13.10.2022

Mittelschicht im Reich der Mitte

zurück

Mittelschicht im Reich der Mitte

Die Reformprofiteure der vergangenen 30 Jahre haben Angst vor dem Abstieg

von Jean-Louis Rocca

Wer dazugehören will, muss in einer Metropole wie Peking leben MARK SCHIEFELBEIN/picture alliance/ap
Audio: Artikel vorlesen lassen

Der chinesischen Mittelschicht gehören je nach den zugrunde gelegten Kriterien und Schätzungen 350 bis 700 Millionen Menschen an. Sie waren die treibende Kraft hinter den radikalen Neuerungen der 1990er Jahre und stehen auch heute, im Vorfeld des 20. Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), wieder im Mittelpunkt der Herausforderungen.

Von den damaligen Reformen profitierten sie. Sie konnten studieren und fanden gut bezahlte Jobs, sie konnten ihrem Kind (damals galt noch die Ein-Kind-Politik) Bildungschancen und ein komfortables Leben bieten und außerdem Immobilienvermögen aufbauen. 87 Prozent der chinesischen Haushalte besitzen mittlerweile eine Immobilie, 20 Prozent sogar mehrere.1 Die Mittelschicht hat Zugang zu unbegrenztem, wenn auch standardisiertem Konsum. Und sie frönt einem neuen Lebensstil, der allerdings einen gnadenlosen Konkurrenzkampf mit sich gebracht hat.

Die Wirtschaftsstrategie der ­KPCh, die noch aus der Zeit vor der Amtsübernahme Präsident Xi Jinpings 2012 stammt, zielt darauf ab, die Abhängigkeit von Auslandsinvestitionen zu reduzieren und das Gewicht der export­orien­tierten Branchen mit geringer Wertschöpfung zu verringern. Im Gegenzug soll die Binnennachfrage gefördert und der Anteil der Hightech-Industrie und des Finanzwesens an der Gesamtwirtschaft gesteigert werden. Die Mittelschicht spielt darin eine zentrale Rolle: Sie soll die dringend benötigten hochqualifizierten Arbeitskräfte stellen und durch Konsum das Wachstum ankurbeln.

Damit soll sie dem einfachen Volk, also den Bauern, als Vorbild dienen. Bisher ist die Mittelschicht ein rein urbanes Phänomen. Doch nun soll auch den „Mingong“ der Aufstieg ermöglicht werden. So heißen die Wanderarbeiter vom Land, die in die Städte geströmt sind, um ihre Arbeitskraft in den Dienst des „chinesischen Wirtschaftswunders“ zu stellen. Allerdings müssten diese Menschen nach Meinung der Partei erst noch „zivilisiert“ werden. In der Logik der Regierung heißt das, ihnen ordentliches Benehmen, guten Geschmack und Höflichkeit beizubringen. Auch diese Aufgabe soll die Mittelschicht übernehmen, über den durch sie geprägten öffentlichen Diskurs und das Bildungssystem.

Und schließlich soll die Mittelschicht ein gutes Beispiel für politisches Betragen abgeben. Sie darf protestieren, aber in Maßen. Sie darf sich am beständigen Bemühen, das „gesetzmäßige System“ zu verbessern, beteiligen, solange sie nicht das politische System selbst infrage stellt. Sie muss also einerseits progressiv sein, um die Modernisierung voranzutreiben, und andererseits konservativ, um das System stabil zu halten.

Der Traum von der Ausweitung der Mittelschicht, von einer Nivellierung der Gesellschaft, ist in öffentlichen Reden omnipräsent. Dort ist dann von „bescheidenem Wohlstand“ oder einem „Wohlstand für alle“ die Rede. Doch dieser Traum kollidiert mit den aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, den gesellschaftlichen Widersprüchen und neuen kollektiven Vorstellungswelten. Dieses Phänomen, das sich seit Anfang der 2000er Jahre beobachten lässt, hat sich durch die Pandemie noch verstärkt.

Daher hinkt die Umsetzung der neuen Wirtschaftsdoktrin den Erwartungen hinterher. Vor allem werden die Hoffnungen der Menschen auf sozialen Aufstieg nicht erfüllt. Die Universitäten bilden Ab­sol­ven­t:in­nen aus, die auf einen bereits gesättigten Arbeitsmarkt strömen. Die industrielle Fertigung, Rückgrat der chinesischen Wirtschaft, scheint an ihre Grenzen zu stoßen, immer mehr Produktionskapazitäten – ob von chinesischen oder ausländischen Unternehmen – werden in andere Staaten verlagert.

Und der Bausektor, der bisher die Nachfrage gestützt hat, ist in eine Überproduktionskrise gerutscht. Menschen, die eigentlich in die Mittelschicht aufsteigen sollten, sind arbeitslos oder müssen schlecht bezahlte Jobs in der Plattformökonomie oder bei Lieferdiensten annehmen.

Es gibt kaum soziale Mobilität. Wer an die Tür der Mittelschicht klopft, findet dort nur schwer Einlass. Und wer es dorthin geschafft hat, tritt auf der Stelle. Denn die Einkommen stagnieren, während die finanziellen Belastungen zunehmen. Seit Ende der 1990er Jahre sind die Immobilienpreise explodiert. Das zwingt die junge Generation in die Verschuldung. Anders lässt sich der Traum vom Eigenheim nicht realisieren – es sei denn, die Eltern besitzen mehr als eine Immobilie.

Zudem schlagen die Bildungskosten der Kinder erheblich zu Buche. Darunter fallen die Schulgebühren und die Kosten für außerschulische Nachhilfeangebote (auch wenn die eigentlich verboten sind). In Vierteln mit guten Schulen muss man noch mehr Geld für einen Immobilienkauf hinlegen.

Um zur Mittelschicht – den „feinen Leuten“ – zu gehören, muss man zudem den Normen des guten Geschmacks genügen und den richtigen Lifestyle pflegen. Man muss die richtige Kleidung tragen, das richtige Auto fahren, im richtigen Restaurant essen gehen und in der richtigen Gegend wohnen. Wer dazugehören will, sollte außerdem Urlaub im Ausland machen, Sport treiben, auf seine Gesundheit achten und seine alten Eltern pflegen.

Die Gesundheitskosten sind in den letzten Jahren gestiegen, während die Krankenkassen immer weniger übernehmen. Der Markt für private Versicherer ist in den letzten Jahren stark gewachsen.

Angesichts der allerorten steigenden Kosten können sich Beamte sowie Angestellte von Großkonzernen zwar noch über Wasser halten, Selbstständige und Kleinunternehmer aber oft nicht mehr. Die Pandemie, die zur Isolation von Millionen Menschen geführt und zeitweise jede Mobilität unterbunden hat, brachte unzählige kleine und mittlere Unternehmen mit ohnehin niedrigen Gewinnmargen in Existenznot.

Seit der wirtschaftlichen Öffnung des Landes in den 1990er Jahren hat sich die Vorstellung durchgesetzt, jeder neuen Generation werde es besser gehen als der vorigen. Der Glaube an einen beständig wachsenden Wohlstand – oder zumindest keinen Abstieg – schwindet. Viele Menschen stecken in einer Schuldenspirale, die jedes Gefühl der Sicherheit zerstört.

Bei Immobilien wird dies besonders deutlich. Die Großeltern- und Elterngenerationen haben in diesem Bereich erhebliches Kapital gebildet. Berechnungen zufolge macht der Immobilienbesitz insgesamt 70 Prozent des Vermögens der privaten Haushalte aus.2 Diese Vermögenskalkulation ist allerdings problematisch: Sie beruht auf einem kontinuierlichen Anstieg der Preise von Neubauwohnungen, der sich auch auf das Preisgefüge der Altbauten auswirkt und der jungen Generation den Zugang zum Eigenheim versperrt. Das gilt vor allem für die großen Me­tro­polen.

