Der Preis der Sanktionen
von Hélène Richard
Noch vor einigen Monaten wollten die Staats- und Regierungschefs der EU glauben machen, der „Wirtschafts- und Finanzkrieg“ gegen Moskau sei rasch und ohne größere Verluste zu gewinnen. „Russland ist ein sehr großes Land und ein großes Volk, aber sein BIP ist kaum größer als das von Spanien“, meinte EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton am 1. März. Und er versicherte, die Auswirkungen der Sanktionen für Europa würden sich in Grenzen halten.
Ein halbes Jahr nachdem die erste Runde westlicher Sanktionen verhängt wurde, zeigt sich zwar zunehmend Wirkung auf die russische Wirtschaft, aber der Zusammenbruch ist ausgeblieben. Im März prognostizierte der Internationale Währungsfonds (IWF) für Russland eine Rezession von 8,5 Prozent im laufenden Jahr. Inzwischen geht die Weltbank nur noch von 4,5 Prozent aus.1 Wenn dieser Trend anhält, kann es noch einige Zeit dauern, bis der Wohlstand Russlands „halbiert“ ist, wie es US-Präsident Biden am 26. März in Warschau angekündigt hat.
Mittlerweile kämpft die EU mit einer zweistelligen Inflationsrate, die von den astronomisch gestiegenen Energiepreisen getrieben wird. Ende September stellte die französische Regierung Sondermittel in Höhe des nationalen Bildungshaushalts bereit, um Maßnahmen zur Stützung der Kaufkraft zu finanzieren. Die Berliner Regierung machte sogar dreimal so viel Geld locker für ein 200 Milliarden Euro schweres Entlastungspaket, mit dem vor allem die deutsche Industrie gerettet werden soll.
In Litauen, wo die Inflationsrate im September auf 24,1 Prozent kletterte, wurde die Verabschiedung des Staatshaushalts für 2023 vorgezogen, um die Unterstützungsprogramme für Unternehmen und Privathaushalte im Umfang von 6,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) finanzieren zu können. Wobei das Budget auch noch die Ausgaben für Waffenlieferungen und Finanzhilfe an die Ukraine verkraften muss.2
Unter der Energiekrise leiden in ganz Europa vor allem die Branchen (Chemie, Stahl, Düngemittel, Papier), deren Produktion bereits durch die Pandemie beeinträchtigt war. Jetzt können die sehr energieintensiven Unternehmen nicht mehr rentabel produzieren. Einige haben angekündigt, ihre Produktion nach Vietnam, Nordafrika oder in die USA zu verlagern.
Weil die russischen Gaslieferungen für Europa ausfallen, konnten die USA ihre Exporte von teurem Flüssiggas (LNG) in die EU und nach Großbritannien um 63 Prozent erhöhen.3 Der republikanische Gouverneur von Oklahoma, Kevin Stitt, umwirbt große deutsche Unternehmen mit dem Hinweis auf die niedrigen Energiepreise vor Ort. Angeblich erwägen selbst Konzerne wie Siemens angesichts der komparativen Kostenvorteile, in Oklahoma zu investieren, worüber Berlin sehr besorgt sein soll.4
In Paris rühmte Aurore Bergé, Fraktionsvorsitzende der Macron-Partei Renaissance, ihren Chef, der „die Idee der strategischen Autonomie Europas“ vorangebracht habe. Das ist beinahe zum Lachen, denn (relative) Einigkeit in Brüssel ist mehr denn je an den Zielen und Interessen Washingtons ausgerichtet, ob nun als bewusste Strategie oder wegen mangelnder Abwägung.
Zum Teil ist diese Blindheit durch den Schock der russischen Invasion zu erklären. Am Tag des Angriffs auf die Ukraine verkündete die deutsche Regierung das endgültige Aus für Nord Stream 2, was die USA schon seit Jahren gefordert hatten. Diesen Schritt beförderte auch die EU-Kommission: Nach Recherchen der Financial Times5 konferierten Vertreter der Biden-Administration schon zwischen November 2021 und Februar 2022 jede Woche etwa 10 bis 15 Stunden per Telefon oder Videoschalte mit der Europäischen Kommission und einzelnen EU-Staaten, um die Sanktionspläne für den Fall einer russischen Invasion zu koordinieren.
Eine Schlüsselrolle spielte dabei Björn Seibert, Kabinettschef von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der zwischen Washington und Brüssel hin- und herreiste. „Noch nie in der Geschichte der Europäischen Union hatten wir in einer Sicherheitsfrage so engen Kontakt mit den Amerikanern wie jetzt, das ist wirklich beispiellos“, zitiert die Financial Times einen EU-Repräsentanten.
