zivilisationstradition Chinas ist nicht nationalistisch, sondern beruht vielmehr auf universellen und humanistischen Werten“, schreibt Xu.10
Das zweite, damit verknüpfte und viel diskutierte Thema betrifft Chinas internationale Rolle. Nachdem es seinen Status als Großmacht wiedererlangt hat, solle es seine historische Position in der „Mitte der Welt“ wieder einnehmen. In diesem Sinne hat der Philosoph Zhao Tingyang das tianxia-Konzept aus dem 11. Jahrhundert aufgegriffen und aufgepeppt.11 Übersetzt heißt es so viel wie „alles, was unter dem Himmel ist“ – ein universalistisches Denken also, das lange vor der westlichen Aufklärung entstand.
Ihm zufolge lag das Zentrum der Zivilisation in China. Deren Kraft ließ mit der Entfernung von diesem Zentrum nach, doch auch die „Barbaren“ an den Rändern konnten sich zivilisieren, indem sie lernten, „Chinesen zu sein“. Zhao geht es in seinem Rekurs auf das tianxia-Prinzip auch um eine moralische Weltordnung, die nicht in erster Linie auf Interessen und Macht beruht.
Viele Intellektuelle, die sich mit Chinas Außenpolitik befassen und Xi Jinpings Schlagworte von der „Schicksalsgemeinschaft“ und den „Win-win-Abkommen“ nachbeten, beschäftigen sich mit verschiedenen Konzepten, wie eine multipolare Welt aussehen könnte. So schwebt etwa dem an der Peking-Universität lehrenden Rechtstheoretiker Jiang Shigong12 ein chinesisches Imperium vor, dessen Regionen durch die Neue Seidenstraße (Belt and Road Initiative, BRI) „vereint“ wären. Allgemein wird jedoch viel mehr Zeit und Aufwand in die Kritik von verschiedenen Erscheinungen der US-Hegemonie investiert als in die Erörterung von Chinas aktuellem Verhalten auf der internationalen Bühne.
Manche in der Debatte meinen, der Welt sei es sogar besser gegangen, als China in einer von den USA beherrschten Welt nur eine Nebenrolle spielte – als es sich noch „bedeckt hielt“, wie man gerne sagt. Sie stellen auch die weit verbreitete Vorstellung infrage, hohe Wachstumsraten würden ausreichen, um die USA zu überholen. Der Soziologe Sun Liping hält diese Fixierung sogar für gefährlich: „Wir müssen begreifen, dass wir vor äußerst schwierigen existenziellen Problemen stehen, das größte ist unsere extrem niedrige Geburtenrate.“13 Er ist nicht der einzige Warner (siehe dazu auch den nebenstehenden Kasten).
Der junge Politikwissenschaftler Shi Zhan hat ein ganzes Buch14 darüber geschrieben, warum man dem „populistischen Nationalismus“ nicht nachgeben dürfe und dass sich die Führung endlich der Tatsache stellen müsse, dass China niemals die Meere beherrschen wird. Im Wandel begriffen sei selbst das Wesen der Macht, schreibt Shi: Internetplattformen und künstliche Intelligenz, die die Ökonomie der Zukunft bestimmen werden, entzögen sich weitgehend und überall der staatlichen Kontrolle.
Kommen wir zu der dritten Frage: Wie soll man die Geschichte des Landes gut erzählen? Mit diesem Thema beschäftigen sich viele; und sie tun es weniger, weil die Partei daran zu Propagandazwecken äußerst interessiert ist, als in der Hoffnung, zu einem echten Verständnis davon zu gelangen, was ihr Land für die Einheimischen wie für das Ausland bedeutet.
