08.09.2022

Die Rückkehr des Marcos-Clans

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Die Rückkehr des Marcos-Clans

Wie werden sich die Philippinen unter ihrem neuen Präsidenten außenpolitisch positionieren?

von François-Xavier Bonnet

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Am 9. Mai 2022 stimmten mehr als 55 Millionen Wahlberechtigte auf den Philippinen über das nahezu gesamte politische Personal ab – vom Präsidenten und Vizepräsidenten bis zu Stadt- und Gemeinderäten. Die Beteiligung brach mit 83 Prozent alle Rekorde. Zehn Kan­di­da­t:in­nen bewarben sich um die Präsidentschaft, neun für die Vizepräsidentschaft.

Mit knapp 60 Prozent (mehr als 31 Millionen Stimmen) trug Ferdinand „Bongbong“ Marcos junior einen Erdrutschsieg davon. Seine stärkste Konkurrentin, die scheidende Vizepräsidentin Leni Robredo, kam auf 28 Prozent (14 Millionen Stimmen). Dieser Sieg bedeutet für Marcos jr. eine doppelte Revanche: eine persönliche, denn 2016 hatte Robredo ihn bei der Vizepräsidentenwahl geschlagen. Und eine familiäre: Nach 36 Jahren ist die Familie Marcos wieder an der Macht, nachdem Bongbongs Vater Ferdinand Marcos im Februar 1986 durch eine friedliche Revolution aus dem Amt gejagt worden war. 1989 starb Marcos sr. im Exil auf Hawaii.

Seitdem die Marcos-Familie 1992 auf die Philippinen zurückgekehrt ist, mischte sie wieder in der Politik mit. Als Repräsentant der Familieninteressen arbeitete sich Marcos jr. vom Gouverneur der Provinz Ilocos Norte zum Abgeordneten und zum Senator hoch. Trotz mehrerer Anläufe gelang es ihm lange nicht, in höchste Staatsämter aufzusteigen. Dem Marcos-Clan werden Menschenrechtsverletzungen, Folter und Verschwindenlassen unter Kriegsrecht von 1972 bis 1984 sowie die Veruntreuung von Staatsgeldern in Höhe von mindestens 10 Milliarden Euro zur Last gelegt.

Der scheidende Präsident Duterte, der nicht noch einmal antreten durfte, ist ein enger Freund der Familie Marcos, aber den jungen Marcos bezeichnet er hinter vorgehaltener Hand als „Kok­ser“ und „schwachen Führer“. Dass seine Tochter Sara sich mit diesem Mann politisch verbündet und als Vizepräsidentin beworben hat, soll ihn sehr erzürnt haben. Doch das Gespann Marcos/Duterte steht für den Zusammenhalt zwischen dem Norden (Luzon) und dem Süden (Mindanao).1 Ihr Motto „Einheit des Landes!“ wurde zum entscheidenden Slogan des Wahlkampfs. Auch Sara Duterte errang mit 62 Prozent der Stimmen einen haushohen Sieg.

Welche Auswirkungen die Rückkehr der Familie auf die philippinische Außenpolitik haben wird, weiß man noch nicht. Marcos jr. nahm im Wahlkampf kaum an Fernsehdebatten teil und gab nur selten Interviews, weil er den Medien Voreingenommenheit für Ro­bre­do unterstellte. Sein Programm ist weitgehend unbekannt. Bei seinen seltenen Auftritten war er penibel darauf bedacht, im Hinblick auf die künftigen Beziehungen zu den USA und zu China unbestimmt zu bleiben. Beide Staaten konkurrieren im Indopazifik um geopolitischen Einfluss.

In einem Interview mit dem Radiosender DZRH sagte er, das Urteil des ständigen Schiedsgerichts in Den Haag vom 12. Juli 2016, das Pekings Hoheitsansprüche im Südchinesischen Meer zurückweist, sei „unwirksam“ – obwohl das Gericht zugunsten Manilas entschieden hatte. Peking erkennt das Urteil nicht an, und Marcos kommentierte: „Die USA ins Spiel bringen heißt, sich China zum Feind machen. Ich denke, wir können mit China ein Abkommen schließen. Die Leute in der chinesischen Botschaft sind meine Freunde und wir sprechen über all das.“2

Wenige Tage später machte er eine Kehrtwende. Es sei wichtig, dass der Schiedsspruch die maritimen Hoheitsrechte der Philippinen bestätige, erklärte er und bekräftigte, kein Quadratzentimeter des philippinische Seegebiets dürfe angetastet werden. Zwar müsse die Regierung in „ständigem Austausch“ mit ihrem Nachbarn stehen, doch mit „fester Stimme“ sprechen. Wenn nötig, werde er die Küstenwache und die Marine entsenden, um philippinische Fischer zu schützen.

