10.11.2022

Hoher Repräsentant der Kroaten

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Hoher Repräsentant der Kroaten

Warum der CSU-Politiker Christian Schmidt als UN-Beauftragter für Bosnien und Herzegowina eine Fehlbesetzung ist

von Sead Husic

Wahlkampf in Sarajevo SEAD HUSIC
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Die Wahlen in Bosnien und Herzegowina vom 2. Oktober 2022 fielen wenig überraschend aus. Im Gesamtstaat gingen die meisten Parlamentssitze an Kandidaten der nationalistischen Parteien der Bosniaken, Serben und Kroaten. Bei der Wahl des Staatspräsidiums, dem je ein Angehöriger der drei größten Volksgruppen angehören muss, gewann allerdings der gemäßigte Sozialdemokrat Denis Bečirović den bosniakischen Sitz – gegen Bakir Izet­be­go­vić von der nationalkonservativen Partei der Demokratischen Ak­tion (SDA).

In den beiden Landeshälften – der Entität Republika Srpska (RS) und der Föderation Bosnien-Herzegowina (FBiH) – stellen ultranationalistische Parteien auch künftig die stärksten Parlamentsfraktionen: in der RS die Al­lianz der unabhängigen Sozialdemokraten (SNSD); in der FBiH die SDA und die Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ). Die Präsidentenwahl in der RS gewann Milorad Dodik1 , der größte Putin-Fan auf dem Balkan, gegen Jelena Trivić, die die wegen Völkermordes verurteilten Kriegsverbrecher Radovan Karadžić und Ratko Mladić als Helden verehrt.

All diese Wahlresultate wurden jedoch von einer Entscheidung überschattet, die der deutsche CSU-Politiker Christian Schmidt getroffen hat. Der ehemalige Landwirtschaftsminister der Bundesrepublik bekleidet seit Mai 2021 das Amt des Hohen Repräsentanten in dem 3,6-Millionen-Einwohner-Land. Nur eine Stunde nach Schließung der Wahllokale verfügte Schmidt eine Änderung des Wahlrechtsgesetzes und löste damit empörte Reaktionen und heftige politische Auseinandersetzungen aus.

Der offizielle Name für Schmidts Amt lautet „Office of the High Representative“, abgekürzt OHR. Diese weltweit einzigartige Institution wurde nach den Jugoslawienkriegen (1992–1995) von der internationalen Staatengemeinschaft geschaffen. Das OHR verfügt in dem Bundesstaat Bosnien, der auf einer delikaten Machtbalance zwischen Bosniaken, Serben und Kroaten beruht, über umfangreiche Vollmachten. Es kann Gesetze erlassen und politische Amtsinhaber absetzen. Zudem ist das OHR die oberste Instanz, die darüber befindet, ob sich alle Seiten an das damals von der US-Regierung unter Präsident Clinton moderierte Dayton-Abkommen zwischen Kroatien, Ser­bien und Bosnien-Herzegowina halten. Diese Instanz heißt heute Chris­tian Schmidt.

Das OHR genießt in Bosnien großes Ansehen. Seine Entscheidungen werden seit 27 Jahren von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch jetzt hat Schmidt mit seinem Wahlnachtserlass die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger gegen sich aufgebracht. Denn dieser Erlass verändert nachträglich die Zusammensetzung des Hauses der Völker in der FBiH, dem Landesteil also, in dem mehrheitlich Bosniaken und Kroaten leben.

Im Haus der Völker sitzen die Delegierten aus den zehn Kantonen der Föderation. Ohne die Zustimmung dieses „Oberhauses“ kann in der FBiH keine Regierung gebildet und kein Gesetz beschlossen werden. Bisher verfügten Bosniaken, Kroaten und Serben über je 17 Sitze. Schmidt hat sie auf 23 erhöht. Was auf den ersten Blick nicht dramatisch erscheint, ist tatsächlich politisches Dynamit. Denn de facto wird damit die HDZ begünstigt.

Die größte Partei der Kroaten, die in der Föderation (2,4 Millionen Einwohner) etwa 8 Prozent aller Stimmen erzielt, erhält eine Mehrheit im Haus der Völker, die die anderen Parteien praktisch nie erreichen können. Das hat mit der Art der Verteilung der Delegierten zu tun, die Schmidt verfügt hat. Nach einem ausgeklügelten Schlüssel, der sich „proportionale Repräsenta­tion“ nennt, können die drei südlichen Kantone Livno, Westherzegowina und Herzegowina-Neretva (mit dem Zentrum Mostar) allein 14 Delegierte ins Haus der Völker entsenden.

In diesen drei Kantonen, in denen etwa 250 000 Kroaten leben, ist die HDZ die alles dominierende Partei. Die kroatische Bevölkerungsgruppe in den sieben anderen Kantonen umfasst ebenfalls 250 000 Personen – aber die entsenden nur neun Delegierte ins Haus der Völker. Als Bewohner stark gemischter Kantone mit mehrheitlich bosniakischer Bevölkerung wählen die meisten von ihnen nicht die HDZ, die aber auch hier vertreten ist. Vielmehr engagieren sich diese Kroaten überwiegend für bürgerliche Parteien und kandidieren auf gemischten Listen etwa der Sozialdemokraten, der DF und anderer multikulturell ausgerichteter Parteien.

Wahlrechtsänderung in der Wahlnacht

Zur DF gehört auch der Kroate Željko Komšić, der bei dieser Wahl zum vierten Mal ins Staatspräsidium gewählt wurde. Der HDZ-Parteichef in Bos­nien Dragan Čović2 behauptet seit vielen Jahren, dass die Kroaten, die nicht der HDZ entstammen, die Interessen des kroatischen Volkes nicht vertreten könnten, da sie auch mit bosniakischen Stimmen gewählt wurden. Die HDZ verfolgt schon lange das Ziel, die kroatischen Landsleute, die sich bosnischen Parteien anschließen, zu verdrängen.

Das ist der HDZ und Čović jetzt mit Schmidts Hilfe weitgehend gelungen. Nach dessen Eingriff benötigt man im Haus der Völker nunmehr 11 Stimmen aus den Reihen einer Volksgruppe, um den Präsidenten der Föderation mit seinen beiden Stellvertretern wählen zu können. Vorher waren dazu nur 6 Stimmen der betreffenden Volksgruppe erforderlich. Das neue Quorum von 11 Stimmen kann nach dem neuen System nur die HDZ erreichen. Dagegen kommen die Parteien mit überwiegend bosniakischen Mitgliedern an diese Schwelle nicht heran. So werden die Sozialdemokraten nur durch 9 Delegierte vertreten, die SDA sogar durch nur 7.3

Der Hohe Repräsentant Schmidt hat mit seiner Entscheidung der HDZ auf dem Silbertablett serviert, was sie seit Langem fordert. Vor Schmidts Entscheidung wäre die HDZ der Verlierer dieser Wahl gewesen. Jetzt aber sind die kroatischen Nationalisten ein Machtfaktor, ohne den keine Regierungsbildung möglich ist, erklärt der Politikanalyst Reuf Bajrović, ehemals Energieminister in der FBiH. Schmidts Entscheidung zeuge nicht nur von mangelnder Kenntnis über die politischen Verhältnisse des Landes, sondern auch von einer beträchtlichen Portion Islamophobie.

Wie sonst wäre zu erklären, dass die Berechnung, wie viele Personen die Kantone ins Haus der Völker delegieren können, auf dem Zensus aus dem Jahre 2013 beruht. Laut Bajrović verstößt dies gegen das Dayton-Abkommen, nach dem die Daten der Volkszählung von 1991 zugrunde zu legen sind, um nicht die ethnischen Säuberungen der Kriegsjahre zu zementieren: Der Friedensvertrag sieht vor, dass die zwischen 1992 und 1995 vertriebenen Menschen an ihre Heimatorte zurückkehren.

Indem sich Schmidt an die neuere Volkszählung hält, akzeptiert er die Ergebnisse der „ethnischen Säuberungen“. Die homogene Struktur der drei Kantone, aus denen die meisten HDZ-Delegierten ins Haus der Völker entsandt werden, ist nichts anderes als das Resultat der ethnischen Säuberungen durch die kroatische Armee in den Kriegsjahren 1993 bis 1995. Wenn es dagegen um die Verteilung der Ministerposten geht, legt Schmidt die Bevölkerungsdaten von 1991 zugrunde. Der schlichte Grund: Auf Basis des alten Zensus, der noch eine größere Zahl von bosnischen Kroaten ausweist, kann die HDZ mehr Ministerposten beanspruchen.

Im Abendprogramm des staatlichen Fernsehsenders der Föderation tritt der landesweit bekannte Politiker und Verfassungsrechtler Zlatan Begić auf. Er trägt eine weiße Armbinde, auf der das Wort „Apartheid“ steht.4 Solche Armbinden haben in Bosnien eine große symbolische Bedeutung: Während der serbischen Aggression 1992 zwangen die Behörden in der Stadt Prijedor alle nichtserbischen Bewohner, weiße Armbinden zu tragen.

Professor Begić ist Mitglied der Demokratischen Front (DF), einer multikulturellen, bürgerlichen Partei, in der neben muslimischen Bosniaken auch Kroaten und Serben wichtige Funktionen innehaben. Die DF kämpft seit ihrer Gründung im April 2013 für einen Bürgerstaat, in dem die ethnische Herkunft keine Rolle spielt. „Wir werden Herrn Schmidt mit unseren weißen Armbinden bis nach Berlin folgen und verlangen, dass er als Hoher Repräsentant abdankt“, kündigte Begić an. „Seine Entscheidung ist eine Schande, weil sie ein Apartheidsystem einführt.“

Alle Macht für eine 8-Prozent-Partei

Besonders sarkastisch kommentiert der Verfassungsrechtler den Zeitpunkt von Schmidts Intervention: „Stellen Sie sich vor, ein Schiedsrichter entscheidet nach Ende eines Basketballspiels, dass die Punkte der einen Mannschaft doppelt so viel zählen wie die der anderen. Genau das hat dieser ehemalige Agrarminister gemacht und damit sein Amt missbraucht.“ Für Begić missachtet Schmidts Entscheidung alle Normen und Standards der Europäischen ­Union.

Auch der emeritierte österreichische Verfassungsrechtler Joseph Marko, der von 1997 bis 2002 als einer von drei internationalen Richtern dem bosnischen Verfassungsgericht angehörte, kritisiert die Entscheidung von Christian Schmidt, die er als eine Art Gerrymandering bezeichnet. Darunter versteht man die Manipulation von Wahlkreisen, um den Sieg einer bestimmten Partei zu sichern. Die Tatsache, dass bei der Berechnung der Delegierten der Zensus von 2013 zugrunde gelegt wurde, stellt für Marko einen Rechtsverstoß dar. Sollte das bosnische Verfassungsgericht mit dem Fall befasst werden, könnte es die Entscheidungen des Hohen Repräsentanten für ungültig erklären.

HDZ-Parteichef Čović dagegen hat sich bei Christian Schmidt öffentlich bedankt. Künftig werde es im Haus der Völker keine Kroaten von Gnaden der Bosniaken mehr geben, erklärte er am 23. Oktober vor dem HDZ-Präsidium in Mostar und kündigte den nächsten Coup an: Schmidt solle das Gesetz zur Wahl des Staatspräsidiums so ändern, dass nur noch Kroaten der HDZ antreten dürfen. Einen Kandidaten wie den sozialliberalen Željko Komšić soll es nicht mehr geben.

Dass Schmidt unter dem Einfluss der HDZ steht, scheint für die Mehrheit der Bosniaken außer Frage. Über das Wirken des deutschen Politikers recherchiert Avdo Avdić, einer der bekanntesten Investigativjournalisten des Landes, bereits seit mehr als einem Jahr. Avdić hatte schon Wochen vor der Ernennung Schmidts zum Hohen Repräsentanten über dessen enge Kontakte zur kroatischen Regierung in Zagreb berichtet.

Im Januar 2020 wurde ihm vom kroatischen Premierminister Andrej Plenković der Ante-Starčević-Orden verliehen. Dieselbe Auszeichnung hatten vor ihm Jadranko Prlić und Dario Kordić erhalten – zwei bosnische Kroaten, die vom Jugoslawientribunal wegen Kriegsverbrechen an Bosniaken verurteilt worden sind. „Ich habe Christian Schmidt auf einer Pressekonferenz kurz nach seiner Ernennung in Sarajevo gefragt, ob er diesen Orden, der ihn in eine Reihe mit Verbrechern gegen die Menschlichkeit stelle, nicht zurückgeben sollte. Doch Schmidt lehnte ab“, erzählt Avdić.

Oder diese Geschichte: Anfang September 2021 organisierte die Deutsch-Atlantische Gesellschaft, deren Präsident Schmidt ist, ein Symposium zum Thema „Die Euroatlantische Perspektive Bosnien und Herzegowinas“. Den „Impulsvortrag“ hielt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Schmidt saß auf einem Podium. Als Schäuble erklärte, man dürfe einen Zerfall Bosniens nicht zulassen, denn damit entstehe eine muslimische Insel in Europa, von der eine dauernde Gefahr ausgehen würde5 , widersprach Schmidt nicht. In Bosnien lösten Schäubles islamophobe Äußerungen ungeheure Empörung aus. Das Video ist inzwischen von der Webseite der Deutsch-Atlantischen Gesellschaft verschwunden. Nachfragen dazu wurden von Schmidt nicht beantwortet.

Was die Wahlrechtsänderung vom 2. Oktober betrifft, so hat der kroatische Regierungschef Andrej Plenković inzwischen öffentlich erklärt, es sei seiner Regierung zu verdanken, dass der Hohe Repräsentant die Änderung verfügt hat. Darüber habe man mit Schmidt über Monate im Geheimen verhandelt.

In Sarajevo stellte Reuf Bajrović am 12. Oktober in einer Sendung auf BIR-TV das Wirken Schmidts in seine historischen Zusammenhänge: Der Krieg in den 1990er Jahren wurde geführt, um Bosnien und Herzegowina aufzuteilen: „Darauf hatten sich die serbische Regierung unter Milošević und die kroa­ti­sche unter Tuđman geeinigt; die Muslime sollten verschwinden.“ Das sei damals nicht gelungen. Jetzt aber würden Serbien und Kroatien versuchen, dieselben Ziele mithilfe rechter Kreise umzusetzen: „Herr Schmidt ist einer ihrer Gehilfen.“

1 Über Milorad Dodik siehe „Showdown in Bosnien“, LMd, November 2021.

2 Über Dragan Čović und seine Skandalgeschichten siehe „Kroatiens Mann in Bosnien und Herzegowina“, LMd, Juni 2022.

3 Die Endergebnisse der Mandatszuteilung waren zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses von der Wahlkommission noch nicht bestätigt.

4 Sendung in Federalna TV vom 12. Oktober 2022.

5 „Zabrinjavajuće izjave o BiH na Schmidtovom skupu u Njemačkoj: Muslimansko ostrvo sa konfliktnim potencijalom“, Saff, 7. September 2021.

Sead Husic ist Journalist und Schriftsteller. Zurzeit arbeitet er an einem Roman über das Lukiškės-Gefängnis in Vilnius.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.11.2022, von Sead Husic