Die meisten Diskussionsthemen der Intellektuellen liegen auf der Hand, denn sie sind auch Themen der breiten Öffentlichkeit, sei es der Wunsch nach „Wohlstand für alle“ – eine Horrorvorstellung in den Augen der Reichen –, die Neue Seidenstraße oder die umstrittene Null-Covid-Politik (siehe den Text auf Seite 4 unten). Besonders lebhafte Debatten löste eine seltsam anmutende Frage aus: Soll man die Geschichte der Volksrepublik China als „zwei Perioden von 30 Jahren“ oder „eine Periode von 60 Jahren“ erklären? Im Kern dieser Überlegungen steckt die große Frage, ob die Mao-Ära ein Irrweg war oder nicht und ob Deng Xiaoping nur korrigierend eingegriffen hat, als er China unideologisch und pragmatisch den internationalen Märkten öffnete.
Es gibt immer noch Kommunisten, die es für einen Fehler halten, dass der Maoismus aufgegeben wurde, während viele Liberale meinen, Deng habe sich nicht entschieden genug der Marktwirtschaft zugewandt. Die Mehrheit steht irgendwo dazwischen. Die Partei hat wenig überraschend beschlossen, dass die Geschichte der Volksrepublik China als Ganzes betrachtet werden müsse. Einige Intellektuelle beunruhigt das, denn Xi scheint sich für ihren Geschmack zu getreu an das maoistische Drehbuch zu halten.
Viele Liberale erzählen die Geschichte so: Die Revolution von 1949 war nötig, um das Volk aus seinem tausendjährigen Winterschlaf zu wecken und die nötige Energie für den Wandel zu erzeugen. Das maoistische China habe viele Fehler gemacht, aber die Planwirtschaft und die forcierte Modernisierung hätten die Grundlage für den Aufschwung in der Reformperiode ab 1979 geschaffen. Diese Politik habe unternehmerische Fähigkeiten freigesetzt.
China ist gegenwärtig ein eher reiches Land in einer globalisierten Welt. Und die während der Revolution und unter Mao gepredigte Botschaft vom Klassenkampf ist schon lange nicht mehr aktuell. Für radikale Liberale wie Yuan Weishi, früher ein wichtiger Berater Hu Jintaos, war sie ohnehin nichts als ein überholtes Erbe des Stalinismus.
Selbst Intellektuellen, die den Einparteienstaat verteidigen, ist der altbackene marxistisch-leninistisch-maoistische Sprachgebrauch, den die KPCh immer noch praktiziert, inzwischen richtig peinlich. Im Ausland kann man damit sowieso nicht punkten, aber auch im Inland schalten die Menschen bei dieser Terminologie auf Durchzug. Es ist klar, dass Xis „Kleine rote App“15 nichts helfen wird, wenn der chinesische Immobilienmarkt wie befürchtet zusammenbricht.
Doch Ausnahmen gibt es: Jiang Shigong etwa hat 2019 einen langen Essay16 veröffentlicht, in dem er den Präsidenten als Helden darstellt, der China in letzter Minute rette und verhindere, dass es das gleiche Schicksal erleide wie die Sowjetunion – Chaos, relative Armut und Bedeutungslosigkeit. Dank Xi sei China vielmehr der Leitstern für den Rest der Welt, um sich aus den Fängen des US-amerikanischen Neoliberalismus zu befreien. Jiangs Text ist sehr ambitioniert; er möchte alle aktuellen Fragen klären und den intellektuellen De-facto-Pluralismus in China rückgängig machen.
In jüngster Zeit bemühte sich der Wirtschaftswissenschaftler Yao Yang auf eindrucksvolle Weise, einen „konfuzianischen Liberalismus“17 als Lösung für die Probleme des Landes und der Welt zu entwickeln. Er meint, die westlichen demokratischen Systeme, die zwischen der Überbewertung des Individualismus und der Forderung nach absoluter Gleichheit gefangen sind, seien dysfunktional und als Inspirationsquelle ungeeignet.
In China gebe es wiederum eine Blockade bei den ökonomischen und politischen Reformen. Noch nie sei die Gefahr so groß gewesen, so Yao Yangs Befürchtung, dass sogenannte linke Maßnahmen, die den Unternehmern schaden, den Reichtum und die Macht des Landes bedrohen. Gleichzeitig stachele der Westen mit seiner Weigerung, die Legitimität des chinesischen Aufstiegs anzuerkennen, Pekings Führung an, noch „kommunistischer“ zu werden.
Yao Yangs konfuzianischer Liberalismus toleriert ein für unvermeidlich gehaltenes Maß an sozialer Ungleichheit und eine gewisse meritokratische Elite. In einem solchen System sei eine konsensfähige Regierung in der Lage, „die Angelegenheiten des Volkes ordentlich zu verwalten“. Westliche Staaten seien, so Yao, zu schwach und von populistischen Strömungen unterwandert, während der Staat in China zu stark sei und die Bedürfnisse des Volkes zu wenig beachte.
Er weiß natürlich, dass die westliche Welt ihm nicht zuhört. Er wendet sich vor allem an die chinesischen Liberalen – und er hat Einfluss auf die Gesellschaft. Deshalb konnte er sich erlauben, am 2. Juli 2021, am Tag nach den pompösen Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag der KPCh, in der angesehenen Zeitschrift Beijing Cultural Review einen langen Artikel über „Die Herausforderungen für die Kommunistische Partei Chinas und die Neugestaltung der politischen Philosophie“ zu veröffentlichen.
Darin ignorierte er nicht nur die großen Themen des Jubiläums und bestand darauf, den Marxismus durch den Konfuzianismus chinesischer zu machen. Er brachte es sogar fertig, weder den Präsidenten noch dessen berühmte „Gedanken“ (in der kleinen rote App) zu erwähnen. Das ist ungewöhnlich in einer solchen Zeitschrift. Für Yao und zahlreiche andere bekannte Intellektuelle heißt „die Geschichte Chinas gut erzählen“ auch, sie in die der anderen zu integrieren. Sie betrachten sich als Bürger der Welt, die imstande sind und in der Verantwortung stehen, mit ihresgleichen überall im Gespräch zu bleiben.
1 Chloé Froissart, „Chine: la crispation totalitaire“, Esprit, Paris, Nr. 491, November 2022.
2 Siehe Reading the China Dream, www.readingthechinadream.com.
4 Vgl. Jean-Louis Rocca, “Eine Partei, eine Nation“, LMd, Juli 2021.
6 Siehe Jiang Qing, „A Confucian Constitutional Order“, Princeton (Princeton University Press) 2012.
16 Jiang Shigong, „Philosophy and History“, Reading the China Dream, 2018.
17 SieheYao Yang, „Rebuilding China’s Political Philosophy“, Reading the China Dream, 2021.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
David Ownby ist Historiker an der Universität Montreal und Co-Autor (mit Timothy Cheek und Joshua A. Fogel) von „Voices from the Chinese Century: Public Intellectual Debate from Contemporary China“, New York (Columbia University Press) 2020.
Generation No Future
Niemand weiß, wann genau dieses Video in Schanghai aufgenommen wurde noch von wem. Doch das ist gar nicht wichtig. Was zählt, ist der Tag, an dem es in den sozialen Medien rasend schnell verbreitet wurde, und das war der 11. Mai 2022. Es ist nur eineinhalb Minuten lang. Ein Polizist im weißen Schutzanzug ist dabei, ein junges Paar in ein Quarantänelager zu sperren. Der junge Mann wehrt sich. Seine Corona-Testergebnisse seien doch alle negativ gewesen. „Wenn Sie die Anweisungen nicht befolgen, werden Sie bestraft. Sie, Ihre Kinder und Ihre Enkel werden bestraft!“, droht der Polizist. Bevor sich die Tür hinter dem jungen Mann schließt, hört man ihn noch sagen: „Danke, aber ich bin schon die letzte Generation.“
Diese Antwort war schockierend, denn Kinderlosigkeit gilt in China als schlimmster Fluch. „Aus diesen Worten spricht tiefste Verzweiflung“, twitterte der bekannte Menschenrechtsanwalt Zhang Xuezhong. Wer freiwillig auf Kinder verzichte, habe keine Hoffnung mehr: „Das ist die schärfste Anklage, die ein junger Mensch seiner Zeit machen kann.“
In China ist seit Langem gesellschaftlicher Konsens, dass politisches Interesse nur Ärger bringt. Doch nun zitieren junge Chines:innen in politischer Absicht einen bekannten Satz aus einem Biopic von 1984 über den Reformpolitiker Tan Sitong (1865–1898). Tan wurde mit nur 33 Jahren auf Befehl der Kaiserinwitwe Cixi hingerichtet, die gegen eine Modernisierung der Qing-Dynastie war. Sie entmachtete ihren Neffen, Kaiser Guangxu, der die Reform angeschoben hatte. In dem Film sagt Tans Frau, mit der er schon einen Sohn hat: „Ich möchte noch ein Kind von dir.“ Darauf entgegnet er, und das ist der berühmte Satz: „In diesem China noch ein Kind, das nur ein weiterer Sklave wär?“
Der Aufschrei eines Unbekannten hat ganz normale junge Leute in China ermutigt, ihren Frust herauszulassen. Und ihr Stichwortgeber ist ein Reformpolitiker, der vor 124 Jahren hingerichtet wurde: „Eure Herrschaft endet mit mir“, schreiben die Jungen im Netz, ohne ihren Adressaten beim Namen zu nennen. „Das Leid, das Ihr uns zufügt, hört mit mir auf.“
Chinas sehr effizientes Zensursystem hat zwar wie üblich schnell dafür gesorgt, dass das Schlüsselwort „letzte Generation“ im Internet geblockt wurde; doch da war der Gedanke längst in der Welt. Am 12. Mai 2022 zitierte der in die USA emigrierte Schriftsteller Murong Xuecun den Tweet: „Wenn Kinder nur zur Unterwerfung geboren werden, wenn unsere Kinder dasselbe erleiden müssen wie wir, sollten wir uns alle sterilisieren lassen.“
Die Geburtenrate in China sinkt – obwohl die Ein-Kind-Politik 2016 nach 30 Jahren abgeschafft wurde. 2021 kamen auf 1000 Einwohner 7,5 Geburten – das ist die niedrigste Ziffer seit 1978. Laut Zhang Zhiwei, Chefökonom beim Schanghaier Anlageberater PinPoint Capital, „altert die chinesische Gesellschaft schneller als vorausgesehen“. Die oft zitierte Formel „China wird alt, bevor es reich wird“ könnte sich bewahrheiten – und auf absehbare Zeit das Ziel vereiteln, die USA als führende Wirtschaftsmacht abzulösen.
Es gibt natürlich viele Gründe für den demografischen Niedergang, aber der Pessimismus der Jungen beschleunigt diesen Prozess. Deren Botschaft sei in China für alle ein Schock gewesen, erklärt der Soziologe Biao Xiang, der am Max-Planck-Institut in Halle die Abteilung „Anthropology of Economic Experimentation“ leitet. Ausgangspunkt für den Aufruhr sei aber nicht die Politik im Allgemeinen gewesen, sondern „der administrative Eingriff in den Alltag“. Als die 25-Millionen-Einwohner-Metropole Schanghai zwischen März und Mai 2022 unter strenger Quarantäne stand, haben viele Menschen unter der Mangelversorgung gelitten und sogar regelrecht gehungert.
Dieses „repressive Chaos“, so Xiang, beherrsche China wie kein anderes autoritäres Regime, indem es durch immer mehr Anweisungen ein „Gefühl der Absurdität“ erzeuge. Es sei unwahrscheinlich, dass das Leben wieder wird wie vor der Pandemie, die psychische Belastung und die Enttäuschung über den Mangel an öffentlicher Fürsorge wögen zu schwer. Das werden die Menschen nicht so schnell vergessen; die Folgen werden bleiben, selbst unter den Jungen auf dem Land, meint Xiang.
Der frühere Journalist Fan Dang aus der ostchinesischen Provinz Zheijang bezeugt das: Seine 26-jährige Tochter wolle auch keine Kinder haben. Er kann sie verstehen und unterstützt sie: „Warum soll hier ein Mensch geboren werden, wo die Menschenwürde mit Füßen getreten wird?“⇥Zhang Zhulin