08.09.2022

Politik der kleinen Gesten

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Politik der kleinen Gesten

In den vergangenen Monaten hat Israel eine Reihe von Maßnahmen angekündigt, um das Leben der Palästinenser in den besetzten Gebieten zu verbessern, etwa die Einführung von 4G. Zugleich schreitet der Siedlungsbau voran und eine Lösung des Konflikts liegt in weiter Ferne.

von Olivier Pironet

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Man müsse „mit der Faust auf den Tisch hauen“, schimpfte Thomas ­Nides über die israelische Regierung. Was den US-Botschafter in Israel nach einem Besuch im West­jor­dan­land im März 2022 in Rage brachte, waren weder die militärische Besetzung der Palästinensergebiete noch der rapide voranschreitende Siedlungsbau und auch nicht die repressiven Maßnahmen der israelischen Armee gegen die palästinensische Bevölkerung.

Ihn erzürnte die Tatsache, dass den Menschen in den Palästinensergebieten kein Mobilfunknetz der vierten Generation (4G) zur Verfügung steht. Der US-amerikanische Diplomat hatte mit Entsetzen festgestellt, dass die Palästinenser sich – anders als die Siedler und die israelische Bevölkerung – mit 3G begnügen müssen: „Wer hat denn noch 3G? Das ist lachhaft!“, echauffierte sich Nides. Und er fügte hinzu: „Was bedeutet Gleichberechtigung? 4G bedeutet Gleichberechtigung!“1

Israel, das die Mobilfunkfrequenzen in den besetzten Gebieten verwaltet, hatte sich schon im Sommer 2021 bereit erklärt, den palästinensischen Mobilfunkunternehmen die Errichtung von 4G-Netzen im Westjordanland zu gestatten (der Gazastreifen muss mit 2G auskommen). Das war eine Geste des guten Willens gegenüber der Palästinensischen Autonomiebehörde und ihres Präsidenten Mahmud Abbas.

Dieses „großzügige Versprechen“ war auch Thema bei den Gesprächen mit US-Präsident Joe Biden in Jerusalem im Rahmen seiner Nahostreise im vergangenen Juli. 2015 hatte Barack Obama die Israelis zur Umsetzung von 3G im Westjordanland gedrängt, was drei Jahre später Wirklichkeit wurde. Bis sie die 4G-Technologie nutzen können, müssen sich die Palästinenser noch bis zum nächsten Jahr gedulden. Auf die von ihnen geforderte „politische Perspektive“ werden sie jedoch noch sehr viel länger warten müssen.2

Das Zugeständnis, das die USA den Israelis abgerungen haben, ist Teil einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die Tel Aviv in den vergangenen Monaten angekündigt hat, um den Alltag der Palästinenser zu verbessern. Damit wollte Premierminister Naftali Bennett von der rechten Jamina-Partei auch vermeiden, sich an den Verhandlungstisch setzen zu müssen und auf eine Lösung des Konflikts hinzuarbeiten. (Inzwischen musste Bennett nach dem Auseinanderbrechen der ein Jahr zuvor geschmiedeten Regierungskoalition seinen Hut nehmen.) Im Wahlkampf und während seiner Amtszeit hatte er mehrfach klargemacht, dass es unter seiner Regierung keine Wiederaufnahme der 2014 abgebrochenen Friedensgespräche geben werde.

Die Schaffung eines palästinensischen Staats lehnte er ab. Stattdessen beschränkte er sich darauf, mit wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Maßnahmen die „Stabilität“ des Westjordanlands zu befördern. Damit wollte er vor allem die Autonomiebehörde stützen, die den finanziellen Bankrott fürchten muss und mit heftigem innenpolitischem Gegenwind zu kämpfen hat. Diese Strategie der Befriedung durch wirtschaftliche Mittel hatten in den 1990er Jahren schon Schimon ­Peres und später Benjamin Netanjahu propagiert.

Der Philosoph (und Siedler) Micah Goodmann, der beim israelischen politischen Establishment ausgesprochen beliebt ist, prägte für diese Strategie die Formel „Schrumpfung des Konflikts“ (shrinking the conflict).3 Da man den Palästinensern keine politische Lösung anzubieten hat, gilt es das Regime von Abbas zu erhalten, damit es nicht kollabiert und womöglich eine neue Intifada losbricht.

Darum soll der Ausbau der Infrastruktur in den palästinensischen Gebieten gefördert und der Güter- und Personenverkehr sowie der Zugang zum israelischen Arbeitsmarkt erleichtert werden. Es geht also um die „Stimulierung der wirtschaftlichen Möglichkeiten“, wie es die israelische Seite formuliert.

Auf der Geberkonferenz für Palästina, die im November 2021 in Oslo stattfand und an der unter anderem die EU, die USA, Japan und die Golfmonar­chien teilnahmen, rief Israel dazu auf, die Kassen der Palästinenserbehörde wieder zu füllen.4 Deren Finanznot hatte sich in jüngster Zeit durch mehrere Faktoren vergrößert: die stagnierende Wirtschaft, die Coronapandemie und den Gaza-Krieg im Mai 2021, durch den der Küstenstreifen wirtschaftliche Einbußen in Höhe von 200 Millionen Euro erlitt.

Hinzu kommt, dass die ausländischen Kredite, mit denen die Autonomiebehörde einen Teil ihres Haushalts (etwa 5,5 Milliarden Euro in 2021) finanziert, stark zurückgegangen sind, von 1,3 Milliarden Euro 2013 auf 300 Millionen 2021. Kurzum: Sie steckt in der schwersten Finanzkrise ihrer Geschichte.