Als Präsidentschaftskandidat unterstrich er die Bedeutung der special relationship mit den USA und des 1951 geschlossenen Vertrags über gegenseitige Verteidigung (Mutual Defense Treaty, MDT). Der Vertrag verpflichtet beide Länder, einander beizustehen, wenn ihr Territorium (oder ein staatliches Symbol wie ein Kriegsschiff) angegriffen wird. Angesprochen auf einen möglichen Beitritt zum US-geführten Qua­dri­lateralen Sicherheitsdialog (Quad, mit Indien, Australien und Japan), antwortete Marcos ausweichend, die Philippinen müssten ihren eigenen Weg gehen, und es hänge davon ab, was das Abkommen für sie bedeute.

Marcos jr., von seinen Gegnern als Strohmann Pekings abgestempelt, könnte sich an der Außenpolitik seines Vaters orientieren, allerdings in einer gänzlich anderen geopolitischen Situation. Marcos sr. wurde oft als „American Boy“ und Marionette der USA beschimpft, aber er handelte nicht immer in deren Interesse.

Marcos, der 1965 und 1969 demokratisch gewählt worden war, bevor er sich 1972 durch die Verhängung des Kriegsrechts zum Diktator aufschwang, startete auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs immer wieder eigene diplomatische Initiativen, häufig im Geheimen und sehr zum Missfallen Washingtons. Ende der 1960er Jahre schickte er Kontaktgruppen in die Sowjetunion, nach Vietnam und China. 1968 besetzten philip­pinische Truppen acht Inseln der Spratly-Gruppe, auf die Manila seit 1933 Anspruch erhob. 1978 erklärte die Regierung große Teile der Inselgruppe zu philippinischem Hoheitsgebiet.

Einige der Geheimoperationen von Marcos sr. hatten katastrophale Folgen, wie die des Spezialkommandos, das die zu Malaysia gehörende Region Sabah (zuvor „Nordborneo“) destabilisieren sollte. Im Anschluss sollten philippinische Truppen das Gebiet besetzen. Der Plan wurde enthüllt, das Vorhaben scheiterte, es kam zum Bruch mit Malaysia. Auf dem Sulu-Archipel und auf Mindanao gründete sich daraufhin die muslimische Nationale Befreiungsfront der Moros (MNLF). Um gegenüber ­Washington seinen Willen durchzusetzen, drohte der Diktator immer wieder, die beiden wichtigen Militärbasen der USA mit 10 000 Soldaten zu schließen.

1974 schickte er seine Frau Imelda und seinen Sohn nach China, ein Jahr bevor beide Staaten offiziell diplomatische Beziehungen aufnahmen. Mutter und Sohn trafen dort unter anderem den 81-jährigen Mao Tse-tung. Diese Reise gilt als Beginn der China-Faszination des neuen Präsidenten. Die Bande zwischen der Pekinger Regierung und der Familie Marcos waren so eng, dass die chinesische Botschaft 2007 ihr erstes Konsulat außerhalb Manilas in Laoag, der Hauptstadt der Provinz Ilocos Norte, eröffnete, dem Standort des Marcos-Clans. Diese Außenstelle soll bilaterale Beziehungen auf lokaler Ebene pflegen – im Hinblick auf Tourismus, Kulturaustausch, Investitionen und medizinische Unterstützung.

Im Juni 2021 wurde Imelda Marcos vom chinesischen Botschafter für ihre Bemühungen um „die Stärkung der freundschaftlichen Beziehungen und Förderung des gegenseitigen Verständnisses“ geehrt und in die Hall of Fame der Gesellschaft für philippinisch-chinesische Verständigung (APCU) aufgenommen.

Diese engen Verbindungen sind von Fragen der nationalen Sicherheit nicht zu trennen. So kritisierte im Januar 2022 der Gouverneur der Provinz Cagayan im Norden von Luzon, Manuel Mamba, dass das jährlich gemeinsam mit den USA abgehaltene Militärmanöver „Balikatan“ zum Teil in Cagayan stattfinden sollte. Übungen mit scharfer Munition in der Region könnten China verärgern. „Ich bin wirklich pro China. Was will ich mit Amerika? Die Chinesen sind die, die hier investieren. Sie sind es, die sich für uns interessieren.“3

Marcos jr. wird auch die Lehren aus der „chinesischen Wende“ seines Vorgängers ziehen müssen. Auf seiner Chinareise im Oktober 2016 hatte Duterte erklärt: „Ich habe mich an der ideologischen Weltsicht Pekings neu orientiert. Vielleicht gehe ich auch nach Russland und sage Präsident Putin, dass nun drei von uns gegen den Rest der Welt stehen: China, die Philippinen und Russland.“4

Im Tausch für chinesische Staatshilfen in Höhe von 9 Milliarden US-Dollar bezeichnete Duterte den Haager Schiedsspruch von 2016 als „ein Stück Papier“, das man in den Papierkorb werfen könne, und kündigte das Ende des Visiting Forces Agreement (VFA) an, das den US-Truppen seit 1999 erlaubt, rotierend Soldaten im Land zu stationieren. Und er tat kund, dass er darüber nachdenke, den Verteidigungsvertrag (MDT) aufzukündigen.

Vier Jahre später vollzog Duterte jedoch eine Wende um 180 Grad und erklärte vor der UN-Generalversammlung am 23. September 2020, der Schiedsspruch sei nun „Teil des internationalen Rechts“ und dürfe von nationalen Regierungen nicht mehr infrage gestellt werden. Den Ländern, die die Haager Entscheidung anerkannt hatten, sprach er seinen Dank aus. Im Juni 2020 hatte er bereits versichert, dass die Verteidigungszusammenarbeit mit den USA fortgesetzt werde.

Grund war eine gewisse Verärgerung über Xi. Duterte plante ein ambitioniertes Infrastrukturprojekt namens „Build Build Build“, das zum Teil mit Zuschüssen und zinsgünstigen Darlehen aus China finanziert werden sollte. Nach vier Jahren, im Mai 2020, waren nur 10 Prozent der versprochenen Gelder ausgezahlt und von 14 geplanten Projekten lediglich zwei Brücken fertiggestellt worden.

Ein weiteres entscheidendes Ereignis datiert auf den 17. Februar 2020. An diesen Tag patrouillierte die Korvette „BRP Conrado Yap“, das modernste Schiff der philippinischen Marine, das auf die U-Boot-Abwehr spezialisiert ist, zwischen den Spratly-Inseln. In der Nähe des Commodore-Riffs richtete plötzlich eine chinesische Korvette ihr Feuer­leitradar auf die „Corado Yap“. Zwar setzten beide Schiffe ihren Kurs ohne weitere Zwischenfälle fort, doch das Ausrichten des Feuerleitradars auf ein ausländisches Schiff gilt in der militärischen Praxis als inakzeptabel, da es Fehleinschätzungen provozieren und zur Eskalation bis hin zum offenen Konflikt führen kann.

In der Coronapandemie bekam Du­terte die Möglichkeit, sein Verhältnis zu China und den USA nach beiden Seiten abzusichern. Die Philippinen fanden sich im Fokus der Impfstoff-Diplomatie der beiden großen geopolitischen Rivalen. Um sich möglichst viele Impfdosen zu sichern und 90 Prozent der erwachsenen Bevölkerung bis zu den Wahlen im Mai 2022 immunisieren zu können, machte Duterte gut Wetter in China und beschuldigte die USA und andere reiche Industrieländer, die Impfstoffe zu monopolisieren.

Derweil umwarben sein Verteidigungs- und sein Außenminister die USA und drohten in Richtung Peking, den MDT-Vertrag mit den USA mit neuer klar antichinesischer Ausrichtung neu aufzusetzen. Mit dem Ergebnis, dass zwischen April und Oktober 2021 China große Mengen seiner Impfstoffe Sinovac und Sinopharm an die Philippinen lieferte; ab November 2021 kam dann vor allem Impfstoff aus den USA ins Land.

Clarita Carlos, emeritierte Professorin für internationale Beziehungen und Marcos jr.s Sicherheitsberaterin, rät gegenüber China weiterhin zur Politik des „kritischen Engagements“, wie sie Duterte in den letzten zwei Jahren verfolgte. Außenminister Enrique Manalo wies anlässlich des sechsten Jahrestags des Haager Schiedsspruchs jeden Versuch zurück, diesen „aus dem Gesetz, der Geschichte und unserem ­kollektiven Gedächtnis tilgen zu wollen“.5 Marcos jr. selbst bekräftigte in einer Rede an die Nation, er wolle mit aller Entschlossenheit das Territorium des Archipels schützen, und die Phi­lippinen „würden weiterhin jedermanns Freund und niemandes Feind sein“.6

Im Gebiet der Spratly-Inseln macht die Reed Bank mit ihren großen Gasreserven eine Zusammenarbeit mit China verlockend. Vor allem angesichts des international angespannten Gasmarkts und der geplanten Einstellung der Förderung im Malampaya-Gasfeld (vor der Insel Palawan), das zurzeit 40 Prozent des Strombedarfs der Insel Luzon deckt.

Marcos jr. kann es sich nicht leisten, auch nur einen Zentimeter der Spratly-Inseln zu verlieren, die ein direktes Erbe seines Vaters sind.

1 Siehe Antoine Hasday und Nicolas Quénel, „Das Erbe des philippinischen Dschihad“, LMd, April 2020.

2 Frances Mangosing und Tina G. Santos, „Marcos presidency a boon for China, awkward for US“, Philippine Daily Inquirer, Makati, 12. Mai 2022.

3 Frances Mangosing, „Pro-China governor opposes PH-US live-fire drills“, inquirer.net, 13. Januar 2022.

4 „Duterte: its Russia, China, PH, against the world‘ “, ABS-CBN.com, 20. Oktober 2016.

5 „Statement of foreign affairs secretary Enrique A. Manalo on the 6th anniversary of the award on the South China Sea arbitration“, Philippinisches Außenministerium, 12. Juli 2022.

6 Daniza Fernandez, „Bongbong Marcos stands firm on protecting PH waters“, inquirer.net, 25. Juli 2022.

Aus dem Französischen von Anna Lerch

François-Xavier Bonnet ist Geograf und forscht am Institut de recherche sur l‘Asie du Sud-Est contemporaine (Irasec).

Le Monde diplomatique vom 08.09.2022, von François-Xavier Bonnet