Es ist ein Kriegsverbrechen
In der Ukraine wird sexualisierte Gewalt offensichtlich gezielt als Waffe eingesetzt
von Ilioné Schultz
Die Hitze in dem kleinen Auto ist kaum auszuhalten. Es ist Anfang Juli 2022. Tatjana Sesulkina und Ludmilla Krawtschenko sind auf dem Weg nach Jahidne, einem Dorf unweit der belarussischen Grenze, das fast einen Monat lang unter russischer Besatzung stand. „350 Menschen wurden dort im Keller der Dorfschule festgehalten. Wahrscheinlich kam es auch zu Vergewaltigungen“, erklärt Tatjana. Sie und Ludmilla sind aktive Mitglieder von Sema, dem Globalen Netzwerk der Opfer und Überlebenden sexualisierter Gewalt im Krieg (Global Network of Victims and Survivors to End Wartime Sexual Violence). Die beiden wollen in Jahidne Nachforschungen anstellen.
In der verlassenen Dorfschule treffen sie auf den Hausmeister. „Die Soldaten haben uns bedrängt“, erzählt er, „aber wir haben unsere Frauen beschützt“. Zögernd nähert sich eine Frau. Sie berichtet, dass sie nach der Befreiung Kondome in ihrer Wohnung gefunden habe, und nennt die Namen von zwei Opfern.
Bereits Ende März, einige Wochen nach Kriegsbeginn, als die ukrainischen Streitkräfte die ersten besetzten Dörfer befreiten, darunter Butscha und Irpin, kursierten in den sozialen Medien und in der Presse die ersten Berichte über Vergewaltigungen ukrainischer Zivilistinnen durch russische Militärs.
Eine Frau sei von mehreren Soldaten vor den Augen ihres Mannes vergewaltigt worden. In Butscha fand man in einem Garten eine nackte weibliche Leiche, die man notdürftig mit einem Pelzmantel zugedeckt hatte. Die Frau muss direkt nach ihrer Vergewaltigung umgebracht worden sein. Zwei junge Mädchen waren von fünf Soldaten vergewaltigt worden, die ihnen auch die Zähne ausschlugen.
Präsident Wolodimir Selenski sprach Anfang April von „hunderten gemeldeter Fälle“. UN-Vertreter:innen, europäische und US-Politiker:innen forderten umfassende Ermittlungen. Zum ersten Mal war in der Ukraine von Vergewaltigung als Kriegswaffe die Rede.
Vergewaltigung im Krieg hat es schon immer gegeben, aber erst seit den Jugoslawienkriegen (1992–1995) wird sie auch als Waffe betrachtet. Politisch-militärische Kräfte können Vergewaltigung als strategisches Mittel der Erniedrigung, der Zerstörung und der Erlangung von Macht benutzen, eingesetzt vor allem gegen Frauen, aber auch gegen Männer. Als Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde Vergewaltigung erstmals vom Internationalen Strafgerichtshof für Jugoslawien 2001 geahndet; vom Strafgerichtshof für Ruanda 1998 wurde sie als Akt des Völkermords eingestuft. Seit 2002 fallen Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt im Krieg als Kriegsverbrechen in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH).
Die Gerichte, die sich mit den Verbrechen im Ukrainekrieg beschäftigen, werden sich auch mit den Vergewaltigungen seit der russischen Invasion im Februar 2022 zu befassen haben. Doch nicht nur damit: Bereits im Dezember 2020 berichtete der IStGH, es bestünden „ernsthafte Gründe“ zu der Annahme, dass in der Ukraine schon seit 2014, dem Jahr der russischen Krim-Annexion, viele Kriegsverbrechen begangen worden seien, darunter auch Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt.1
Auch Tatjana Sesulkina und Ludmilla Krawtschenko wurden 2015 im Donbass mehrere Tage von Mitgliedern des proukrainischen Bataillons „Tornado“ festgehalten, begrapscht und mit Vergewaltigung bedroht. Damals waren die Stellungen der Kriegsgegner in der Ostukraine in ständiger Bewegung; die staatlichen Strukturen waren zusammengebrochen, und sexualisierte Gewalt war auf beiden Seiten der Front, an den Checkpoints und in den Hafteinrichtungen weit verbreitet: auf proukrainischer Seite durch bewaffnete Bataillone und den Geheimdienst, aufseiten der Separatisten durch Mitglieder des sogenannten Sicherheitsministeriums und den vor Ort aktiven russischen Inlandsgeheimdienst FSB.
Laut der UN-Menschenrechtsbeobachtungsmission in der Ukraine (HRMMU) wurde sexualisierte Gewalt damals aber eher nicht „zu strategischen Zwecken“, sondern als Foltermethode eingesetzt.2 In einem Bericht von 2021 schätzt sie die Zahl der Opfer in Haft seit 2014 auf etwa 340, davon 170 bis 200 auf separatistischer und 140 bis 170 auf proukrainischer Seite. Diese Zahlen dürften jedoch zu niedrig gegriffen sein, weil die UN-Mission seit acht Jahren keinen Zugang zu den Hafteinrichtungen in den Separatistengebieten und auf der Krim hat. Nach Auffassung derjenigen, die Zeugenaussagen von ehemaligen Gefangenen auswerten, wird in diversen Hafteinrichtungen der Separatisten gewohnheitsmäßig gefoltert und misshandelt. Die praktizierten Methoden erinnern an das russische Gefängnissystem.3
Irina Dowgan, Gründerin der ukrainischen Sema-Gruppe, wurde im Frühjahr 2014 in der Nähe von Donezk von Separatisten gefangen genommen und an einem öffentlichen Ort an einen Pfahl gebunden. Die Männer zogen sie aus, schlugen ihr auf die Brüste und drohten, sie zu vergewaltigen. Das sei aber nur „ein Bruchteil dessen, was sie mir angetan haben“, erzählt die elegant gekleidete 60-Jährige im Garten ihres Hauses in der Nähe von Kiew.
Dowgan nahm sich 2016 einen Anwalt. 2017 wurde sie von einem Militärstaatsanwalt zu den Vorkommnissen befragt. Danach geschah – nichts. Ihre Akte war angeblich unauffindbar. Erst 2021, nach einer Pressekonferenz, auf der sie das Sema-Netzwerk vorstellte, leitete die Generalstaatsanwaltschaft ein Verfahren ein, von dessen Fortgang Dowgan allerdings bis heute nichts gehört hat.
Obwohl die ukrainischen Behörden in mehr als 750 Fällen Ermittlungen zu Verbrechen an Zivilist:innen eingeleitet haben, die zwischen 2014 und 2020 von ihren eigenen Streitkräften begangen worden waren, deuten mehrere Berichte von Menschenrechtsorganisationen auf Untätigkeit hin. So beklagte 2021 Amnesty International: „Es wurde nichts unternommen, um den Opfern von Verschleppung, Folter und illegaler Inhaftierung durch Mitglieder des ukrainischen Geheimdiensts SBU in der Ostukraine zwischen 2014 und 2016 Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“4
Hindernisse bei der Strafverfolgung
Als eine Art Test für die ukrainische Demokratie wurden 2016 immerhin Mitglieder des Tornado-Bataillons wegen ihrer Taten im Donbass vor Gericht gestellt. Der Prozess, der hinter verschlossenen Türen stattfand, erhitzte die Gemüter. Innerhalb und außerhalb des Gerichts kam es zu Gewaltakten und Drohungen durch Unterstützer:innen der Paramilitärs gegen die Justiz. Acht ehemalige Kämpfer wurden zu Haftstrafen zwischen 8 und 11 Jahren verurteilt.
Keiner von ihnen wurde jedoch wegen Kriegsverbrechen verurteilt, obwohl die Taten als solche hätten eingestuft werden können. Die ukrainische Gesetzgebung zu Kriegsverbrechen, insbesondere Artikel 438 des Strafgesetzbuchs, enthält keine eigenen Angaben zu Sexualverbrechen, was die Arbeit der in diesem Thema ohnehin nicht versierten Richter:innen erschwert. Im ukrainischen Recht galt bis 2019 Vergewaltigung mit Gegenständen, durch Analverkehr oder zwischen gleichgeschlechtlichen Personen nicht einmal als solche. Mittlerweile wurde das Gesetz geändert und an internationale Standards angepasst.
Die auf Kriegsverbrechen spezialisierte Anthropologin Véronique Nahoum-Grappe meint, dass die ukrainischen Behörden nun gefordert seien, Opfer sexualisierter Gewalt, die derzeit massenhaft als „Taktik der politischen und militärischen Dominanz durch die russischen Kräfte“ eingesetzt werde, besser zu unterstützen.
Laut Matilda Bogner von der UN-Beobachtungsmission ist das Ausmaß „deutlich größer als in der ersten Phase des Konflikts“. Ihre Mission zählt bereits mehrere Dutzend Fälle von sexualisierter Gewalt durch russische Soldaten – Vergewaltigungen von Männern, Frauen und Kindern, die häufig vor den Augen von Mitgliedern ihrer Familien oder Gemeinschaften begangen wurden. Bei Frauen handele es sich meist um Gruppenvergewaltigungen, bei Männern um Vergewaltigungen in der Haft.
„Alle Frauen, die ich verteidige, wurden, bis auf eine, von mehreren Soldaten vergewaltigt“, berichtet Larissa Denisenko, Rechtsanwältin für humanitäres Völkerrecht. Im Juli bestätigte die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen in 43 Fällen von sexualisierter Gewalt durch russische Soldaten. Diese Zahl sei jedoch keineswegs repräsentativ, erklärt Aleksander Pawlitschenko von der Ukrainian Helsinki Human Rights Union. Viele Opfer seien ins Ausland geflohen, um der Stigmatisierung zu entgehen. In vielen Dörfern, erzählt Pawlitschenko, befürchten die jungen Frauen, dass sie danach niemand mehr heiraten will.
Womöglich sind die Opfer nach der Affäre um die Kiewer Menschenrechtskommissarin Ludmilla Denisowa noch misstrauischer geworden. Die hatte über eine kurz nach Kriegsbeginn eingerichtete Hotline rund 450 Vergewaltigungsfälle aufgenommen und die teilweise sehr krassen Details über soziale Medien verbreitet. Ende Mai 2022, wenige Tage nach ihrer Entlassung durch den Präsidenten, gab sie gegenüber der Presse zu, dass sie „einige Zeugenaussagen übertrieben“ habe, um die Politik und die Öffentlichkeit im Westen besser zu erreichen.5
Ein mit dem Fall vertrautes Mitglied einer Kiewer NGO macht aus seiner Enttäuschung keinen Hehl: „Natürlich sind unter den aufgeführten Fällen viele echt, aber diese politische Instrumentalisierung sexueller Gewalt ist äußerst problematisch. Sie hat das zweifellos getan, um die Gesellschaft aufzurütteln, die Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen und mehr Waffen zu bekommen. Tatsächlich hat sie damit aber vor allem der russischen Propaganda eine sehr mächtige Waffe in die Hände gespielt – und den Opfern Angst gemacht.“
Der UN-Mission in der Ukraine liegen nach eigenen Angaben nicht genügend Beweise vor über das Ausmaß oder den systematischen Charakter der Sexualverbrechen seit der russischen Invasion. Doch viele Beobachter:innen vor Ort – insbesondere von der OSZE6 – gehen davon aus, dass Vergewaltigungen als Kriegswaffe eingesetzt werden. „Man wird sicher nie einen schriftlichen Befehl von Putin finden, der sagt ‚Wir müssen alle ukrainischen Frauen vergewaltigen‘ “, erklärt Larissa Denisenko. Doch das entlasse niemanden in der Befehlskette aus der Verantwortung. „Keiner befiehlt, dass sie aufhören sollen.“
Sie erinnert an Putins militärische Auszeichnungen für die 64. Infanteriebrigade, die für die Übergriffe in Butscha, darunter auch Vergewaltigungen, mutmaßlich verantwortlich ist. Die Anthropologin Nahoum-Grappe meint, die „Täuschung“ zu Beginn des Kriegs, als den Truppen erst eine Mission zur „Befreiung der russischsprachigen Bevölkerung von den Nazis“ angekündigt wurde und sie dann auf den massiven Widerstand der lokalen Bevölkerung stießen, hätte bei den Übergriffen auch eine Rolle gespielt: „Das angebliche Ziel dieses Kriegs wurde verfehlt, hinzu kommen die Vernachlässigung durch die militärische Führung und die grausamen Aufnahmeriten beim Militär. All das gehört mit zu den Ursachen dieser extremen Gewalt.“
Ermittler:innen aus dem In- und Ausland werden geduldig die Puzzleteile zusammensetzen müssen, um die Schuldigen vor Gericht stellen zu können. Da der Internationale Strafgerichtshof nur die prominentesten Fälle behandeln wird, plädieren viele Menschenrechtsaktivist:innen für die Einrichtung eines ukrainisch und international besetzten Gerichtshofs. Doch bis dahin liegt die Zuständigkeit allein bei der ukrainischen Justiz.
Aleksandra Matwitschuk hält eine Strafrechtsreform für dringend geboten. Sie leitet das ukrainische Center for Civil Liberties (CCL), das 2022 neben der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial und dem belarusischen Menschenrechtsanwalt Ales Bjaljazki mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Matwitschuk kämpft seit Jahren für das Gesetz 2689, das Kriegsverbrechen konkreter ahndet. 2020 wurde es vom Parlament ratifiziert und wartet seitdem auf die Unterschrift von Präsident Selenski. „Die Militärs waren gegen die Änderungen“, berichtet Pawlitschenko. „Durch den Krieg sind sie zu Helden geworden. Es fehlt im Moment der politische Wille.“
4 „Ukraine 2021“, Amnesty International.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Ilioné Schultz ist Journalistin, Kamerafrau und Filmemacherin.