Atlantiker, Blockfreie und Antiimperialisten
Die Fraktionen der internationalen Linken und Putins Krieg
von Sergey Lagodinsky
Seit Februar 2022 besteht die Gefahr, dass es zu einem Atomkrieg kommt. Doch in den meisten Ländern schauen die politischen Parteien weg. In den USA diskutierten die Kandidaten für den außenpolitisch so wichtigen Senat eine Stunde lang, ohne die Ukraine auch nur zu erwähnen. Nirgends gab es eine Großdemonstration gegen den Atomkrieg.
Die Diplomatie ist offenbar an einem toten Punkt angelangt. Doch die herrschende Meinung in den Medien lautet: Die nukleare Drohung ist nur ein Säbelrasseln, mit dem Russland davon ablenken will, dass seine Armee eine Schlappe nach der anderen erleidet. Der Bär brüllt, weil er in die Enge getrieben ist, also kein Grund zur Beunruhigung.
„On the ground“ aber nimmt die Intensität der Kampfhandlungen ständig zu. Doch ungeachtet der Bombenangriffe und Sabotageakte spricht man bei uns über andere Themen, besonders aufseiten der Linken. Inmitten der fast allgemeinen Gleichgültigkeit fand in der französischen Nationalversammlung am 3. Oktober eine Ukraine-Debatte statt. Einige Abgeordnete bemühten sich verlegen, ihr früheres Einvernehmen mit Putin abzustreiten; andere ergingen sich in hochtrabenden Tiraden über die „freie Welt“, als hätten sie die Mottenkiste des Kalten Krieges geplündert. Es war wie bei jedem Konflikt seit dem Koreakrieg: Politiker ohne Gesinnung und Journalisten, in deren Geschichtsbild nur die Jahre 1938 und 1939 existieren, wiederholten gebetsmühlenartig die altbekannten Analogien: München, Daladier, Chamberlain, Stalin, Churchill, Hitler.
Saddam Hussein, Slobodan Milošević, Muammar al-Gaddafi und Baschar al-Assad – sie alle hat man uns in den letzten 20 Jahren schon als Wiedergänger Adolf Hitlers präsentiert. Das Ritual wiederholt sich etwa alle fünf Jahre. Diesmal ist es der „Kremlherrscher“ Putin. Und jedes Mal sollen wir den Teufel bekämpfen, bestrafen, vernichten, damit er nicht noch weitere Verbrechen begeht. Irgendwann geht das Ganze dann von vorn los, wenn man verwundert und bedauernd entdeckt, dass der Nachfolger des beseitigten Unholds nicht wie versprochen dem Idealbild einer freiheitlich-inklusiven Demokratie entspricht: Nach Gaddafi kamen mafiaähnlichen Milizen an die Macht, und aus der Gefolgschaft Saddam Husseins rekrutierten sich die Terroristen des „Islamischen Staats“.
Im Fall des Ukrainekriegs wird die riskante Wette auf einen „Regimewechsel“ in Moskau nicht nur von Neokonservativen propagiert, die immer höhere Militärausgaben und den ewigen „Krieg der Zivilisationen“ predigen, sondern auch von Linken, die der Meinung sind, die Nato müsse der Ukraine gestatten, ihr komplettes Territorium einschließlich der Krim zurückzuerobern.
1961 warnte George F. Kennan, der Vordenker der Containment-Politik gegenüber der Sowjetunion: „Nichts ist so egozentrisch wie eine kampfbereite Demokratie. Sie geht an ihrer eigenen Propaganda zugrunde. Sodann stellt sie ihr Anliegen gern als absoluten Wert dar und verzerrt dadurch ihren Blick auf alles andere. Ihr Feind wird zur Inkarnation des Bösen, das eigene Lager dagegen zum Inbegriff des Guten. Der Konfrontation wird eine finale, eine apokalyptische Qualität zugeschrieben. Wenn wir verlieren, ist alles verloren, das Leben ist nicht mehr lebenswert, nichts ist mehr zu retten. Wenn wir gewinnen, wird alles möglich, werden alle unsere Probleme lösbar sein.“1
Im Sachen Ukraine wirkt ein solcher „demokratischer Manichäismus“ umso unwiderstehlicher, weil die russische Regierung so schreiend im Unrecht ist: Sie hat die territoriale Integrität des Nachbarlands in seinen völkerrechtlich anerkannten Grenzen verletzt und missachtet permanent das Existenzrecht des ukrainischen Volks.
