Kiews falsche Freunde
Seit 2009 hat die EU die Ukraine in ihr Projekt der „Östlichen Partnerschaft“ eingebunden, um das Land dem russischen Einfluss zu entziehen. Von der zunehmenden wirtschaftlichen Integration werden aber nicht alle profitieren.
von Pierre Rimbert
In der Entwicklung des russisch-ukrainischen Konflikts spielte das sogenannte Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine eine zentrale Rolle.1 Die Verhandlungen zu dem Abkommen begannen Anfang der 2000er Jahre. Ende 2013 wollten beide Seiten unterzeichnen. Doch unter dem Druck Moskaus machte der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch unerwartet einen Rückzieher.
Seine Ablehnung gehörte zu den Auslösern des Aufstands auf dem Maidan, der wenige Wochen später zum Sturz der Regierung führte. Im Februar 2014 wurde sie durch eine proeuropäische Regierung ersetzt. Gleichzeitig annektierte Russland die Krim (Februar/März), und im Donbass wurden die Volksrepubliken Donezk und Lugansk proklamiert (April/Mai).
Das Assoziierungsabkommen, das der neu gewählte ukrainische Präsidenten Petro Poroschenko schließlich im Juni 2014 unterzeichnete, fügt sich in den Rahmen der „Östlichen Partnerschaft“ der EU. Dabei handelt es sich um eine von Polen angeregte außenpolitische Initiative Brüssels, mit dem Ziel, den Einfluss der EU und die Zusammenarbeit mit den Staaten der früheren Sowjetunion zu stärken und sie enger an den Westen zu binden: Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und die Ukraine.
Nur die drei Letztgenannten führten ernsthafte Verhandlungen und schlossen 2014 mit der EU Assoziierungsabkommen. Unter ihnen war die Ukraine natürlich das Schwergewicht. Die Ausrichtung ihrer Außen- und Wirtschaftspolitik beruhte auf einem schwierigen Balanceakt zwischen Russland und Europa.2
Seit dem Gründungsgipfel der „Östlichen Partnerschaft“ im Mai 2009 in Prag, der vor dem Hintergrund von Spannungen um russische Gaslieferungen und nur ein Jahr nach dem russisch-georgischen Krieg stattfand, setzte Polen darauf, dass der Annäherungsprozess in die EU-Mitgliedschaft der Ukraine münden würde. Der Wunsch, das Land dem russischen Einfluss zu entziehen, bestimmt die polnische Politik seit Jahrzehnten.3 Bereits vor dem eigenen EU-Beitritt 2004 plädierte Warschau für die Aufnahme der Ukraine. Frankreich und Deutschland waren zurückhaltender.
Am 1. September 2017 trat das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU in Kraft, begleitet von einem Hilfsprogramm im Umfang von 11 Milliarden Euro für den Zeitraum 2014 bis 2020. Mit Anhängen umfasst es insgesamt 2135 Seiten, und selbst die meisten Interessierten dürften nicht über die Lektüre der einleitenden Binsenwahrheiten von Frieden, nachhaltiger Entwicklung, Transparenz, Zivilgesellschaft und „interkulturellem Dialog“ hinausgekommen sein.
Wer genauer hinsieht, stellt fest, dass sich das Abkommen durchaus als Dokument einer freiwilligen Unterwerfung lesen lässt. Das erklärte Ziel ist in erster Linie eine „vertiefte und umfassende Freihandelszone“ nach dem Muster des Allgemeines Zoll- und Handelsabkommens (Gatt) von 1994. Auf ganz klassische Art verpflichten die Artikel über den Handel die Ukraine, die meisten Schranken für den freien Wettbewerb (Subventionen, Normen und Ähnliches) zu beseitigen.
Doch das Entscheidende steht an anderer Stelle: Um Beziehungen zu entwickeln, die sich „auf die Grundsätze der freien Marktwirtschaft stützen“ (Art. 3.), ist die Ukraine „bestrebt, ihre Politik im Einklang mit den Leitprinzipien der makroökonomischen Stabilität, solider öffentlicher Finanzen und einer dauerhaft finanzierbaren Zahlungsbilanz schrittweise an die Politik der EU anzunähern“ (Art. 343). Der einzige erlaubte Weg ist also die Sparpolitik.
