Xi zum Dritten
Die KPCh begeht ihren 20. Parteitag – und steht vor außergewöhnlichen Herausforderungen
von Martine Bulard
Als der mächtige Gründer von Huawei, Ren Zhengfei, Ende August sagte: „Wir müssen das Überleben zu unserem Hauptziel machen“, meinte er damit vordergründig den Gewinneinbruch seines Konzerns infolge der US-Sanktionen.1 Doch im kommunistischen Führungszirkel Chinas schlug der Satz ein wie eine Bombe.
Denn dass sich ein bekannter Wirtschaftsführer öffentlich derart pessimistisch äußert, ist ungewöhnlich. Vor allem wenn sich zur gleichen Zeit hochrangige Funktionäre der Kommunistischen Partei (KPCh) im Badeort Beidaihe in Klausur befinden, um den 20. Parteitag vorzubereiten.
Der anstehende Parteitag verspricht außergewöhnlich zu werden. Grund hierfür ist weniger die runde Zahl als der Bruch mit einer langjährigen Tradition: Seit dem Tod Mao Tse-tungs 1976 durfte der Parteichef höchstens für zwei Amtszeiten im Amt bleiben. Xi Jinping soll nun allerdings zum dritten Mal zum Generalsekretär gekürt werden.
Außergewöhnlich ist auch die Vielzahl innen- und außenpolitischer Herausforderungen, mit denen das Land aktuell konfrontiert ist: Im Innern bereiten das schwächelnde Wachstum, die Null-Covid-Strategie und die Umweltverschmutzung Probleme; in der Außenpolitik sind es die abgekühlten Beziehungen zu den USA und den anderen Anrainern des Chinesischen Meers, der Krieg in der Ukraine und natürlich die Spannungen mit Taiwan.
Der 20. Parteitag findet wie immer fünf Jahre nach dem vorangegangen statt, was den 96,7 Millionen Parteimitgliedern, den 2300 Delegierten, die sich aus ganz China auf den Weg nach Peking machen werden, und dem einfachen Volk zeigen soll, dass die Staats- und Parteiführung wie ein Uhrwerk auf diesen Termin hinarbeitet.
Gäbe es noch Klärungsbedarf hinsichtlich der politischen Marschrichtung oder bei der Zusammensetzung des Führungszirkels, wäre das Treffen verschoben worden. Denn anders als im Westen oft suggeriert wird, finden im Führungszirkel der KPCh durchaus Debatten statt – hinter verschlossenen Türen zwar, aber sie sind real. Und Reibungspunkte gibt es dieses Jahr mehr, als es Xi lieb sein kann.
Insbesondere wirtschaftliche und soziale Fragen sorgen zunehmend für Spannungen. Dabei kann sich die bisherige Bilanz von Xi durchaus sehen lassen: Die chinesische Wirtschaft ist durchschnittlich um 6 Prozent jährlich gewachsen (die zweistelligen Wachstumsraten gehören der Vergangenheit an); die absolute Armut wurde beseitigt, wenngleich China laut Internationalem Währungsfonds (IWF) beim Pro-Kopf-Vermögen weltweit nur auf Platz 72 liegt; es wurde moderne und dringend benötigte Infrastruktur wie Eisenbahnstrecken, Autobahnen und Flughäfen gebaut.
Außerdem wurde die chinesische Position innerhalb globaler Wertschöpfungsketten gestärkt, so dass China heute mehr als 25 Prozent zur Wertschöpfung eines iPhones beiträgt, verglichen mit 3,6 Prozent vor 15 Jahren.2
Das iPhone-Beispiel zeigt aber auch, dass die Industrie weiter von ausländischen Technologien abhängig ist, insbesondere von in Taiwan entwickelten Halbleitern und von Software. Der von US-Präsident Trump begonnene und von seinem Nachfolger Biden verschärfte Wirtschaftskrieg gegen China hat zu einer Vielzahl von Einfuhr- und Ausfuhrverboten geführt, was die Zukunftsperspektiven merklich verdüstert. Huawei etwa, einem der weltweit führenden Anbieter von 5G-Technologie und Telekommunikationsnetzen, wurden durch die US-Sanktionen die Flügel gestutzt.
Anders als in den Medien oft behauptet wird, habe „Xi Jinping die Wirtschaft weiter für den Außenhandel und für Investitionen geöffnet“, sagt der US-Volkswirt David Dollar.3 2020 habe „China die USA als Empfänger ausländischer Direktinvestitionen überholt – mit Zuflüssen von 253 Milliarden US-Dollar gegenüber 211 Milliarden US-Dollar für die USA“.
Im Kapitalismus stehen Gewinne über ideologischen Überlegungen. Und einen Markt mit über einer Milliarde Konsument:innen lässt man nicht einfach links liegen. Das ausländische Kapital fließt in die Wirtschaftszweige mit der höchsten Wertschöpfung, den Hightech- und den Dienstleistungssektor. Derweil wandern die Montagetätigkeiten in Länder mit deutlich niedrigeren Lohnniveaus wie Vietnam, Malaysia oder Bangladesch ab.
Trotzdem schwächelt die Konjunktur. Im zweiten Quartal 2022 stagnierte die chinesische Wirtschaft fast. Das minimale Wachstum von 0,2 Prozent war der schlechteste Quartalswert seit 30 Jahren. Die Konjunkturschwäche lässt sich teilweise durch den Einbruch des Welthandels und die Null-Covid-Strategie erklären, die im Land ganze Metropolen und Regionen lahmgelegt hat. Hinzu kommt des abrupte Ende des Baubooms der letzten Jahrzehnte. Aus der entstandenen Immobilienblase möchte Peking nun behutsam die Luft lassen, bisher allerdings ohne großen Erfolg.
Zudem entfalten Investitionen in die öffentliche Infrastruktur nicht mehr die gewünschte Wirkung: Die steuer- und haushaltspolitischen Konjunkturmaßnahmen mit einem Volumen von über 500 Milliarden Euro, die die Regierung im April und Juni ergriffen hat, haben den Abschwung nicht gebremst.
David Dollar illustriert dies am Beispiel der chinesischen Staatsbahn: „Die ersten Hochgeschwindigkeitsstrecken wurden durch dicht besiedelte Gebiete gebaut und von der Bevölkerung sehr gut angenommen. In jüngerer Zeit flossen die Investitionen hingegen in den Netzausbau in dünn bevölkerten Regionen, wo die Bahn nur wenig genutzt wird.“
Die Arbeitslosigkeit hat gefährliche Ausmaße erreicht. Das gilt vor allem für junge, qualifizierte Arbeitskräfte, von denen fast ein Fünftel (19,6 Prozent) keine Beschäftigung findet. In einem Land, in dem bis vor wenigen Jahren die Ein-Kind-Politik galt, schafft das sozialen Sprengstoff.
Wackelt der chinesische Gesellschaftsvertrag – alle Macht der KPCh, die im Gegenzug das Versprechen auf eine bessere Zukunft gibt –, könnte irgendwann auch das Regime in Gefahr geraten (siehe den nebenstehenden Artikel). Daher stehen die Topfunktionäre der Partei, deren persönliches Schicksal auf dem Spiel steht, auch nicht wie ein Mann hinter den Weisungen des Vorsitzenden.
In der Taiwanfrage gilt der Präsident nicht als Falke
Taiwan ist ein weiterer Grund zur Beunruhigung. Die Unabhängigkeit Taiwans wird in der KPCh quasi einstimmig abgelehnt. Auch die Bevölkerung dürfte größtenteils so denken. Umstritten ist aber die Art, wie mit Taipeh umgegangen werden soll.
Xi tut sich nicht unbedingt als Falke hervor. Vor allem in Militärkreisen gilt er vielen als zu zögerlich. Sie rufen nach einem schnellen, harten Schlag Pekings. „Wir müssen losschlagen, bevor die USA Taiwan benutzen, um China einen Stellvertreterkrieg aufzuzwingen, so wie sie es im Fall der Ukraine mit Russland getan haben“, erklärt ein ehemaliger Offizier der Landstreitkräfte.
Andere sind zurückhaltender. Sie fordern zwar, dass China sich militärisch vorbereiten solle.4 Gleichzeitig bedauern sie aber, dass der Präsident nicht dem Vorbild Deng Xiaopings folgt und mehr Diskretion und Geduld an den Tag legt.
In den letzten Jahren hat sich die Taiwanfrage zugespitzt. Das liegt an drei Faktoren: Erstens hat Xi die Wiedervereinigung mit Taiwan in sein umfangreiches Programm zur „Revitalisierung“ der Nation aufgenommen. Taiwan wird darin als „fehlendes Teil“ betrachtet, das so schnell wie möglich wieder integriert werden muss. Dies steht im Gegensatz zur früheren Doktrin, wonach die Wiedervereinigung nur eine Frage der Zeit und deshalb kein Grund zu Eile geboten sei.
Zweitens hat man wiederum in Taiwan aus der Gleichschaltung Hongkongs gelernt. Aus ihrer Sicht verfolgt die Formel „Ein Land, zwei Systeme“, die ihnen angeblich demokratische Autonomie in Aussicht stellt, nur ein Ziel: Sie dazu zu bringen, die bittere Pille einer exzessiven Zentralisierung zu schlucken. Dieser Stimmungslage verdankt die taiwanesische Präsidentin Tsai Ing-wen die triumphale Wiederwahl im Januar 2020.
Drittens macht die US-Regierung Anstalten, von ihrer seit 1979 verfolgten Ein-China-Politik abzurücken.5 Einen Monat nach Nancy Pelosis Besuch in Taipeh kündigte die Biden-Administration Waffenlieferungen im Wert von 1,1 Milliarden US-Dollar an. Der Präsident erklärte, die Vereinigten Staaten würden die Insel verteidigen, sollte es zu einer Invasion kommen – was als Ermutigung an Taiwan interpretiert wurde, seine Unabhängigkeit zu erklären.
Am 14. September gab das aus Demokraten und Republikanern zusammengesetzte Committee on Foreign Relations des US-Senats grünes Licht für ein neues Gesetz zur Taiwan-Politik (Taiwan Policy Act). Der Gesetzentwurf umfasst Maßnahmen, die den Status quo infrage stellen. So wird die Insel darin etwa als „wichtiger Nicht-Nato-Verbündeter“ eingestuft.6 Damit erhielte Taiwan denselben Status wie Japan, Australien oder Südkorea. Außerdem sieht der Gesetzentwurf Militärhilfen („Sicherheitshilfen“) in Höhe von 4,5 Milliarden US-Dollar über einen Zeitraum von vier Jahren vor.
Das alles bestärkt Xi darin, sich der nichtwestlichen Welt und insbesondere Asien zuzuwenden. Es ist ihm zwar nicht gelungen, Washingtons militärischen und strategischen Einfluss in der Region zu beschneiden. Dafür hat China mit der Regionalen Umfassenden Wirtschaftspartnerschaft (Regional Comprehensive Economic Partnership, RCEP) das größte Freihandelsabkommen aller Zeiten unter Dach und Fach gebracht und dadurch seine Beziehungen zu den Staaten der Vereinigung südostasiatischer Länder (Asean) sowie zu Australien, Südkorea, Japan und Neuseeland gestärkt.
„2012 waren die USA der größte Markt für chinesische Exporte“, schreibt David Dollar. 19 Prozent der in China produzierten Waren gingen in die USA. Längst nehmen jedoch die RCEP-Staaten diese Rolle ein. „2019 lagen Chinas Exporte in RCEP-Länder 56 Prozent höher als seine Exporte in die USA.“ Diese wirtschaftliche Verflechtung sorgt dafür, dass die meisten Regierungen der Asean-Staaten es ablehnen, sich zwischen Washington und Peking zu entscheiden – obwohl beide Lager sie entsprechenden unter Druck setzen.
China versucht außerdem, seine Stellung in Zentralasien auszubauen. Seine erste Auslandsreise seit zweieinhalb Jahren führte Präsident Xi erst nach Kasachstan und dann ins usbekische Samarkand, wo Anfang September der Gipfel der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) stattfand. Der SOZ gehören als Vollmitglieder vier der fünf zentralasiatischen Republiken (Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan), Russland, China, Indien, Pakistan und seit diesem Jahr auch Iran an. Die chinesische Regierung führt die Schanghai-Gruppe oft als Paradebeispiel an für eine internationale Kooperation jenseits westlicher Dominanz.
Der Gipfel im September war vor allem vom russischen Krieg in der Ukraine und den Gesprächen zwischen Wladimir Putin und Präsident Xi geprägt. Die russische Invasion widerspricht dem Prinzip der Unverletzlichkeit der nationalen Souveränität, das China viel bedeutet. Entsprechend bekräftigte der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Wang Wenbin, dass China „die betroffenen Parteien zum Waffenstillstand durch Verhandlungen aufruft“.7
Außerdem torpediert der Krieg Xis Pläne für eine multipolare Weltordnung, in der die Macht Chinas anerkannt wird. Peking möchte sich weder komplett vom Westen entfremden noch zulassen, dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten Russland wirtschaftlich und diplomatisch kaltstellen. Hier die Balance zu halten, ist schwierig.
Wie diese Balance aussehen soll, darüber wird in der KPCh leidenschaftlich diskutiert. Führende Persönlichkeiten aus der Partei haben die aktuellen Entscheidungen offen kritisiert. Die Kritik beschränkt sich aber nicht auf die Beziehungen zu Russland, sondern betrifft mittlerweile verschiedenste Aspekte des gesellschaftlichen Lebens.
Weshalb die verschärfte Repression und Zensur nicht in der Lage ist, die Kritiker zum Schweigen zu bringen, erklärt der Soziologe Sun Liping. In einem Beitrag mit dem vielsagenden Titel „Warum sich Schafe nicht gern anbinden lassen“ schreibt er: „Schauen Sie sich an, wie glücklich ein Schaf ist, wenn es losgebunden wird. Dann verstehen Sie, wie ungern sich Schafe anbinden lassen.“8
Man wird sehen, ob sich die Delegierten des 20. Parteitags als gute Hirten erweisen.
1 Jeff Pao, „Huawei’s profits collapse as US sanctions bite“, Asia Times, 27. August 2022.
4 David Ownby, „Zhao Yanjing on the war in Ukraine“, Reading the China Dream, September 2022.
5 Siehe Michael T. Klare, „Kurswechsel in der Taiwanfrage?“, LMd, September 2022.
6 „The Taiwan Policy Act of 2022“, US-Senat, 14. September 2022.
Aus dem Französischen von Markus Greiß