Die Kubakrise wurde nicht durch Kraftmeierei beendet
Das stellt nicht nur einen Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen dar, die in Artikel 2 jegliche „Anwendung von Gewalt“ untersagt. Russland hindert auch die UN, die es mitbegründet hat, an der Wahrnehmung ihrer Rolle als Garant des internationalen Friedens.
Damit verhält sich Putin so wie Bush im Irakkrieg, den die USA ohne die nötige Zustimmung des UN-Sicherheitsrats angefangen haben. Wobei im Fall Ukraine etwas erschwerend dazukommt: Obwohl Russland die Grenzen der unabhängigen Nachbarstaates 1991 anerkannt hat, annektierte es 2014 einen Teil der Ukraine, nämlich die Krim, und usurpierte 2022 auch noch den Donbass und Teile der Südukraine.
Die Zerstörungen, die Kriegsverbrechen, die Vergewaltigungen, die die russische Armee serienweise begeht, kennen wir vom Wüten anderer Besatzungstruppen. Man denke nur an den Vietnamkrieg der USA, an das Flächenbombardement der B52, an den massiven Einsatz des Entlaubungsmittels Agent Orange, an das Massaker an 500 Zivilisten in My Laï vom 16. März 1968.
Aber wer erinnert sich noch an Verbrechen, die niemand in Erinnerung ruft? Zumal es seit dem 24. Februar verpönt ist, auf Fakten hinzuweisen, die den Talar der westlichen Moralprediger beflecken und die Legende vom Retter der Schwachen und Erniedrigten untergraben, der sich dem blutdürstigen Tyrannen entgegenstellt. Angesichts dieser intellektuellen Regression und Feigheit besteht durchaus die Gefahr, dass wir zu jenen „Schlafwandlern“ werden, die im August 1914 ihr böses Erwachen erlebten.
Im Juli jenes Jahres, kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs, fand im Pariser Justizpalast der Prozess gegen Henriette Caillaux statt. Die hatte wenige Monate zuvor Gaston Calmette, den Chefredakteur des Figaro, ermordet, den sie für die Hetzkampagne gegen ihren Ehemann Joseph Caillaux verantwortlich machte. Der Ex-Premierminister war in den Augen der rechten Zeitung gleich dreifach schuldig: als (gemäßigter) Linker, als Gegner des Militarismus und als Architekt der fünf Jahre zuvor beschlossenen Einkommensteuer.
Henriette Caillaux wurde an dem Tag freigesprochen, an dem Österreich Serbien den Krieg erklärte, was umgehend die französische Generalmobilmachung auslöste. Am 22. August fielen 27 000 französische Soldaten an einem einzigen Tag. Der Caillaux-Prozess war da bereits vergessen.
Auch wir wollten, bevor der Vulkan in der Ukraine ausbrach, die schon köchelnde Lava im Donbass, im Kreml und im Nato-Hauptquartier nicht sehen. Beim heutigen Stand der Dinge muss man nicht mehr daran erinnern, wie eine Folge provokativer Schritte in Moskau den Eindruck entstehen ließen, dass die USA entgegen ihren Zusagen aus der Zeit der deutschen Wiedervereinigung darauf aus waren, immer näher an die russischen Grenze heranzurücken, ehemalige Sowjetrepubliken in ihr Lager zu ziehen und damit strategische Positionen Russlands zu gefährden. Zu Sowjetzeiten hatte der Westen solch dreistes Auftreten vermieden. So wie er umgekehrt niemals hingenommen hätte, dass sich ein strategischer Rivale an den Grenzen der USA festsetzt – siehe die Kubakrise vom Oktober 1962.
In der Ära des Kalten Kriegs hatten die beiden Supermächte es trotz ihrer ideologischen Differenzen stets vermieden, sich zu Provokationen, Kraftmeierei und kriegerischen Aktionen hinreißen zu lassen. Dabei war sicher hilfreich, dass es damals noch keine ständigen Online-Informationen und keine so toxische Medienlandschaft wie heute gab. Die Krise von 1962 wurde durch ein Geheimabkommen beendet, womit die Apokalypse abgewendet war.
Nach dem Abzug der sowjetischen Raketen aus Kuba verpflichtete sich Washington, nicht mehr auf der Insel zu intervenieren und die US-Raketen aus der Türkei abzuziehen, wobei der erste Punkt veröffentlicht wurde, während der zweite geheim blieb. Überhaupt waren die westlichen Staatschefs stets darauf bedacht, dass bei den Unterredungen mit ihren russischen Gesprächspartnern keine Journalisten mithörten. Sie wussten, dass Diplomatie und PR-Strategie zwei verschiedene Dinge sind. Und sie unterließen, anders als Wladimir Putin heute, endlose Drohreden, bei denen jeder Satz wie ein Ultimatum klingt.
Die Kubakrise hat letztlich den Frieden gefördert. Washington und Moskau sahen sich angesichts der Dimension der drohenden Risiken in der Pflicht, vom Kalten Krieg zur friedlichen Koexistenz überzugehen. Präsident John F. Kennedy drückte es im Juli 1963 so aus: „Die Atommächte verteidigen zwar einerseits ihre grundlegenden Interessen, aber andererseits müssen sie jede Konfrontation vermeiden, die ihrem Gegner nur die Wahl zwischen einem demütigenden Rückzug und einem Nuklearkrieg lässt.“ Entsprechend wies er seine Diplomaten an, „unnötige Nadelstiche und feindselige Rhetorik“ zu unterlassen.2
Im Ukraine-Konflikt ist derzeit weder ein glücklicher Ausgang in Sicht noch eine Spur der von Kennedy und Chruschtschow gezeigten Einsicht. Dieser Krieg wird böse enden, so oder so. Dass die Ukraine von Russland unterworfen und zerschlagen wird, ist aus heutiger Sicht nicht der wahrscheinlichste Ausgang. Er wäre für die USA und die Nato ein dramatischen Rückschlag, würde aber in Russland einem autoritär-reaktionären Nationalismus Auftrieb geben, der mit der orthodoxen Kirche und ultrarechten Kräften paktiert. Es versteht sich von selbst, dass ein solcher Ausgang der progressiven Sache, wie immer man sie definiert, in keiner Weise förderlich wäre.
Es bringt freilich auch nichts, ein dramatisches Szenario zu entwerfen, wonach bei einer Niederlage der Ukraine ganz Europa bedroht wäre. Sollte morgen Odessa fallen, würde Russland nicht etwa London, Berlin oder Paris angreifen. Seine Truppen sind im russischsprachigen Donbass nach acht Monaten Krieg dermaßen in der Klemme, dass man nicht ernsthaft annehmen kann, sie könnten die Nato-Mitglieder Polen oder Litauen bedrohen.
Allerdings wäre es auch kein „guter“ Kriegsausgang, wenn Russland geschlagen und gedemütigt würde. Gewiss würde ein militärischer Sieg der Ukraine – ermöglicht durch massive westliche Hilfe – der russischen Aggression ein Ende setzen und Kiews Souveränität über das gesamte Staatsgebiet zumindest formell wiederherstellen. Aber selbst unter der Annahme, dass Moskau keine irrsinnigen, womöglich sogar atomaren Gegenschläge riskieren würde, um die Niederlage abzuwenden, wäre diese nicht gleichbedeutend mit einem Sieg des ukrainischen Volks.
Die USA würden ihre globale Vormachtstellung, die durch die Debakel im Irak und in Afghanistan erschüttert war, erneut festigen und vor allem ihre Hegemonie innerhalb einer EU konsolidieren, die endgültig jeden Anspruch auf strategische Autonomie aufgegeben hat. Für die Ukraine würde dieser Ausgang eine dauerhafte Unterordnung unter die Nato bedeuten – und daher permanente Spannungen mit dem Nachbarn Russland, der ständig auf Vergeltung sinnen würde.
Wie immer der Ausgang sein wird, eines steht fest: Die Ablehnung einer diplomatischen Lösung, die beiden Parteien den von Kennedy erwähnten „demütigenden Rückzug“ erspart, würde bedeuten, dass die Großmächte auf Jahrzehnte hinaus ihre Ressourcen vornehmlich in die Aufrüstung lenken. Statt endlich das Problem der Erderwärmung anzugehen und die globalen Machtverhältnisse zu verändern.
Historisch gesehen hatten Niederlagen in Russland zwar zuweilen fortschrittliche Reformen zur Folge – nach dem Krimkrieg wurde die Leibeigenschaft abgeschafft, nach dem Krieg mit Japan von 1905 wurde die autokratische Macht des Zaren beschränkt –, aber noch nie hat eine Niederlage zu einem Regimewechsel geführt.
Die Linke in Europa und in den USA ist heute entweder Teil des Mainstreams oder eingeschüchtert. Zum Mainstream gehört sie, insofern sie die Strategie der Nato mitträgt, die für diesen Konflikt mitverantwortlich ist. Man kann der Linken zugutehalten, dass sie ein überfallenes Land unterstützen will, das jedes Recht hat, sich zu verteidigen, sein Staatsgebiet mit den Mitteln seiner Wahl zu befreien und auch um ausländische Hilfe zu ersuchen. Allerdings unterstützt sie damit in einem wichtigen Punkt die Regierungen, gegen die sie eigentlich opponiert.
Indem sich diese Linke freiwillig in den Käfig einer neuen „heiligen Allianz“ begibt, verzichtet sie auf jegliche politische Autonomie, auf die Artikulation eigenständiger Positionen. Wenn sie also ihr „Verantwortungsbewusstsein“ dadurch beweist, dass sie im Mainstream mitschwimmt, erfüllt die Linke im Übrigen die Erwartungen ihrer Gegner. So wie es der Ex-Trotzkist Edwy Plenel tut: „Der russischen Aggression militärisch entgegentreten, heißt bei den derzeitigen Kräfteverhältnissen, sich mit der Nato zu arrangieren.“ Der russische Imperialismus lasse angesichts „dieser tragischen Alternative“ leider keine andere Wahl.3 Der Chefredakteur der 2008 gegründeten Onlinezeitung Mediapart hatte auch schon 1999 in Le Monde für den Nato-Krieg im Kosovo plädiert.
Ein anderer Teil der französischen Linken ist mehr oder weniger verstummt. Er glaubt weder an die Legitimität noch an die Wirksamkeit der westlichen Sanktionen, trägt sie aber dennoch mit. Sobald man diese Leute auf die Ukraine anspricht, wechseln sie sofort das Thema. Anders als die auf Nato-Kurs eingeschwenkten Linken – also Sozialisten und Grüne –, die selbstbewusst auftreten, weil sie die politische Klasse und die Medien fast geschlossen hinter sich wissen, gehen die Kommunisten und La France Insoumise auf Tauchstation. Beide Parteien sind nur darauf bedacht, das Unwetter zu überstehen und ihr eher unlogisches Bündnis nicht zu gefährden, das sie erst vor wenigen Monaten geschmiedet haben.