Die Ukraine wird „die administrativen und institutionellen Reformen vornehmen, die notwendig sind, um dieses Abkommen umzusetzen“ und das dafür „erforderliche wirksame und transparente Verwaltungssystem bereitstellen“(Art. 56). Von der Etikettierung im Supermarkt über das Tiefkühlverfahren für Gemüse bis zur Liberalisierung der öffentlichen Einrichtungen, der freien Kapitalzirkulation und der geschützten Herkunftsbezeichnung für Roquefort-Käse: Überall diktieren die Funktionäre aus Brüssel ihrem „Partner“ den juristischen Rahmen.
Dazu gehört auch die Verpflichtung, das „Lobbying“ zu legalisieren: Die Vertragspartner kommen überein, „dass es notwendig ist, rechtzeitig und regelmäßig mit Vertretern des Handels Konsultationen über Vorschläge für zoll- und handelsrechtliche Vorschriften und Verfahren aufzunehmen“ (Art. 77b). Kurz gesagt, die gesamte Gesetzgebung der Ukraine wird umgestaltet, obwohl die EU-Kandidatur der Ukraine zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens noch gar nicht auf der Tagesordnung stand.
Man muss kein schlauer Stratege sein, um die geopolitischen Absichten des Textes zu erkennen: In Artikel 7 wird die „schrittweise Annäherung im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ betont. Und im Kapitel „Zusammenarbeit im Energiebereich einschließlich Nuklearfragen“ steht die Empfehlung der „Diversifizierung der Energiequellen, -lieferanten, -transportwege und -transportverfahren“ (Art. 338c) – an ein Land, das zumindest zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens in diesem Bereich weitgehend von Russland abhängig war. Kein Wunder also, dass Moskau das Abkommen als Kampfansage betrachtete.
Andere Artikel klingen noch aggressiver: „Die Ukraine setzt schrittweise den Bestand an europäischen Normen in nationale Normen um. Im Zuge dieser Umsetzung nimmt die Ukraine zugleich widersprüchliche nationale Standards zurück, einschließlich ihrer Anwendung vor 1992 ausgearbeiteter zwischenstaatlicher Normen (Gost/Гост)“ (Art. 56–58). Dahinter verbergen sich alle aus der Sowjetunion übernommenen Normen. Mit anderen Worten, das Abkommen legt fest, dass die Ukraine ihre Wirtschaft „entrussifiziert“.
Die Janukowitsch-Regierung (2010–2014), die das Abkommen aushandelte, wollte einen Anker nach Westen auswerfen, um die Abhängigkeit von Russland auszugleichen, ohne den großen Nachbarn jedoch zu verärgern oder gar mit ihm zu brechen. Russland allerdings widersetzte sich entschieden der „Östlichen Partnerschaft“ der EU und zwang die Ukraine Ende 2013, das Abkommen nicht zu unterzeichnen. Stattdessen warb Moskau für die eigene Zollunion der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft, die 2015 durch die Eurasische Wirtschaftsunion ersetzt wurde.
Beide Integrationsmodelle beruhten auf gegensätzlichen Grundlagen (Wettbewerb und Marktwirtschaft auf einer Seite, oligarchischer Kapitalismus auf der anderen) und gingen von unterschiedlichen Normen aus, waren also inkompatibel. Die Ukraine, geografisch zwischen der EU und dem eurasischen Raum gelegen, wurde von beiden mächtigen Nachbarn mit ihren gegensätzlichen Interessen bedrängt und tat sich schwer, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Das Ultimatum aus Moskau und der Aufstand gegen die Janukowitsch-Regierung auf dem Maidan gaben schließlich den Ausschlag: Die Ukraine nahm den Weg nach Westen.
Die geopolitischen und militärischen Folgen dieser Entscheidung sind heute unübersehbar, doch die sozialen Kosten des Assoziierungsabkommens bleiben ein Tabu. Als Vorbild dient die jahrzehntelange Entindustrialisierung, die die europäische Arbeiterklasse in den 1980er und 1990er Jahren erlebte: „Modernisierung und Umstrukturierung der ukrainischen und der EU-Industrie in bestimmten Bereichen“ (Art. 379g); „Umstrukturierung des Kohlesektors“ (Art. 339), der für die Wirtschaft des Donbass entscheidend ist; „Umstrukturierung und Modernisierung des Verkehrssektors der Ukraine“ (Art. 368); Abschaffung von Staatshilfen, die „den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen“ (Art. 262.1).
Man kann sich vorstellen, wie das Kräfteverhältnis zwischen den ukrainischen Verhandlern und den Scharen von Brüsseler Juristen aussah. Auf der einen Seite eine Union aus 27 entwickelten kapitalistischen Staaten und auf der anderen Seite ein Land, das im Vertragstext teils als „Entwicklungsland“ bezeichnet wird.
Nach der Lektüre der 44 Anhänge, die den Verzicht der Ukraine auf ihre ökonomische Souveränität ausführen, klingen die europäischen Liebesbekundungen seit der russischen Invasion an das „Bruderland“, das „unsere Werte verteidigt“, ziemlich heuchlerisch. Bereits 2013 hatte ein westlicher Diplomat in Kiew zugegeben: „Diese Assoziierungsabkommen sind in gewisser Weise Ausdruck einer kolonialen Haltung.“4
Schon die Staaten Mitteleuropas, die 2004 in die EU aufgenommen wurden (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn), hatten der deutschen Industrie eine Reservearmee an Arbeitskräften geliefert, die in neu hochgezogenen Zulieferfabriken schufteten.5 Es steht zu befürchten, dass den ukrainischen Arbeitskräften ein ähnliches Schicksal droht.
Seit dem Mauerfall organisiert die EU Produktionsverlagerungen in neue Mitgliedstaaten oder benachbarte Länder. Sie haben das Ziel, vor ihrer Tür ein „kleines China“ zu schaffen, um ihre industriellen Flaggschiffe mit Arbeitskräften zu versorgen und ihnen neue Märkte zu erschließen. „Arbeitsnormen sollten nicht für protektionistische Zwecke genutzt werden“ (Art. 291), verlangt das Abkommen. 2022 liegt der gesetzliche Mindestlohn in der Ukraine umgerechnet bei etwa 180 Euro pro Monat.
Mitte der 2000er Jahre setzte Brüssel innerhalb der Union entschlossen die Arbeitnehmerfreizügigkeit um. Dieselbe Hartnäckigkeit findet sich im Abkommen mit der Ukraine, das die „schrittweise Liberalisierung der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen zwischen den Vertragsparteien“ (Art. 96) vorsieht. Solche Leistungen werden die ukrainischen Geflüchteten wohl bald in den kaufkraftstarken EU-Ländern erbringen. Und zugleich werden in der Ukraine die großen französischen, deutschen und polnischen Unternehmen auftauchen, um dort Post und Telekommunikation, Finanz- und Versicherungsdienstleistungen zu übernehmen, die nun für den Wettbewerb offenstehen.
Der russische Überfall hat die Annäherung Kiews an die EU weiter beschleunigt: Am 23. Juni 2022 erhielt die Ukraine den Status als Beitrittskandidat. Die Wünsche Polens werden endlich Wirklichkeit und angesichts der Aussicht auf weitere Produktionsverlagerungen in die Nachbarschaft reibt man sich in den europäischen Hauptstädten die Hände: „Ich setze mich ein für die Erweiterung der Europäischen Union – um die Staaten des Westbalkans, um die Ukraine, um Moldau und perspektivisch auch um Georgien“, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz am 29. August.6
Zwölf Tage zuvor hatte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski ein Gesetz unterzeichnet, das kleinen und mittleren Betrieben mit bis zu 250 Beschäftigten – in solchen arbeiten 70 Prozent der ukrainischen Werktätigen – erlaubt, die Anwendung des Arbeitsgesetzes auszusetzen. Fortan sind nur noch die vom Arbeitgeber im Arbeitsvertrag fixierten Bestimmungen maßgebend. Mit der Aufhebung des Kriegsrechts soll allerdings der Status quo ante wiederhergestellt werden.
Ob sich Selenskis Partei „Diener des Volkes“ daran halten wird, darf allerdings bezweifelt werden. „Die extreme ‚Überregulierung‘ der Beschäftigung widerspricht den Prinzipien der Selbstregulierung des Markts und der modernen Personalführung“, erklärte die Abgeordnete Hanna Lichman.7 Laut der Medienplattform OpenDemocracy soll ein weiterer Gesetzentwurf in Planung sein, der „einen Arbeitstag von bis zu 12 Stunden einführen und den Arbeitgebern erlauben würde, Angestellte ohne Begründung zu entlassen“.8
Am 29. August 2022 sprach Selenski per Video auf einer Veranstaltung des französischen Arbeitgeberverbands Medef. Dass er hinterher Standing Ovations bekam, lag womöglich nicht allein an seinem entschlossenen Kampf gegen den russischen Aggressor.
5 Siehe Pierre Rimbert, „Die ökonomische Osterweiterung“, LMd, Februar 2018.
6 Olaf Scholz, Europarede, Karls-Universität Prag, 29. August 2022.
8 „Ukraine’s anti-worker law comes into effect“, OpenDemocracy, 25. August 2022.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz