13.10.2022

Die Spur des Goldes in Surinam

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Die Spur des Goldes in Surinam

von Hélène Ferrarini

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Wir stehen in einer Mondlandschaft. Der Wald wurde „zerschlagen“, wie es hier heißt. In einer der zehn Meter tiefen Gruben arbeiten Männer in Overknee-Stiefeln. Mit Kopfbedeckungen und langärmligen Shirts schützen sie sich vor der sengenden Sonne. Sie brauchen ihr volles Körpergewicht, um die Wasserspritzen zu halten, deren mächtiger Strahl den Boden in weißlichen Schlamm verwandelt.

In einer zweiten Grube kommt das Wasser zur Ruhe; es hat eine seltsam türkise Farbe angenommen. Boke A. leitet diese Goldmine im Herzen des Amazonas-Urwalds, wo etwa 30 Männer schuften. Wenn es 1986 nicht zum Krieg gekommen wäre, hätte er wahrscheinlich Elektrotechnik studiert und würde gar nicht hier arbeiten, erzählt er uns.

Boke war 11 Jahre alt, als der Surinamkrieg ausbrach. Seine Familie floh aus ihrem Dorf am Ufer des Maroni in ein Flüchtlingslager in Französisch-Guayana auf der anderen Seite des Grenzflusses. Als Boke in den 1990er Jahren nach Surinam zurückkehrte, war er zu alt, um zu studieren, und heuerte wie viele junge Männer aus der Re­gion in einer Goldmine an. Seine ersten Sporen verdiente er sich bei der gefährlichen Knochenarbeit in der Grube, dann wurde ihm die Leitung einer Mine anvertraut – von Investoren, die sicherlich noch nie eine solche Grube zu Gesicht bekommen haben.

Geschichtlich und kulturell gehört der nach Fläche und Einwohnerzahl (600 000) kleinste Staat Südamerikas zum Karibikraum. 80 Prozent des gesamten Territoriums sind dicht bedeckt von tropischem Regenwald. In einem schmalen sumpfigen Küstenstreifen liegt die Hauptstadt Surinam. Hier, an der Mündung des Surinam-Flusses, steht auch das ehemalige Fort Zeelandia aus der niederländischen Kolonialzeit. Heute befindet sich darin ein Museum. In der obersten Etage des roten Klinkerbaus ist eine Dauerausstellung über die jüngere Geschichte Surinams zu sehen. Auf Niederländisch, das immer noch als Amtssprache fungiert, erinnert eine Tafel an die „Revolutionäre Phase“ nach dem Staatsstreich vom 25. Februar 1980, fünf Jahre nach der Unabhängigkeit.

Einen Monat vor den Wahlen, die am 27. März 1980 hätten stattfinden sollen, hatte eine Gruppe von Unteroffizieren der neu gegründeten surinamischen Armee die Macht übernommen. Offiziell wollten sie gegen Korruption und Arbeitslosigkeit vorgehen, die 1977 bei 18 Prozent lag, und Ordnung in die Verwaltung bringen. Aber „ihre politischen Absichten blieben vage“, schreibt die Historikerin Rosemarijn Hoefte. „In der Vorbereitung des Staatsstreichs gab es keinerlei Grundsatzdiskussionen.“1 Innerhalb der Armee hatte sich eine Gewerkschaft gegründet, die jedoch von der Regierung nicht anerkannt wurde; drei Unteroffiziere, die später zu den Putschisten gehörten, drohte ein Prozess vor dem Militärgericht.

Die Erläuterungen auf der Ausstellungstafel verzetteln sich in zahlreichen Windungen, um schließlich festzustellen, dass das Anfang der 1980er Jahre etablierte Regime nicht wirklich demokratisch war. In einem Nebensatz werden die „Dezembermorde von 1982“ erwähnt: die Verhaftung und Exekution von 15 oppositionellen Journalisten, Gewerkschaftern, Anwälten und Wissenschaftlern, die sich gegen die Militärregierung gestellt hatten. Auf der Tafel steht allerdings nicht, dass der Oberbefehlshaber und Chef des Militärregimes, Desiré „Desi“ Bouterse, dafür die Verantwortung trug. Auch der Ort des Massakers wird nicht genannt. Dabei steht man hier direkt an Ort und Stelle, denn die Exekutionen fanden im Fort Zeelandia statt, das damals noch als Kaserne und Gefängnis diente.

Der Ex-Diktator Desi Bouterse ist immer noch sehr mächtig. Von 2010 bis 2020 war er Präsident und demokratisch gewählt. Schon vor seiner Amtszeit wurde ein Prozess zur Aufklärung der Dezembermorde eingeleitet. Das Militärtribunal befand Bouterse schließlich 2019 für schuldig und verurteilte ihn zu 20 Jahren Haft. Die Strafe wurde im August 2021 in nächster Instanz bestätigt, aber Bouterse konnte nicht inhaftiert werden, weil er Berufung eingelegt hatte. Zwei antagonistische Kräfte stehen sich seitdem in Surinam gegenüber: Auf der einen Seite bemühen sich einige Beamte um den Aufbau eines Rechtsstaats, auf der anderen steht der übermächtige ehemalige Diktator, dessen Verbindungen zum internationalen Drogenhandel allgemein bekannt sind.

Nach den Dezembermorden stellten die Niederlande ihre Wirtschaftshilfe für die ehemalige Kolonie ein, die sich auf etwa 100 Millionen US-Dollar pro Jahr belief. Als zur selben Zeit auch noch der Weltmarktpreis für das Aluminiumerz Bauxit einbrach – Surinam ist einer der weltweit größten Bauxit-Exporteure –, stürzte das Land, dessen Einkünfte sich damals zu 80 Prozent aus diesen beiden Quellen speisten, in eine tiefe Wirtschaftskrise.

Das Jahr 1982 war geprägt von zahlreichen Streiks. Die Armee verlor ihren Rückhalt in der Bevölkerung, die zwei Jahre zuvor den Putsch noch weitgehend willkommen geheißen hatte. Die Militärs hielten sich mit Gewalt an der Macht und Bouterse stieg zur zentralen Figur auf.

Desi Bouterse hatte in der niederländischen Armee als Feldwebel gedient, bevor er mit der Unabhängigkeit 1975 nach Surinam zurückkehrte, um die dortigen Streitkräfte aufzubauen. Nachdem er an die Macht gekommen war, schloss er sich zunächst der Bewegung der Blockfreien Staaten an, um dann in schneller Folge seinen außenpolitischen Kurs immer wieder zu ändern. Im Januar 1983 schmiss er die US-Diplomaten wegen „destabilisierender Aktivitäten“ aus dem Land. Er warf ihnen vor, „die konservativen Gewerkschaften des Landes zu unterstützen und bei der Organisation regierungsfeindlicher Demonstrationen und Streiks, mit denen die Regierung gestürzt werden soll, eine Schlüsselrolle zu spielen“.2

Dann ging er auf Distanz zu Kuba, einem bis dahin engen Verbündeten. Im Herbst 1983 wurden auch die kubanischen Vertreter vor die Tür gesetzt, nachdem die USA in Grenada einmarschiert waren und dessen sozialistischer Pre­mier­minister Maurice Bishop hingerichtet worden war. Alles Schritte, die laut dem niederländischen Historiker Gert Oostindie vor allem dazu dienten, „zu verschleiern, dass man um jeden Preis an der Macht bleiben wollte“.3

Mit einem bewaffneten Angriff auf einen Militärposten begann 1986 der Surinamkrieg. Angeführt wurden die Angreifer von dem 25-jährigen Ronnie Brunswijk, einem ehemaligen Leibwächter von Bouterse, der von Regimegegnern unterstützt wurde, die in die Niederlande geflohen waren. Seine Guerilla nannte sich „Jungle Commando“. Sie bestand zum großen Teil aus Maroons (auch Marrons), Nachfahren von zu Kolonialzeiten entflohener Sklavinnen und Sklaven, zu denen auch Brunswijk selbst zählte. Bereits im 18. Jahrhundert hatten sie in Surinam einen Friedensvertrag erkämpft, der ihnen das Recht auf ein freies Leben in den Wäldern zusicherte – ein Jahrhundert vor Abschaffung der Sklaverei.

In den 1980er Jahren bildeten die Marrons die viertgrößte Bevölkerungsgruppe in Surinam: Sie stellten 10 Prozent der Einwohnerschaft, nach den indischstämmigen Hindustan:in­nen (37 Prozent), den Kreo­l:in­nen (30 Prozent) und Ja­va­ne­r:in­nen (16 Prozent), deren Vorfahren in verschiedenen Wellen in die niederländische Kolonie gekommen waren. In den Augen der Armee standen bald alle Maroons unter Verdacht, die Guerilla zu unterstützen. „Der Konflikt entwickelte sich zum ethnischen Krieg“, erklärt die Historikerin Rosemarijn Hoefte. Im November 1986 kam es zu einem Massaker an der Zivilbevölkerung in dem Maroon-Dorf Moiwana. Danach flohen mehrere tausend Maroons nach Französisch-Guayana.

Französisch-Guayana, das mit Surinam eine 520 Kilometer lange Flussgrenze teilt, bot sich als Vermittler an. Nach einem ersten gescheiterten Versuch 1989 wurde 1992 in Kourou ein Friedensabkommen zwischen der Regierung und dem Jungle Commando geschlossen. In der Grenzstadt Saint-Laurent-du-Maroni ist die Erinnerung an den Konflikt immer noch lebendig: „Warum spricht man von Bürgerkrieg? Das waren nicht zwei Gruppen, die sich gegenseitig bekämpften. Das war die Armee gegen das Volk. Wie nennt man das?“, schimpft der Sänger und Musiker Prince Koloni, der am Maroni-Fluss an einem mobilen Stand Essen verkauft. Im Französischen war vielleicht etwas voreilig von „Bürgerkrieg“ (guerre civile) die Rede, während man im Niederländischen von einem binnenlandse oor­log sprach, was so viel wie „Krieg im Landesinneren“ bedeutet. Die englischsprachigen Historiker nennen den Konflikt entsprechend meist interior war.

Wie seine Nachbarstaaten im Bergland von Guayana ist auch Surinam geografisch zweigeteilt: Die Bevölkerungsmehrheit lebt an der Küste, während das tropische Hinterland nur dünn besiedelt ist. So nimmt der Distrikt Sipaliwini zwar 80 Prozent der Landesfläche ein, zählt aber offiziell nur 30 000 Ein­woh­ne­r:in­nen, die sich auf kleine indigene und maroonische Dörfer verteilen. Man erreicht sie am besten per Boot. Flüsse sind die wichtigsten Verkehrsadern ins Landesinnere.

Laut Jerome Egger, der die Historische Fakultät an der Universität Surinam leitet, waren das Bildungssystem und die Gesundheitsversorgung im Hinterland vor 1986 in einem relativ guten Zustand. Die niederländischen Kolonialbehörden hatten dort mit Unterstützung christlicher Missionare Schulen und Krankenstationen errichtet. Diese Infrastruktur wurde im Krieg zerstört.

Das Dorf Benanoe ist der Heimatort der Njuka-Maroons. Man erreicht es nach mehreren Stunden Fahrt in einer Piroge auf dem Tapana­ho­ny, einem Zufluss des Maroni. Mehrere Dutzend traditioneller Häuser mit ornamentalen Schnitzereien an den Holzfassaden stehen neben gemauerten Gebäuden jüngeren Datums mit Blechdach. Heute ist das Dorf weitgehend verlassen. Die Bewohnerinnen und Bewohner sind während des Kriegs nach Paramaribo oder nach Französisch-Guayana geflohen.

Die Männer waren schon vor dem Krieg häufig weggegangen, um als Pirogenfahrer oder Holzfäller zu arbeiten oder in den 1960er Jahren auf dem Bau des Weltraumbahnhofs in Kourou in Französisch-Guayana. Nach Kriegsausbruch verließen dann auch ihre Frauen und Kinder die Dörfer. Seitdem leben in der Hauptstadt mehr Maroons als im Hinterland.4

Die einzige Hinterlassenschaft der öffentlichen Hand in Benanoe ist ein dieselbetriebenes Stromaggregat. Abends liefert es ein paar Stunden Strom für die wenigen Menschen, die noch im Dorf leben: ein Paar auf der Durchreise, zwei ältere Menschen und der Dorfvorsteher, der mit der Piroge zwischen Benanoe und seinem Arbeitsort, einem Goldgräbercamp, pendelt.

„Alle Njuka-Männer arbeiten irgendwann in ihrem Leben als Goldgräber“, erzählt Léo, der zwei verschiedene Nachnamen hat – in seinem surinamischen Pass heißt er Dikan, im französischen Foué. Auch die Frauen sind im Umfeld der Goldschürferei beschäftigt. An die Stelle der Subsistenzwirtschaft ist die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen getreten: Neben dem Goldabbau wird auch Holz geschlagen, chinesische Konzerne haben dafür die Konzessionen erworben.

Wenn man heute den Maroni oder den Tapanahony hinauffährt, ist die Goldwirtschaft allgegenwärtig. Auf den handgeschriebenen Werbetafeln der kleinen Läden auf Stelzen sind die Preise für Benzin in Gramm Gold angegeben. Je weiter man den Fluss hinaufkommt, desto höher der Preis – immer gemessen in Goldstaub.

„Es gibt eine Verbindung zwischen dem Goldabbau und dem Krieg“, sagt der Rohstoffökonom René Artist, der das geologische Institut an der Universität Surinam leitet. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird hier Gold geschürft, doch erst in den 1980er und 1990er Jahren führten die Garimpeiros, brasilianische Goldsucher, eine Technik ein, mit der man in größerem Umfang neue Vorkommen erschließen konnte. Staatliche Akteure wagten sich damals nicht mehr ins Landesinnere, das wegen der Guerilla als zu gefährlich galt, und überließen das Gebiet damit komplett den Goldschürfern.

Heute schätzt man, dass etwa 20 000 Brasi­lia­ner und 10 000 Maroons im Urwald nach Gold graben, hinzu kommen zwei Minen der multinationalen Konzerne Iamgold und Newmont. Artist erklärt, es gebe überhaupt keine staatlichen Kon­trol­len zum Goldabbau, die Konzessionen werden nicht erfasst, Steuern nicht gezahlt. „Regierungsmitglieder, die einflussreichen Leute im Land, alle haben ins Goldgeschäft investiert. Das tun sie natürlich nicht direkt, sie haben ihre Verbindungsleute.“ Auch Ronnie Brunswijk, der Anführer des Jungle Commando, setzte nach dem Krieg auf Gold und ließ sogar im geschützten Naturpark Brownsberg danach graben.

In dieser Zeit verschob sich auch Surinams Sozialstruktur. Die Mittelklasse bröckelte, dagegen kamen Einzelne zu enormem Reichtum. „Zur Jahrtausendwende lebten mindestens 60 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, Ende der 1960er Jahre nur 21 Prozent“, berichtet die Historikerin Hoefte. „Die Staatsbediensteten wurden an den Rand gedrängt, während eine kleine Gruppe von Personen, die inter­na­tionalen Handel und Devisengeschäfte betrieben, eine neue Businesselite bildeten; manche handelten auch mit Drogen und Waffen.“ Meist handelte es sich dabei um Militärs oder Menschen aus deren Umfeld.

Neben dem Goldabbau bildete sich in den 1980er Jahren ein weiterer lukrativer Sektor heraus: Surinam wurde zur Drehscheibe des Ko­kain­han­dels, was zu einem Anstieg von Korruption und Kriminalität führte. „Die Einkünfte aus dem Kokainschmuggel und die Schutzgelder, die sich aus dem sich immer weiter ausdehnenden Schwarzmarkt generieren ließen, ersetzten dem Militärregime allmählich die weggefallenen Wirtschaftshilfen aus den Niederlanden“, schreibt Richard Price. Ab 1983 wurden Kontakte zum Medellín-Kartell in Kolumbien geknüpft. Auch das Jungle Commando konnte auf den Kokainschmuggel zurückgreifen, um den Guerillakrieg zu finanzieren.5

Für die Schmuggler seien die Bedingungen ideal gewesen, erzählt Egger: „Es gab praktisch keine Kontrolle im Landesinneren, die Grenzen waren offen, Flugzeuge kamen aus Venezuela oder Kolumbien“. Surinam, dessen Grenze zu Brasilien mitten durch den tropischen Regenwald verläuft, war das perfekte Transitland zwischen den Koka-Anbauländern Kolumbien, Peru und Bolivien und dem europäischen Markt, den man über die große surinamische Exilgemeinde in den Niederlanden erschließen konnte. Über die Atlantikküste sind auch die Karibik, die USA und neuer­dings Westafrika gut erreichbar.6

Mit dem Friedensabkommen von 1992 wurden die Claims für den Drogenschmuggel offenbar zwischen den beiden Kriegsherren aufgeteilt: Guerillaführer Brunswijk erhielt den Westen, Regierungschef Bouterse den Rest des Landes.7 Die niederländische Justiz hatte beide in den 1990er Jahren in Abwesenheit wegen Drogenhandels verurteilt, internationale Haftbefehle lagen vor. Doch nachdem der bewaffnete Konflikt beendet war, gingen die beiden in die Politik.

Desi Bouterse gründete 1987 die Nationaldemokratische Partei (NDP), nachdem er die Macht offiziell abgegeben hatte, um demokratische Wahlen zu ermöglichen, und eine neue Verfassung verabschiedet worden war. Die NDP stellte von 1996 bis 2000 die Parlamentsmehrheit. Der ehemalige Diktator wurde zum „Sonderberater der Regierung“ ernannt und erhielt damit diplomatische Immunität, die ihn vor dem Zugriff durch Interpol schützte.

2010 wurde Bouterse Präsident. Er stand an der Spitze eines breiten Bündnisses und genoss sogar die Unterstützung seines ehemaligen Feindes Ronnie Brunswijk, der seinerseits in den 1990er Jahren in die Volkspartei zur allgemeinen Befreiung und Entwicklung (ABOP) eingetreten war und 2000 als Abgeordneter ins Parlament einzog.

Während seiner Präsidentschaft (2010–2020) hievte Bouterse mehrere Gefolgsleute, die nachweislich in den Drogenhandel verstrickt waren, in Machtpositionen. Étienne Boerenveen etwa, ehemals seine rechte Hand, war in den USA zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden, kehrte nach seiner vorzeitigen Entlassung nach Surinam zurück und wurde zum Oberst befördert. Anschließend wurde er Aufsichtsratsvorsitzender der nationalen Ölgesellschaft Staatsolie.

Seinen Sohn Dino ernannte Bouterse zum Chef der nationalen Antiterroreinheit. Zuvor war Dino Bouterse als Diplomat in Brasilien, das ihn wegen Verwicklung in Kokaingeschäfte ausgewiesen hatte. Aktuell sitzt Dino Bouterse in den USA eine 15-jährige Haftstrafe wegen illegalen Drogen- und Waffenhandels ab. Agenten der US-Drug-Enforcement-Administration (DEA) waren ihm auf die Schliche gekommen.8

Douglas Farah und Kathryn Babineau schrieben 2017 in einem Bericht für das Center for a Secure Free Society, ein Thinktank für Sicherheitsfragen: „Die Regierung von Desi Bouterse hat sich in eine vertikal integrierte, kriminelle Organisa­tion verwandelt, die vom internationalen organisierten Verbrechen profitiert und Kriminelle in staatliche Institutionen einbindet.“ Sie betrachten Surinam als „kriminalisierten Staat“ (criminalized state), „der illegale Transaktionen deckt und als sicherer Hafen für die internationale Organisierte Kriminalität dient“.9

Als die Fortschrittliche Reformpartei (VHP) 2020 die Wahlen gewann, wurde Chandrikapersad „Chan“ Santokhi Präsident, der unter Ronald Venetiaan von 2005 bis 2010 Justizminister gewesen war. Auch wenn er stets als Gegner Bouterses auftrat, ist doch die Frage, ob er tatsächlich eine Veränderung im Land bewirken kann.

Es zeichnen sich im Gegenteil bereits Kontinuitäten zwischen der alten und der neuen Regierung ab. Im November 2021 stattete Santokhi dem Edelmetallproduzenten Kaloti einen Besuch ab. Unter Bouterse hatte der surinamische Staat ein Joint Venture mit Kaloti Precious Metals aus den Vereinigten Arabischen Emiraten gegründet, um eine Goldraffinerie mit einer Kapazität von 60 Tonnen pro Jahr zu errichten. Diese Menge überschreitet bei weitem die aktuelle Goldproduktion des Landes, das zudem keine guten Verbindungswege zu anderen südamerikanischen Abbauregionen unterhält.

Eine Recherche des US-Journalisten und Sicherheitsberaters Douglas Farah legt den Schluss nahe, dass diese Raffinerie nie gebaut wurde, obwohl Surinam und Kaloti dies behaupten. Ihre Existenz auf dem Papier diente lediglich dazu, echte oder vermeintliche Goldexporte zu zertifizieren – und damit ein Geldwäschesystem unter staatlicher Bürgschaft zu installieren, in dem der Goldsektor als Fassade für organisierte Kriminalität herhalten muss.10

Als Santokhi sein Amt als Präsident annahm, distanzierte er sich sogleich vom Erbe seines Vorgängers und strich den 25. Februar als Feiertag zur Erinnerung an den Staatsstreich von 1980. Neben den üblichen christlichen und hinduistischen Festtagen gibt es in Surinam drei Feiertage für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen: Am 9. Juli wird der Tag der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1863 begangen, am 9. August der Tag der indigenen Völker und am 10. Oktober ist der Tag der Maroons, zur Erinnerung an den ersten Friedensvertrag zwischen der Kolonialmacht und den entflohenen Sklaven vom Stamm der Ndyuka im Jahr 1760.

Der einzige Feiertag, unter dem sich die ganze Nation versammeln könnte, ist neben dem Tag der Arbeit am 1. Mai der Unabhängigkeitstag am 25. November. Doch selbst darüber herrscht Uneinigkeit. Die Befreiung von der niederländischen Vorherrschaft war vor allem ein Wunsch der kreolischen Bevölkerung. Die politischen Parteien der Hin­du­sta­n:in­nen und Ja­va­ne­r:innen waren dagegen gewesen, weil sie fürchteten, an den Rand gedrängt zu werden. Ihr Negativbeispiel waren die Zustände im benachbarten Guyana, wo seit der Unabhängigkeit von 1966 die Einwanderungsgruppen aus Indien und Afrika um die Macht rangen.

Die Verfassung von 1987, die am Ende der Militärdiktatur verabschiedet wurde, verbietet es Parteien, sich durch ihren Namen als Vertreterin einer bestimmten ethnischen Gruppe auszuweisen. Daraufhin änderten die Parteien zwar ihre Namen, behielten aber die traditionellen Abkürzungen bei. Die Partei der Hindustanen, die Verenigde Hindoestaanse Parti, nannte sich fortan Fortschrittliche Reformpartei (Vooruit­stre­ven­de Hervormingspartij), abgekürzt wurde sie aber weiterhin mit VHP. Auch das Logo mit dem orange­farbenen Elefanten wurde beibehalten. „Hier in Surinam stimmen wir gern für jemanden, der uns äußerlich ähnelt, also nach ethnischen Kriterien“, erklärt Egger.

So wurde auch 2020 gewählt. Der VHP-Vorsitzende Santokhi konnte sich auf die inzwischen größte Bevölkerungsgruppe seines Landes stützen, der er auch selbst angehört. Er schloss eine Koalition mit der Algemene Bevrijdings- en Ontwikkelingspartij (ABOP) des früheren maroonischen Kriegsherrn Ronnie Brunswijk, der zum Vizepräsidenten ernannt wurde. Die Maroons bilden inzwischen mit einem Anteil von 22 Prozent die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe.

Doch das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler in die Politik ist insgesamt gering. „Jeder will doch nur seine Taschen füllen“, meint Prince Koloni. „Die Korruption hat mehr Leute auf dem Gewissen als der Krieg. Der hat nämlich nur ein paar Jahre gedauert, aber die Korruption dauert an. Und deshalb funktionieren die Krankenhäuser nicht.“

In der Schule steht zwar Geschichte auf dem Lehrplan, aber „manche Lehrer zögern, wenn sie die Geschichte Surinams nach 1980 unterrichten sollen“, sagt Egger. „Wie stellt man Bouterse dar – als Diktator, Präsident oder Drogenschmuggler? Und was ist mit Brunswijk, ist er Guerillakämpfer oder Vizepräsident?“ Das Wissen um die jüngste Geschichte des Landes bleibt daher ebenso trübe wie der von den Wasserspritzen aufgewirbelte Schlamm in der Goldgrube.

1 Rosemarijn Hoefte, „Surinam in the Long Twentieth Century: Do­mination, Contestation, Globalization“, New York (Palgrave Macmillan) 2014. Alle weiteren Zitate der Autorin stammen ebenfalls aus diesem Buch.

2 Zitiert nach William Blum, „Killing hope. US military & CIA interventions since World War II“, London (Zed Books) 2003.

3 Gert Oostindie, „The Dutch Caribbean in the 1990s: Decoloniza­tion, recolonization?“, in: Annales des Pays d’Amérique Latine et des Caraïbes, Aix-en-Provence 1992.

4 Richard Price, „The Maroon Population Explosion: Surinam and Guyane“, in: New West Indian Guide, Leiden 2013.

5 Richard Price, „Peuple saramaka contre État du Surinam, combat pour la forêt et les droits de l'homme“, IRD-Karthala-CIRESC, Paris 2013.

6 David Weinberger, „Les routes de la cocaïne des trois Guyanes: vecteurs d’instabilité géopolitique régionale ou globale?“, Observatoire des criminalités internationales de l’Institut de relations internationales et stratégiques, Paris, September 2020.

7 Collectif Mama Bobi und Joël Roy, „Peuples en marronnage. Le Surinam: contraintes économiques et démocratie 1760–1990“, Paris (L’Harmattan) 2020.

8 „Le Surinam, plateforme transcontinentale de la cocaïne“, Webdokumentation von Radio France Internationale, 3. März 2015.

9 Douglas Farah und Kathryn Babineau, „Surinam: The New Paradigm of a Criminalized State“, Center for a Secure Free Society, Global Dispatch Issue 3, Washington, D. C., März 2017.

10 Kyra Gurney, „US Treasury Department abandoned major money laundering case against Dubai gold company“, International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ), Washington, D. C., 21. September 2020.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Hélène Ferrarini ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2022, von Hélène Ferrarini