Russland hat seine Wette bereits verloren
Die Spaltung in Atlantiker und Blockfreie ist in Frankreich nichts Neues. Als François Mitterrand und seine Mitstreiter Max Lejeune und Guy Mollet im April 1966 einen Misstrauensantrag gegen die Regierung de Gaulle stellten, lautete ihr Vorwurf, der Präsident habe Frankreich durch das Ausscheiden aus dem Nato-Oberkommando international „isoliert und damit in eine gefährliche Lage gebracht“.
In der heutigen Situation, da Frankreich an der Seite seiner atlantischen Bündnispartner in einen Krieg hineingezogen wird, der es womöglich zum Gegner Russlands macht, sind die beiden linken Lager in dieser Frage völlig uneins – selbst wenn sie in ihrem Kampf für die Umwelt und die Kaufkraft an einem Strang ziehen.
Auf internationaler Ebene gibt es auch noch eine Art „Lager-Linke“, die in Lateinamerika und in der arabischen Welt besonders stark ist. Sie versteht sich als antiimperialistisch und plappert – wie einst zu Sowjetzeiten – die Moskauer Parolen nach. Manchmal hat man den Eindruck, diese Linken hätten noch nicht mitbekommen, dass das heutige Russland einem „kapitalistischen Staat ähnelt, dessen herrschende Klasse aus einer Oligarchie besteht, die sich durch Ausplünderung des ehemaligen Staatsvermögens formiert hat, und das mit Einverständnis und tatkräftiger Unterstützung des Westens“.4
Ukrainische Aktivisten wiederum betonen, dass es sich nicht nur um einen „Krieg zwischen zwei Staaten“ handelt, die „um ihre geopolitische Position“ konkurrieren. Vielmehr sei dies „auch ein Entkolonialisierungs- und Befreiungskrieg“, denn Moskau habe in den besetzten Gebieten Marionettenregierungen installiert, die Hrywnja durch den Rubel ersetzt und Russisch zum Pflichtschulfach gemacht.5
Die antiimperialistische Linke äußert zwar die legitime Kritik, dass sich die Ukraine an die EU und die USA bindet, vergisst dabei aber, dass es Wladimir Putin war, der diese geopolitische Verschiebung und den Nato-Beitritt der beiden EU-Mitglieder Finnland und Schweden beschleunigt hat. Der ehemalige KGB-Offizier hat seit Februar 2022 so agiert, dass man meinen könnte, er arbeite für die CIA.
Russland hat seine Wette bereits verloren, was freilich diejenigen nicht wahrhaben wollen, die einen vollständigen Sieg der Ukraine wünschen. Die militärischen Rückschläge haben das Ansehen der russischen Armee ramponiert; Putins abenteuerliche Politik stärkt die Präsenz der USA im alten Europa; seine Aggression hat ein ukrainisches Nationalgefühl gefestigt, dessen Existenz der russische Präsident leugnete, als er schon im Sommer 2021 vor dem Krieg von „ein und demselben Volk“ sprach. Und schließlich ist Russland mehr denn je von China abhängig, weil es sein Gas verkaufen und diplomatisch nicht völlig isoliert sein will.
Aus all diesen Gründen erscheint die Behauptung, dass Verhandlungen mit Russland die Angreifer quasi belohnen würde, nicht mehr haltbar. Ist es so schwer, mehrere Dinge gleichzeitig zu begreifen – auch wenn sie widersprüchlich erscheinen? Man kann sehr wohl das Recht des ukrainischen Volks auf Souveränität verteidigen und trotzdem feststellen, dass eine vernichtende und „demütigende“ Niederlage Russlands – sofern die Menschheit sie überlebt – die Hegemonie der USA stärken würde. Schließlich sind es die USA, die in der Nato den Ton angeben, Waffen im Wert von mehreren Milliarden Dollar an die Ukraine verkaufen, um damit einen strategischen Rivalen des westlichen Blocks zu schwächen.
Das erklärt auch, warum so viele Staaten des Globalen Südens in Russland – ohne sich mit Putins Angriffskrieg solidarisieren zu wollen – ein geopolitisches Gegengewicht sehen, dessen Zusammenbruch die amerikanische Hybris neu erwecken würde – mit allen Gefahren, die das für aufsässige Länder bedeuten könnte.
Am Ende muss eine diplomatische Lösung her
Diese Angst wird durch eine Sanktionspolitik verstärkt, für die es keine Rechtsgrundlage gibt und die vielen Staaten gegen ihren Willen aufgenötigt wird. Und die im Übrigen die Berufung des Westens auf „Regeln“ und auf das „Recht“ unglaubwürdig macht.
Man muss sich schon sehr wundern, dass die europäischen Staaten bei diesen Sanktionen so begeistert mitmachen, nachdem sie selbst unter den „extraterritorialen Sanktionen“ Washingtons gelitten haben. Mithilfe dieses raubritterhaften juristischen Konstrukts wurden sie zu saftigen Geldstrafen verdonnert, wenn sie mit Kuba und Iran Handel trieben, nachdem die USA gegen diese Länder unilaterale Sanktionen verhängt hatten, die das Völkerrecht eklatant missachten.6
Am Ende des Ukrainekriegs muss es eine diplomatische Lösung geben. Diese ist derzeit nicht in Sicht. Russland hat Gebiete annektiert, die es eines Tages wird wieder räumen müssen, damit ein Abkommen zustande kommen kann. Die ukrainische Regierung hat deutlich gemacht, dass sie nicht mit Präsident Putin verhandelt. Angesichts dieser Blockade sollten sich aber gerade diejenigen, die nicht an diesem Krieg beteiligt sind, mit den Ländern abstimmen, die in Moskau und in Kiew noch Gehör finden. Um sich gemeinsam mit ihnen Gedanken darüber machen, wie eine für beide Seiten akzeptable Einigung aussehen könnte.
Auch die westlichen Länder, die der Ukraine bei ihrer Verteidigung helfen, müssen Kiew zugleich begreiflich machen, dass die von ihnen gelieferten Waffen nicht dazu dienen dürfen, die Krim zurückzuerobern, was Moskau nicht hinnehmen würde. Und erst recht nicht dürfen sie für ukrainische Operationen auf russischem Gebiet eingesetzt werden.
Auch von dem Gedanken, Präsident Putin als Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen, muss man sich verabschieden, solange Ex-Präsident George W. Bush seinen Lebensabend damit verbringen darf, auf seiner Ranch in Texas Ölbilder zu pinseln. Wenn Präsident Biden vor einer „Apokalypse“ warnt, wäre es gut zu wissen, dass sein oberstes Ziel nicht das Überleben, sondern das Verhindern dieser Apokalypse ist. Und auch für die Ukraine wäre ein Waffenstillstand und ein Einfrieren des Konflikts besser als ein nuklearer Winter.7
Umso erstaunlicher ist, dass die Linke bei diesem Thema abwesend ist. Statt sich voll einzumischen, schweigt sie oder redet dumm daher. Der Krieg der Zivilisationen ist wieder da, die Kohlekraftwerke werden wieder hochgefahren, die Rüstungsausgaben explodieren.
Und wo ist die Linke? Was meint sie dazu? Welche diplomatische Lösung stellt sie sich vor? Dass man in der Linken geteilter Meinung ist, was die richtige Wirtschaftsstrategie, kulturelle Symbole oder die Wählerklientel betrifft, ist bekannt. Der Ukrainekrieg offenbart, dass die Uneinigkeit auf dem Gebiet der Außenpolitik noch tiefer geht. Dabei gäbe es gerade hier für die Linke so viel zu tun – vorausgesetzt, sie ist daran überhaupt noch interessiert.
3 Edwy Plenel, „L’épreuve et la contre épreuve“, Paris (Stock) 2022.
6 Siehe Jean-Michel Quatrepoint, „Fahnder im Dienst des Imperiums“, LMd, Januar 2017.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld