Alte Schlösser, neues Geld
In Versailles bekommt das katholische Bürgertum Konkurrenz
von David Garcia
François de Mazières, seit 2008 Bürgermeister von Versailles, fährt gerne Rad und interessiert sich für Architektur. 2020 wurde er als parteiloser, konservativer Kandidat der „divers droite“ (Diverse Rechte) für eine dritte Amtszeit wiedergewählt. Der 60-Jährige führt einen Kreuzzug gegen städtische Bausünden und den Ruf der Stadt, eine Hochburg der extremen Rechten zu sein.
Bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl erhielt der rechtsextreme Kandidat Éric Zemmour hier 18 Prozent, 10 Prozentpunkte mehr als im nationalen Durchschnitt. In vielen wohlhabenden Vierteln nahm er den konservativen Républicains Stimmen ab. In Versailles landete Zemmour dennoch nur auf dem zweiten Platz hinter Emmanuel Macron (33 Prozent). Den amtierenden Präsidenten hielt die städtische Mittelschicht als Interessenvertreter für geeigneter, zumal vor allem die Neuzugezogenen weniger an reaktionären Traditionen hängen.
„Die Stadt besitzt eine Ausstrahlung, die weit über ihre demografische Bedeutung hinausgeht“, sagt der Weihbischof von Versailles, Bruno Valentin. Das Image von Versailles – bürgerlich und katholisch – strahle auf die Umgebung ab, und die umfasst den gesamten Osten des Départements Yvelines.
Die Stadt verdankt ihre Bekanntheit dem prächtigen Schloss Ludwigs XIV. aus dem 17. Jahrhundert, das jedes Jahr gut 8 Millionen, meist ausländische, Touristen anlockt. Versailles war von 1682 bis 1789 Regierungssitz und ein wichtiger Schauplatz zu Beginn der Französischen Revolution. Während des Deutsch-Französischen Kriegs zog sich die 1871 gewählte monarchistische Nationalversammlung nach Versailles zurück, arrangierte sich mit den preußischen Besatzern und erteilte Präsident Adolphe Thiers das Mandat, die Pariser Commune blutig niederzuschlagen.
Während ich auf den Bürgermeister warte, erklären mir seine Mitarbeiter, dass Versailles schon immer mit extravaganten Figuren wie dem Sonnenkönig in Verbindung gebracht wurde. Doch gerade sei eine andere Dynamik in Gange. Neue, wohlhabendere, aber weniger konservative Zuzügler veränderten das Gesicht der Stadt.
Im Ranking der begehrtesten Städte der Region Île de France stehe Versaille auf Platz fünf, „wenn man die preislichen Kriterien außen vor lässt“.1 Wer es sich leisten kann, zieht hierher, wegen der Sicherheit, der guten Schulen, der Jobs, der guten Gesundheitsversorgung oder der Steuervorteile. Aber die Immobilienpreise sind hoch. In den letzten fünf Jahren sind die Preise für Wohnungen und Häuser um 5 bis 10 Prozent gestiegen, ein Trend, der in vielen Pariser Vorortstädten zu beobachten ist.
Für Wohnungen mit Balkon und Häuser mit Garten liegt die Preissteigerung laut der Sektion Grand Paris des Immobilienverbands FNAIM sogar zwischen 10 und 15 Prozent: „Außenräume sind gefragt wie noch nie.“ Seit die Coronapandemie das Homeoffice zur Normalität gemacht hat, lassen sich immer mehr Führungskräfte im Grünen nieder. Doch bei einem durchschnittlichen Quadratmeterpreis von 9000 Euro können sich nur die Vermögendsten eine Wohnung oder ein Haus in den schicken Vierteln leisten.
Versailles mit seinen knapp 86 000 Einwohnern gehört zu den französischen Städten mit den meisten Zahlern von Vermögenssteuer auf Immobilien (IFI), die ab einem Immobilienvermögen ab 1,3 Millionen Euro fällig wird. 2019 waren es 1096 Personen, die im Schnitt über ein Immobilienvermögen von 2,2 Millionen Euro verfügten.2
Die Fernsehmoderatorin Julie Andrieu, Mutter von zwei Kindern und mit dem Star-Chirurgen Stéphane Delajoux verheiratet, ist froh, aus Paris weggezogen zu sein. „Wir haben dem Lärm und dem Stress vor vier Jahren den Rücken gekehrt“, erzählt sie. Sie wollten eigentlich aufs Land ziehen, wählte dann aber den „Kompromiss“ – Platz und Ruhe nur 20 Kilometer von Paris entfernt. Sie kauften ein Haus mit Garten gleich am Schlosspark, wo sie nun regelmäßig Rad fährt. Philippe Godenèche von der Immobilienagentur Mansart fasst es so zusammen: „Versailles verbindet die Annehmlichkeiten von Paris mit der Lebensqualität einer Provinzstadt.“
Ich treffe Bürgermeister de Mazières vor dem Rathaus in der Avenue de Paris, mit 93 Meter eine der breitesten Straßen der Welt. Links von uns thront auf der Place d’Armes vor dem Haupteingang des Schlosses ein Reiterstandbild von Louis XIV. „Drei große baumbestandene Alleen laufen auf den herrschaftlichen Palast zu. Schauen sie nur, wie schön sie sind!“, überschlägt sich de Mazières. Auf stadteigenen E-Bikes starten wir zu einer architektonischen Sightseeing-Tour.
Erster Halt: eine Bronzeskulptur von Molière, nur einen Steinwurf vom Rathaus entfernt. Erst kürzlich wurde sie anlässlich des 400. Geburtstag des Dramatikers enthüllt. „Eine Verbeugung vor unserer Geschichte“, begeistert sich de Mazières. Der Bürgermeister hat die Bedeutung Molières für Versailles einmal mit der von Mozart für Salzburg verglichen. Seit 1996 wird jeden Juni der „Molière-Monat“ begangen, mit diversen Aufführungen seiner Stücke an verschiedenen Orten der Stadt.
De Mazières ist Absolvent der Elite-Uni für Verwaltung ENA und war zuvor als Inspektor für öffentliche Finanzen tätig. Er warnt vor der „Gefahr, dass unserer Städte immer hässlicher werden“, weil es an „Planung und Kohärenz“ fehle. In der Pressemappe heißt es: „Wenn die Stadt hässlich ist, ist sie weniger einladend und es entstehen mehr Spannungen. Wenn wir uns also um Ästhetik und Gestaltung kümmern, geht es tatsächlich um Sozialmaßnahmen.“
François de Mazières setzt sich also dafür ein, Versailles noch schöner zu machen. Trompe-l’œil-Malereien, die die Fabeln von La Fontaine nacherzählen, zieren „unschöne“ Verteiler- und Stromkästen. Auf der Place du Marché flankieren Figuren aus einem Theaterstück von 1662 den Eingang zu einer Tiefgarage. Rund um den Salle du Jeu de Paume, Ort des berühmten Ballhausschwurs von 1789, hat der Künstler Le CyKlop zwei Dutzend Parkverbotspoller bunt lackiert, die jetzt wie Lego-Figuren historischer Persönlichkeiten aussehen.
Ins Viertel Bernard de Jussieu verirren sich wohlhabende Zuzügler eher selten. In diesem Stadtteil im Nordosten leben 7000 Menschen, 70 Prozent von ihnen in Sozialwohnungen. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen hat der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon von La France insoumise in Bernard de Jussieu das beste Ergebnis in Versailles erzielt. Er lag hier sogar vor Valérie Pécresse, der Kandidatin der Républicains, die von Bürgermeister de Mazières unterstützt wurde. In einem Wahllokal lag Mélenchon mit 46 Prozent sogar 30 Prozentpunkte vor Emmanuel Macron.3
Die Hochhausriegel mit Sozialwohnungen (HLM) in Bernard de Jussieu bilden einen starken Kontrast zu den schicken Gebäuden im historischen Zentrum. Die 22 Komplexe aus den 1950er und 1960er Jahren waren schlecht isoliert; gerade wurden sie saniert. De Mazières bleibt vor einer Hauswand stehen, auf der eine riesige Malerei prankt: sieben Hände, die nach flatternden Tauben greifen. „Neben dieser hier wurden noch acht weitere Hauswände von Künstlern gestaltet“, erzählt er.
Und was halten die Bewohner davon? „Das ist schön, das hat was verändert“, sagt eine Passantin. Corinne Forbice, die für das Viertel im Stadtrat sitzt, äußert ihre Zustimmung etwas differenzierter: „Die Wandgemälde sind toll, aber es gibt mehr zu tun.“ Sie beklagt, dass viele hier im Viertel eine Tendenz hätten, sich abzuschotten. „Sie leben in Bernard de Jussieu, weil sie unter das Gesetz Dalo fallen, das seit 2007 einklagbare Recht auf Wohnraum. Sie hätten bestimmt nicht von sich aus Versailles gewählt.“ Die Menschen fühlten sich in erster Linie dem Viertel zugehörig, nicht aber Versailles, meint Forbice. Eine Haltung, die auch anderswo zu finden ist: Auch die Hausbesitzer in den schicken Vierteln Notre-Dame oder Saint-Louis bilden eine homogene soziale Schicht.
In Versailles ist die Armutsrate halb so hoch wie im nationalen Durchschnitt, das mittlere Einkommen liegt weit über Landesniveau. Arbeiter stellen 3,7 Prozent der Bevölkerung, Angestellte 14,9 Prozent, 33,1 Prozent sind Führungskräfte oder arbeiten in hochqualifizierten Berufen. 22 Prozent der Wohnungen sind in kommunaler Hand; gesetzlich sind für eine Gemeinde dieser Größe eigentlich 25 Prozent vorgeschrieben.
Businessseminare in Madame Pompadours Jagdhaus
Étienne Pinte, Versailles’ Bürgermeister von 1995 bis 2008, gehört einer seltenen Spezies von Politikern an: der sozialen Rechten. Während seiner Amtszeit besaß das Thema Wohnen oberste Priorität. Doch seither fördere die Stadtverwaltung vor allem „Studentenwohnungen und Wohnraum für Haushalte mit höheren Einkommen, zum Nachteil der Ärmsten“, erzählt Philippe Domergue, Leiter einer lokalen Lebensmittelhilfe,.
Am Ende seiner zweiten Amtszeit stieß Étienne Pinte ein Projekt zum Bau eines Einkaufszentrums und eines Multiplex-Kinos an. Sein Nachfolger de Mazières beerdigte das Projekt zugunsten eines „künstlerisch“ anspruchsvolleren Vorhabens. „Das Multiplex sollte die Schließung des Innenstadtkinos Cyrano kompensieren“, erzählt Pinte. „Einige fürchteten jedoch, dass es Menschen aus nahe gelegenen Problemstädten, wie etwa Trappes, anziehen könnte.“
Das neue Viertel Versailles-Chantiers wurde 2019 auf einer ehemaligen Industriebrache der staatlichen Eisenbahn (SNCF) eingeweiht. Es wurde ein Busbahnhof mit Fahrradparkplatz gebaut, eine neue Fahrradstrecke führt durch einen öffentlichen Park. Auf dem Bahnhofsvorplatz gibt es einen hippen Fahrradladen. Um die Ecke verkauft ein Biocoop fairgehandelte Produkte. Und weit und breit keine Massen aus Trappes, die herströmen, um sich für Workshops in Naturheilkunde oder im Gärtnern anzumelden. Ein urbaner Permakultur-Hof ist der ganze Stolz von François de Mazières.
„Der Bürgermeister surft auf der Greenwashing-Welle“, kritisiert der parteilose Stadtrat Renaud Anzieu. Er gesteht jedoch ein, dass der Bau von Radwegen „ein Schritt nach vorne“ ist. Unabhängig von den Aktionen und PR-Kampagnen der Stadtregierung boomen in Versailles und Umgebung zivilgesellschaftliche Umweltinitiativen. Es gibt zwölf regionale Erzeugerverbänden sogenannte AMAPs, in denen sich Landwirte zur Förderung des regionalen und biologischen Anbaus zusammengeschlossen haben, außerdem ein Dutzend Gebrauchtwarenläden (Ressourceries) und sogar einen genossenschaftlichen Supermarkt.
Aber nicht nur die Zugezogenen pflegen ein neues Umweltbewusstsein. Es wird auch von progressiven Katholik:innen gefördert, die von der Enzyklika „Laudato si’ “ von Papst Franziskus inspiriert wurden, die Klimaschutz eng mit sozialem Engagement verknüpft.
Am Rand des Schlossparks liegt das Maison de l’Ermitage. Das ehemalige Jagdhaus, das Louis XV. für seine Geliebte Madame de Pompadour bauen ließ, gehört heute einer religiösen Ordensgemeinschaft. Sie beschreibt den Ort als „Raum, der den Menschen und der Erde verpflichtet ist“.
Im Angebot sind Kurse zur Persönlichkeitsentwicklung, Business-Seminare, Unterkunft und Hilfe für Geflüchtete und spirituelle Begleitung. Vor Kurzem veranstaltete die TV-Gruppe Eurosport hier einen Tag zur sozialen Verantwortung von Unternehmen.
„Wir wollen aus diesem Ort einen Motor für soziale und ökologische Gerechtigkeit machen“, erklärt Benoît Vignon, der Co-Regionalleiter der internationalen ökumenischen Vereinigung Fondacio, die für das Programm verantwortlich zeichnet. Inwiefern setzen sich Eurosport, Leroy Merlin, Danone oder Mont-Blanc, allesamt Gäste und Kunden der Ermitage, für „soziale und ökologische Gerechtigkeit“ ein?
„Ich bin antikapitalistisch, das ist Fondacio nicht. Mein Wunsch ist es dennoch, die Ermitage zu einem Ort zu machen, an dem unterschiedliche Kämpfe zusammengeführt werden“, antwortet Vignon. Jetzt muss er nur noch seine Kolleg:innen überzeugen, die daran glauben, dass die Welt durch die Summe individueller Handlungen grün werden könne. Dieser Philosophie scheint auch eine Mehrheit der Versailler Bevölkerung anzuhängen: Radikalität – ökologische wie soziale – kommt hier weniger gut an.
Seit zehn Jahren dient Fondacio als Briefkasten für Asylsuchende. Montags und mittwochs können sie hier ihre Post abgeben. „Am Anfang“, berichtet Benoît Vignon, „hat die Warteschlange in der Rue d’Ermitage, wo rund tausend Menschen aus Afrika, Indien oder Tibet anstehen, nicht allen gefallen. Die Anwohner haben sich beschwert.“ Statistisch gesehen hat ein Versailler Großbürger allerdings wenig Chancen, einem Geflüchteten aus Libyen auf der Straße zu begegnen.
2016 sorgte die Ankündigung, in den wohlhabenden Ortschaften Louveciennes und in Rocquencourt bei Versailles würden zwei Aufnahmestellen für Flüchtlinge entstehen, für „ausgesprochen heftige Ablehnung“, erinnert sich Philippe Domergue von der Lebensmittelhilfe. Die am rechten Rand anzusiedelnde politische Gruppierung „Versailles, famille, avenir“ (Versailles, Familie, Zukunft) rief damals zu einer Demonstration gegen die Aufnahmelager auf. Der Protest breitete sich aus.
Auf der Internetseite des Observatoire de la Christianophobie (Beobachtungsstelle für Christenfeindlichkeit) veröffentlichte „Versailles, famille, avenir“ das folgende Statement: „Wenn wir jetzt die Tür öffnen, wird es dann bald nicht mehr darum gehen, einige tausend Migranten aufzunehmen, sondern Hunderttausende, ja Millionen … Wir sind uns der enormen Gefahren bewusst, die der Islam, dem die Mehrheit der Migranten angehört, für unser Land und die gesamte westliche Zivilisation darstellt.“4
Der Präfekt knickte ein und ließ das Aufnahmezentrum in Louveciennes nicht bauen. „Versailles, famille, avenir“ rief zu einer weiteren Demonstration vor dem Versailler Schloss auf. „Hier trinken wir Wein, essen Schweinefleisch, und unsere Frauen müssen sich nicht entscheiden, ob sie sich verschleiern oder vergewaltigt werden“, rief damals der Anführer der Gruppierung, Fabien Bouglé. 2020 wurde Bouglé erneut zum Stadtrat gewählt.
Als Christen und Muslime aus Syrien und dem Irak vor den Massakern des IS und der Zerstörung ihrer Heimat Zuflucht in Europa suchten, bat Papst Franziskus jede Gemeinde in Europa, eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen. Auch die guten Katholiken von Versailles öffneten ihre Türen für verfolgte Araber – allerdings nur für Christen. (Die Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten, mehrheitlich orthodoxe Christen, war weniger schwierig). In der Kirche Saint-Symphorien empfängt uns lächelnd Pierre Amar, der konservative Vikar der Gemeinde. Er findet, es sei „normal, zuerst seinen notleidenden Bruder aufzunehmen“.
Die muslimische Gemeinde in der Stadt ist sehr darauf bedacht, nicht aufzufallen. Die 1988 eröffnete Moschee von Versailles befindet sich in einem bescheidenen Haus in der Nähe einer Eisenbahnbrücke. Ohne das Schild neben dem Eingang wäre sie nicht zu identifizieren. Ihr Bau wurde unter der Bedingung genehmigt, dass sie kein Minarett hat.
Lateinische Messe live auf YouTube
Sein reiches religiöses Erbe verdankt Versailles dem Wohlstand seiner Bewohner. Deren christlicher Eifer sucht in Frankreich seinesgleichen: „2 Prozent der Franzosen bezeichnen sich als Katholiken und gehen jeden Sonntag in die Messe. In Versailles sind es 10 Prozent, in manchen Vierteln sogar 25 Prozent“, freut sich Vikar Amar. In der Stadt gibt es sieben Pfarrgemeinden, im nahe gelegenen Sartrouville mit seinen 55 000 Einwohnern dagegen nur zwei und in der nordwestlich gelegenen 43 000-Einwohner-Stadt Mantes-la-Jolie, ebenfalls im Département Yvelines, nur eine einzige.
Junge Priester zieht es nach Versailles, ihr Altersdurchschnitt liegt hier bei 53 Jahren; das nationale Mittel beträgt 75 Jahre. Mit 15 000 Mitgliedern ist die katholische Pfadfinderbewegung in Yvelines die größte in Frankreich. Es gibt etliche katholische Schulen, in öffentlicher oder freier Trägerschaft.
Dennoch gibt es auch in Versailles Anzeichen dafür, dass die Zahl derjenigen, die ihren Glauben aktiv praktizieren, abnimmt: Die Taufzahlen sind rückläufig; weniger Kinder besuchen den Kommunionsunterricht. „Die Kirche ist in Frankreich in einem ziemlich schmalen sozialen Segment verankert“, sagt Weihbischof Valentin. „Das ist die obere Mittelschicht, die durch den Anstieg der Immobilienpreise aus Versailles vertrieben wird.“
„Kinderreiche Familien, die aus Versailles verdrängt werden, ziehen in die ‚Neue Stadt‘ Saint-Quentin-en-Yvelines“, erklärt der Staatsrat Camille Pascal. „Aber viele schicken ihre Kinder weiterhin in Versailles zur Schule und kommen sonntags zur Messe her.“ Selbst das traditionelle Versailler Bürgertum wird also zum Gentrifizierungsopfer und durch eine noch vermögendere Schicht verdrängt, der religiöse Werte egal sind.
Die sechsfache Mutter Laurence Trochu, Präsidentin des Mouvement conservateur (ehemals Sens commun), ist aus dem Versailler Viertel Saint-Louis in die Nachbarstadt Guyancourt gezogen, wo das Leben billiger ist. „Mit kleinen Kindern kann man da nicht mehr wohnen, selbst als Familie, die statistisch gesehen zur Mittelschicht gehört“, sagt sie traurig. „Man wird von rechten Bobos verdrängt, die wegen der Lebensqualität und des Kultur- und Bildungsangebots dort hinziehen.“
Die Ansprüche dieser Neu-Versailler sind eher profaner Natur. Sie schicken ihren Nachwuchs auf die ausgezeichneten katholischen Schulen, wo sie dann mehr Klassenreisen ins Ausland fordern, „damit ihrer Kinder später bessere Chancen haben, es auf eine Grand École zu schaffen“, erzählt Bischof Valentin. „Das religiöse Leben an den Wochenenden interessiert sie weniger.“
Die zehn privaten katholischen Schulen und Hochschulen in Versailles werden von ungefähr 9500 Schüler:innen und Studierenden besucht; 31 Prozent der Mittelschüler und 45 Prozent der Gymnasiasten besuchen Bildungseinrichtungen des Bistums.
Staatsrat Pascal meint, die Wahl von Bürgermeister de Mazières 2008 sei soziologisch und politisch ein Vorbote von Emmanuel Macrons Wahlsieg 2017 gewesen. Ein Ereignis, das sich am 2. Februar 2013 in Versailles zugetragen hat, habe, so Pascal, in absurder Weise einen Vorgeschmack auf Macrons „Sowohl-als-auch“-Politik („en même temps“) gegeben.
An diesem Tag demonstrierten auf der „Manif pour tous“ (Demo für alle) vor dem Versailler Schloss zwischen 10 000 und 15 000 Menschen gegen das Gesetz zur Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Es war die größte Demonstration dieser Art in ganz Frankreich. Zur gleichen Zeit bereitete sich eine Mehrheit der Abgeordneten darauf vor, den ersten Artikel des Gesetzes zu verabschieden.
Versailles Bürgermeister de Mazières, damals auch Abgeordneter der Nationalversammlung, der zusammen mit seinen Wähler:innen gegen das Gesetz auf die Straße gegangen war, stimmte „aus Versehen“ für den ersten Artikel. Fabien Bouglé, kompromissloser Anhänger der traditionellen Familie, sagt rückblickend über diese vermeintliche Fehlleistung de Mazières: „Angesichts des Zulaufs, den der Protest in Versailles hatte, unterstützte er die Bewegung, und dann stimmte er trotzdem für das Gesetz. So bediente er beide Seiten, die konservative und die progressive. Ein echter Coup!“
Bei den Präsidentschaftswahlen 2022 rief der Bürgermeister dazu auf, für die Kandidatin der Républicains, Valérie Pécresse, zu stimmen. Sie landete im Versailles auf dem vierten Platz hinter Macron, Zemmour und sogar hinter Mélenchon. Bei den kurz darauf folgenden Parlamentswahlen unterstütze de Mazières die Kandidatur seines jungen Stellvertreters Charles Rodwell, der für Macrons Liste „Ensemble“ antrat. Sein Engagement zahlte sich aus: In der Stichwahl gewann sein Schützling Rodwell gegen den Kandidaten des linken Bündnisses Nupes.
Dass der Rechtsextreme Éric Zemmour bei den Präsidentschaftswahlen in Versailles 18 Prozent holen konnte, erklärt sich teilweise durch das neue Bioethik-Gesetz vom Sommer 2021. Es weitet das Recht auf Kinderwunschbehandlung auf lesbische Paare und alleinstehende Frauen aus. Neben diesem Gesetz, meint der frühere Bürgermeister Étienne Pinte, habe auch die Verlängerung der Abtreibungsfrist von 12 auf 14 Wochen „das Fass zum Überlaufen gebracht“ und den konservativsten Rand der Versailler Wählerschaft zu Zemmour getrieben. Die antiislamische Hetze des Kandidaten hat diese Wähler:innen aus dem katholischen Bürgertum offensichtlich nicht gestört.
Seine besten Ergebnisse erzielte Zemmour in den Vierteln Notre-Dame und Saint-Louis. Die Organisation „Les Éveilleurs“ (die Erwecker), die in Versailles gegen „die gesellschaftlichen Revolutionen durch die Kinder des Mai 68“ kämpft, hat Zemmour in den vergangenen sechs Jahren vier Mal eingeladen. Und Le Figaro und die rechte Wochenzeitschrift Valeurs actuelles verkaufen sich in Versailles wie warme Semmeln.
In der traditionalistischen Kirche Notre-Dame des Armées wird die Messe auf Latein abgehalten. Am Sonntag um halb elf ist der Andrang so groß, dass selbst draußen auf dem Bürgersteig noch Gläubige knien. Der Gottesdienst wird live auf YouTube übertragen. Die Organisation „Renaissance catholique“ hat in der Kirche einen Stapel Prospekte ausgelegt, die für ihre 30. Sommeruniversität werben. Dort soll über „Mythen und Wirklichkeit des großen Austauschs“ (le grand remplacement) und „Wokismus gegen die Zivilisation“ debattiert werden. Als Redner angekündigt sind unter anderem Jean-Yves Le Gallou, Berater von Zemmour, und Bruno Gollnisch, ehemals stellvertretender Parteivorsitzender des Front National (FN).
Der Front National, heute Rassemblement National (RN), war in Versailles allerdings nie sonderlich erfolgreich. Womöglich ist er der lokalen Bourgeoisie zu ordinär. Ein RN-Parteianhänger, der namentlich nicht genannt werden möchte, erzählt uns, er habe beim diesjährigen Wahlkampf aufgeschnappt, wie eine Versaillerin auf der Place du Marché gesagt habe: „Ich werde doch nicht das Gleiche wählen wie meine Putzfrau!“
In Satory, ein Quartier im Süden der Stadt, das die landesweit größte Kaserne der französischen Gendarmerie beherbergt, teilt man diese Sorge des Versailler Bürgertums nicht. Im ersten Wahlgang lag Marine Le Pen hier vor Zemmour. Zusammengenommen erzielte die extreme Rechte hier 55 Prozent der Stimmen.
Als 1981 der Sozialist François Mitterrand zum Präsidenten der Republik gewählt wurde, war das ein Schock für Versailles. Im März 1984 versammelten sich zwischen 600 000 und 800 000 Menschen aus ganz Frankreich in der Stadt, um für das Fortbestehen der meist katholischen Privatschulen zu demonstrieren. Dieser massive Protest gegen ein Gesetzesvorhaben der sozialistischen Regierung führte damals zum Fall von Premierminister Pierre Mauroy. Dennoch hatte die Bewegung für die „Freie Schule“ – ähnlich der späteren Manif pour tous – für ihre Unterstützer nicht die erhofften Folgen.
Den traditionellen Katholiken sei es trotz einiger Versuche „weder in Frankreich noch woanders je gelungen, eine politische Kraft zu werden“, schreibt der Historiker Yves Chiron.5 Und Quentin Hude, Vorsitzender des Versailler Handels-, Industrie- und Handwerksverbands, konstatiert, dass „die traditionalistische Seite heute weniger stark ist als früher“. Das gelte „selbst in aristokratischen Kreisen“.
In den 1990er Jahren entwickelte sich Versailles sogar zum Zentrum einer neuen Musikrichtung, deren Protagonisten weder adelig noch fundamentalistisch waren. Mit ihrem Elektropop unter dem Label „French Touch“ machten Künstler wie Air, Phoenix, Alex Gopher und Étienne de Crécy international Karriere. Sie alle sind Versailler Gewächse. Der Musiker und Produzent Marc Collin, der derselben Generation entstammt, widmete dem Phänomen kürzlich den Dokumentarfilm „Why Versailles?“ (2022).
Die Bewegung, die einem privilegierten sozialen Milieu entstammte, entwarf sich als „Gegenströmung zum Rap und seinen offensiven gesellschaftspolitischen Diskursen. Weil wir nicht ‚Wir kommen aus Versailles‘ sagen konnten, konnten wir da nicht mitmachen“, erklärt Collin.
Nicolas Godin, die eine Hälfte des Duos Air, hat ähnliche Erfahrungen gemacht. „Als wir nach Los Angeles kamen, hielten die Leute Versailles für eine Märchenstadt, mit Ludwig XIV. und seiner Kutsche und so.“ Godin verbringt seine Sonntage weiterhin in Versailles: „Der Park ist einer der schönsten und magischsten Orte der Welt, er ist eine wichtige Inspirationsquelle für meine Musik.“
Emmanuel Macron könnte es genauso gehen. Auch er verbringt seine Sonntage teils im Park von Versailles, im Jagdschloss La Lanterne, dem Zweitwohnsitz des Präsidenten. Er hat einmal erklärt, dass Versailles der Ort sei, „an den sich die Republik zurückzieht, wenn sie bedroht ist“. Vielleicht findet er deshalb hier seine Ruhe.
1 FNAIM (Fédération nationale de l’immobilier), 22. Juni 2022.
2 „IFI, où vivent ceux qui paient l’impôt sur la fortune“, Le Figaro, 13. Januar 2020.
3 Wahllokal Nr. 31, Grundschule La Source.
5 Yves Chiron, „Histoire des traditionalistes“, Paris (Tallandier) 2022.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
David Garcia ist Journalist.