Von allen Seiten wird betont, dass diese Spirale gestoppt werden muss. Doch das würde wiederum die Vermögen schmälern, die von den Haushalten zur Unterstützung der Kinder und zur Aufbesserung der unzureichenden staatlichen Renten gebildet wurden.

Besonders hart trifft es jene Familien, die Raten für noch nicht gebaute Wohnungen abbezahlen müssen, bei denen vollkommen unklar ist, ob sie je fertig werden. Die meisten dieser Bauprojekte stocken, weil den Bauträgern das Geld fehlt.

Es ist natürlich auch möglich, in eine mittelgroße Stadt mit niedrigeren Lebenshaltungskosten zu ziehen. Dort sind die Karrierechancen und die Schulen aber schlechter. Und viele würden es als sozialen Abstieg empfinden, die Metropole zu verlassen.

In der Mittelschicht spricht man nicht mehr nur im privaten Umfeld über die eigenen Sorgen. Man bringt sie auch in sozialen Netzwerken und teils in öffentlichen Aktionen zum Ausdruck. So haben sich in letzter Zeit mehrere Bewegungen gebildet, die zum Bruch mit den Normen und Werten aufrufen, die für sozialen Aufstieg um jeden Preis, permanenten Wettbewerb und Arbeitskult stehen. Die bekannteste von ihnen nennt sich „Tangping“ (Flachliegen).

Sie wirbt dafür, das von der Gesellschaft aufgezwungene Spiel nicht mehr mitzuspielen, nur so viel zu arbeiten, dass es zum Überleben reicht, nicht zu heiraten, keine Kinder zu bekommen und das Leben zu genießen. Laut dem bekannten Soziologen Sun Liping wird die Bewegungen von jungen Chi­ne­s:in­nen getragen, deren Eltern hart für den Aufbau eines ansehnlichen Vermögens gearbeitet haben. Tangping ist für ihn daher eine Luxuserscheinung.3

Andere Intellektuelle sehen die Bewegung als Ausdruck eines tiefgreifenden Unbehagens, auf das die Gesellschaft und die Partei reagieren müssen. Denn wieso sollte man das sogenannte 996-Leben – von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends an 6 Tagen der Woche arbeiten – auf sich nehmen, wenn der soziale Aufstieg ohnehin nicht mehr möglich ist?

Vor diesem Hintergrund kommt es sogar zu Demonstrationen, wie im April dieses Jahres, als fünf Regionalbanken die Guthaben von 300 000 Kun­d:in­nen einfroren. Das Geld war offensichtlich bei waghalsigen Investments im Immobiliensektor verspielt worden. Seit dem Sommer verweigern viele Chi­ne­s:in­nen Zahlungen für Wohnungen, deren Bau gestoppt wurde. 320 teil­weise seit Monaten stockende Projekte in rund 100 Städten sind davon betroffen.

An der aktuellen Situation überrascht nicht so sehr, dass der Traum vom Aufstieg für alle zu zerplatzen droht und sich die Mittelschicht auflehnt. Verblüffend ist vielmehr die Tatsache, dass die Partei das Ausmaß der Misere erkannt hat und diese einzudämmen versucht. Dass ein Teil der Jugend offenbar über zu wenig nationalistisches Bewusstsein verfügt und nicht arbeiten möchte, macht sie zwar nervös. Gleichzeitig gestattet sie aber Wis­sen­schaft­le­r:in­nen, die Schwächen der staatlichen Politik zu kritisieren.

Diese Forschenden vertreten die Meinung, die Regierung müsse die Kranken- und Rentenversicherungen besser finanzieren, gegen soziale Ungleichheit und übermäßigen Reichtum kämpfen, die Schulgebühren und Immobilienpreise senken, das Bildungssystem weniger kompetitiv gestalten und die Unternehmen zu einer arbeitnehmerfreundlicheren Haltung bewegen. Selbst einige Führungspersönlichkeiten aus der KPCh wünschen sich offenbar Reformen in diese Richtung.