Russland schwimmt in Liquidität
Als erste Reaktion auf den russischen Angriff vereinbarten die transatlantischen Verbündeten eine Strategie massiver finanzieller Repressalien: Rund die Hälfte der internationalen Reserven (in Dollar, Euro und Pfund) der russischen Zentralbank (etwa 300 Milliarden Euro) wurden eingefroren, also faktisch beschlagnahmt. Damit sollte eine Stützung des Rubels unmöglich gemacht werden.
Zudem wurden sieben russische Geldhäuser aus dem Interbanken-Nachrichtensystem Swift ausgeschlossen. Doch das russische Bankensystem hielt stand. Kapitalverkehrskontrollen und die Verpflichtung der russischen Exporteure, 80 Prozent ihrer eingenommenen Devisen in Rubel zu konvertieren, sorgten für eine Schadensbegrenzung. Und die russische Bevölkerung, die schon viele Krisen erlebt hat (1988, 1998, 2008, 2014), stürmte auch nicht Banken und Geldautomaten.
Nachdem der finanzielle Blitzkrieg wenig erfolgreich war, begann das Tabu des Energie-Importstopps zu bröckeln. Der Druck verstärkte sich noch, als am 1. April in Butscha die Gräueltaten der russischen Armee gegen die Zivilbevölkerung entdeckt wurden.
Noch Anfang April hatte der deutsche Finanzminister Christian Lindner betont, die russischen Gaslieferungen ließen sich kurzfristig nicht ersetzen. Ein Importstopp würde Europa mehr schaden als Russland. Thomas Pellerin-Carlin, Direktor des Energiezentrums am Jacques-Delors-Institut in Paris, bezeichnete die Aussage Lindners als „glatte Lüge“6, ohne auszuführen, wer stattdessen als Lieferant einspringen sollte. Dafür warf er den Deutschen vor, sie seien nicht bereit, auf „2 Prozentpunkte ihres BIPs zu verzichten, um Leben zu retten“. Und er dozierte in Richtung Berlin: „Jetzt ist es das Wichtigste, dass Wladimir Putin kein Geld mehr hat, um seinen Krieg zu führen.“
Die von April bis Anfang Juni verabschiedeten Energieembargos – für Kohle ab August 2022, für Erdöl ab Ende 2022 (mit Ausnahmen für Pipeline-Öl) – leiteten nur noch mehr Geld in die Kassen des russischen Regimes. Der Ansturm auf alternative Lieferanten wie Norwegen, Algerien und die USA trieb die Preise in die Höhe, womit Russland den Rückgang seiner Exporte mehr als kompensieren konnte: Allein durch den Verkauf von Öl wird es 2022 durchschnittlich 20 Milliarden US-Dollar pro Monat eingenommen haben, gegenüber 14,6 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr.
Elina Ribakova, stellvertretende Chefökonomin des Institute of International Finance in Washington, schlussfolgerte, Russland sei nicht am Ausbluten, sondern „schwimmt in Liquidität“.7 Der Wert des Rubel erreichte bereits Ende April wieder sein Vorkriegsniveau – von 75 zu 1 gegenüber dem Dollar – und ist seitdem weiter gestiegen.
Dieser Bumerangeffekt der Sanktionen hat die Spannungen in Europa verschärft. Deutschland verschuldet sich massiv, um seine Industrie zu entlasten, wobei es allerdings für seine Staatsanleihen – im Gegensatz zu Italien oder Griechenland – nur niedrige Zinsen zahlen muss.8 Uneinigkeit bestand lange über eine gemeinschaftliche Gaspreisdeckelung, mit der die EU-Länder den Flüssiggaslieferanten, insbesondere den USA, einen Preis aufzwingen wollten.
Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire mahnte die EU-Partner, der Ukraine-Konflikt dürfe nicht „zur wirtschaftlichen Dominanz der USA und zur Schwächung der EU führen“. Man könne nicht akzeptieren, dass die USA ihr Flüssiggas zum Vierfachen des Preises nach Europa verkaufen, den US-amerikanische Unternehmen zahlen. Inzwischen hat man sich mühsam auf einen „Preiskorridor“ geeinigt, wobei die Details noch ausgearbeitet werden müssen.
Russland geht zweifellos schweren Zeiten entgegen. Die strukturelle Schwächung seiner Wirtschaft ist in vollem Gange. Was den Öl- und Gasexport betrifft, so wird Asien nur einen Teil der weggebrochenen Ausfuhren nach Westen absorbieren können. Und China kann es sich kaum leisten, das westliche Technologieembargo gegen Russland zu unterlaufen, da es mit Vergeltungsmaßnahmen der USA rechnen muss.
EU-Chefdiplomat Josep Borell fordert „strategische Geduld“. Aber wird er weitere „effektive“ Sanktionen vorschlagen können, wenn sich die Rezession in Russland 2023 verschärfen wird? Im Grunde hängt alles davon ab, welches Ziel man letztlich verfolgt: Will man Russland militärisch besiegen? Oder das Ende von Putins Regime erzwingen? Jedenfalls ist es mehr als unsicher, ob eine Embargopolitik, die gegenüber Iran und Nordkorea gescheitert ist, im Fall Russland funktionieren kann. Zumal sich nicht wenige Länder weigern, ihre Verbindungen zur elftgrößten Volkswirtschaft der Welt zu kappen.
Indien zum Beispiel kauft – trotz seiner Annäherung an die USA – nach wie vor russische Rüstungsgüter und importiert zudem neuerdings große Mengen russisches Öl (fast 1 Million Barrel pro Tag). Und Saudi-Arabien, das als Stütze der US-Interessen im Nahen Osten gilt, hat sich im Rahmen der Opec+ mit Russland verbündet und sabotiert zusammen mit Moskau die von Washington angestrebte Ölpreissenkung: Anfang Oktober beschloss das Ölkartell, seine Produktion zu drosseln – obwohl der US-Präsident keine drei Monate zuvor Riad besucht hatte. Kurz nach der Entscheidung kündigte Biden „Konsequenzen“ an.
Hier zeigt sich das Paradoxe einer Sanktionspolitik, die Biden in seiner Warschauer Rede vom März als eine „neue Art von wirtschaftlicher Staatskunst“ bezeichnet hat. Mit ihr könne man den Gegner ähnlich schwer schädigen wie mit militärischer Macht.9 Doch mit dem Einsatz dieser neuen „Staatskunst“ gegenüber Russland – dem zweitgrößten Ölexporteur der Welt und einem der Hauptlieferanten wichtiger Güter wie Düngemittel und Weizen – haben die USA und ihre Verbündeten dem globalen Wirtschaftskreislauf ein Würgeeisen verpasst.
„Die umfassendere Integration der Märkte hat die Schneisen erweitert, über die die durch die Sanktionen ausgelösten Schocks auf die Weltwirtschaft übergreifen“, heißt es in einer Studie des Internationalen Währungsfonds.10 Es sei daher keine Überraschung, dass gerade die Entwicklungs- und Schwellenländer sich den Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen haben, denn sie sind „am stärksten der Gefahr einer Zahlungsbilanzkrise ausgesetzt, wenn die Sanktionen gegen russische Exporte über einen längeren Zeitraum verschärft werden“.
Infolgedessen gibt es viele Möglichkeiten, die Handelsbeschränkungen durch Umlenkung über solche Länder zu umgehen, die sich nicht an den USA orientieren. Das Ziel, Russland hermetisch abzuschotten, ist somit praktisch nicht zu erreichen.
Jair Bolsonaro, Brasiliens inzwischen abgewählter rechtsextremer Präsident, gab ganz gegen seine sonstige Politik kürzlich den Anwalt des einfachen Volks und erklärte: „Wir halten es nicht für den besten Weg, gezielte unilaterale Sanktionen zu erlassen, die gegen das Völkerrecht verstoßen.“ Die Sanktionen gegen Russland hätten die Erholung der Wirtschaft nach der Coronapandemie erschwert, zulasten der „Menschenrechte vulnerabler Bevölkerungsgruppen, auch in Europa“.11
Als sich der senegalesische Präsident Macky Sall Anfang Juni mit Wladimir Putin traf – was man in Paris bereits als Provokation betrachtete –, appellierte er an den Westen, keine Sanktionen für den Nahrungsmittelsektor zu beschließen, die „eine ernsthafte Bedrohung für die Ernährungssicherheit“ in Afrika darstellen würden. Bereits im März hatten die Vereinten Nationen vor einem „möglichen Hurrikan des Hungers“ gewarnt.
Laut einer Studie der FAO sind in Afghanistan seit dem Rückzug der USA fast 20 Millionen Afghaninnen und Afghanen von Hunger bedroht. In der Ukraine haben die Sanktionen zweifellos nicht viele Leben gerettet, aber andernorts wirken Sanktionen tödlich.
2 „National policies to shield consumers from rising energy prices“, Bruegel, 21. September 2022.
3 Les Échos, Paris, 4. Oktober 2022.
7 Wall Street Journal, 30. August 2022.
10 Nicholas Mulder, „The sanctions weapon“, IWF, Juni 2022.
Aus dem Französischen von Jakob Farah