Dies erklärt auch das Vorgehen Pekings bei Demonstrationen in der Provinz Henan. Bei den Protestierenden handelte es sich um Bankkund:innen, die um ihr Geld gebracht worden waren. Als die Provinzbehörden einige De­mons­tran­t:in­nen festnehmen ließen und die Gesundheitspässe von 1300 Menschen für ungültig erklärten, um sie von der Teilnahme an den Demonstrationen abzuhalten, griff die Regierung in Peking unverzüglich ein.

Die Bank­kun­d:in­nen wurden entschädigt, die verantwortlichen Bankangestellten festgenommen und Strafen gegen jene Beamte verhängt, die die Gesundheitspässe annulliert hatten. Um den Protesten den Wind aus den Segeln zu nehmen, erhielten die lokalen Behörden die Erlaubnis, sich zu verschulden, damit auf den Baustellen die Arbeit wiederaufgenommen werden konnte.

Das Thema „Mittelschicht“ wird sicher nicht explizit auf der Tagesordnung des Parteitags stehen. Es dürfte aber in allen Köpfen präsent sein und in sämtlichen Debatten mitschwingen. Egal ob es dabei um die stockende wirtschaftliche Entwicklung, um „Wohlstand für alle“ oder gesellschaftliche Stabilität geht – das Hauptaugenmerk der Regierung wird stets auf den „Wohlhabenden“ liegen.

Dabei werden die Probleme der Mittelschicht von den lokalen Behörden mitunter instrumentalisiert, um in ihrem Machtkampf mit der Zentralregierung Boden gutzumachen. Die Ämter vor Ort sollen Protestbewegungen eigentlich verhindern. Mitunter spielen sie aber auch mit der Angst der Regierung vor möglichen Ausschreitungen, um für eine Entschädigung der ohnehin schon Privilegierten zu sorgen.

Die Unzufriedenheit, die in den öffentlichen Aktionen zum Ausdruck kommt, ist weder ein Vorbote einer bevorstehenden Revolution noch deutet sie auf eine Destabilisierung des Re­gimes hin. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Machtanspruch der KPCh zugunsten einer anderen politischen Ordnung infrage gestellt wird.

Der aktuelle Gesellschaftsvertrag beruht darauf, die Alleinherrschaft der KPCh als Gegenleistung für ein mächtiges, prosperierendes China anzuerkennen. Ob sich dieser Vertrag in einer wie auch immer gearteten Marktdemokratie besser erfüllen ließe, ist fraglich. Die Bürger- und Protestbewegungen, die die Angst der Mittelschicht zum Ausdruck bringen, richtet sich eher gegen die Auswüchse einer kapitalistischen Logik als gegen das Regime. Vor diesem Hintergrund sucht die Mittelschicht nach Halt. Ihr diesen Halt zu geben, wird eine Aufgabe des anstehenden Parteikongresses sein (siehe den nebenstehenden Artikel).

1 William Clark, Huang Youqjin und Yi Diachun, „Can millennials access homeownership in urban China?“, in: Journal of Housing and the Built Environment, Springer, Berlin, Januar 2019; sowie „Multiple home ownership in Chinese cities: An institutional perspective“, in: Cities, Bd. 97, Elsevier, Amsterdam, Februar 2020.

2 Dong Dengxin, „Houses account for about 70 pct of Chinese households’ assets, putting pressure on consumption stimulation“, Global Times, Peking, 29. April 2020.

3 Sun Liping, „Tangping ereignet sich niemals am unteren Ende der Gesellschaft“ (auf Chinesisch), Weibo, 13. Juni 2021.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Jean-Louis Rocca ist Soziologe und Autor von „Class and the Chinese Communist Party“, London (Routledge) 2022.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2022, von Jean-Louis Rocca