Als ein Defizit von mehr als 1,5 Milliarden Euro aufgelaufen war, musste sie sich 2,5 Milliarden Euro von einheimischen Privatbanken leihen. Die haben inzwischen aber den Geldhahn zugedreht, und so mussten zwangsläufig die Ausgaben gekürzt werden. Obendrein behielt Israel einen Teil der Importzölle ein, die es erhebt und an die Palästinenserbehörde weiterreicht. Für die Autonomiebehörde war das ein weiterer Einnahmeverlust von schätzungsweise 500 Millionen Euro.

Als Konsequenz wurden die Gehälter ihrer 160 000 Angestellten um ein Viertel gekürzt. Da diese im West­jor­dan­land ein Fünftel und im Gaza­strei­fen rund 40 Prozent aller Erwerbstätigen ausmachen, rief die Maßnahme massiven sozialen Unmut hervor. Im West­jor­dan­land sind etwa 20 Prozent und im Gazastreifen 50 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeitslos. Im Westjordanland leben ein Drittel und im Gazastreifen rund 60 Prozent der Menschen in Armut.

All das bringt das Regime in Ramallah in schwere Bedrängnis. Laut einer Umfrage des palästinensischen Meinungsforschungsinstituts PCPSR vom 22. März wünschen sich drei Viertel aller Palästinenser den Rücktritt ihres Präsidenten und werfen ihm vor, er sei autoritär und unterwerfe sich der is­rae­lischen Regierung.

Israel hat allerdings ein starkes Interesse daran, dass die Autonomiebehörde stabil genug ist, um die Zusammenarbeit zwischen der israelischen Armee und dem palästinensischen Sicherheitsapparat aufrechtzuerhalten. Letzterer frisst 30 Prozent des Etats der Behörde, ein Drittel ihrer Angestellten arbeitet dort. Damit im Westjordanland Ordnung herrscht,5 intensivierte Tel Aviv seine Bemühungen, „die Autonomiebehörde zu stärken“, wie der israelische Verteidigungsminister Benny Gantz im September 2021 erklärte.

Zuvor war Gantz nach Ramallah gefahren, um mit Abbas über Sicherheitsbelange zu sprechen und die Frage zu erörtern, wie man die Autonomiebehörde wirtschaftlich konsolidieren könne. Es war das erste Treffen auf Ministerebene seit 2010. Danach besuchte Abbas Ende Dezember 2021 Gantz sogar zu nächtlicher Stunde in dessen Privatdomizil in Rosch haAjin und sprach mit ihm über die Umsetzung der von Is­rael versprochenen wirtschaftlichen und zivilen Maßnahmen.

Bei beiden Treffen erhielt Abbas als Gegenleistung für seine Kooperationsbereitschaft eine Reihe von Zusicherungen, die er der palästinensischen Öffentlichkeit als seine Erfolge verkaufte: die Legalisierung mehrerer tausend Palästinenser ohne Ausweispapiere durch die Besatzungsbehörden, die Erteilung von 1000 Baugenehmigungen in der „Zone C“, die 60 Prozent des Westjordanlands ausmacht und allein israelischer Verwaltung untersteht, 600 zusätzliche Passierscheine für ­palästinensische Geschäftsleute und zusätzliche Arbeitserlaubnisse für Palästinenser in Israel und in den Siedlungen.

100 000 Palästinenser aus den besetzten Gebieten arbeiten in der is­rae­lischen Wirtschaft und 40 000 in den Siedlungen, wo sie dreimal so viel verdienen wie in den Palästinensergebieten. Zusammen steuern sie rund 15 Prozent zum palästinensischen Bruttoinlandsprodukt bei. Tel Aviv gewährte der Autonomiebehörde als Vorschuss für die in ihrem Namen eingenommenen Steuern zudem zwei Kredite mit einem Volumen von 153 Millionen und 28,5 Millionen Euro.

Diese Politik der kleinen Gesten hat natürlich ihren Preis. Am 8. Juli reiste Gantz wenige Tage vor Bidens Israel­besuch erneut nach Ramallah, um über die Modalitäten der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zu sprechen. Am Tag danach telefonierte der israelische Interimspremierminister Jair Lapid mit dem „Rais“, um sich zu vergewissern, dass es im West­jordanland und insbesondere in den Unruheherden Dschenin und Nablus während des Aufenthalts des US-amerikanischen Präsidenten ruhig bleiben werde.

Damit erinnerte er Abbas auch daran, dass die Beziehungen zwischen Ramallah und Tel Aviv nach wie vor einer Logik der Unterordnung folgen und dass sich der Chef der Autonomiebehörde gegenüber der Besatzungsmacht verantworten muss – was dem Status eines Protektorats gleichkommt, das von einem Imperium verwaltet wird.

1 „‚Equality means‘ Palestinians should have 4G on their phones, says U.S. ambassador to Israel“, Mondoweiss.net, 22. März 2022.

2 Siehe Daoud Kuttab, „Absence of a political horizon invites instability in Palestine“, Arab News, 15. Dezember 2021.

3 „Philosopher Micah Goodman Is An Unofficial Counsel To Israel’s Prime Minister“, National Public Radio (NPR), 25. August 2021.

4 Am 14. Juni kündigte die Europäische Union die Auszahlung von 225 Millionen Euro an die Palästinensische Autonomiebehörde an, nachdem diese Summe mehrere Monate blockiert worden war.

5 Siehe Olivier Pironet, „Zone, Lager und Gefängnis“, LMd, Oktober 2014.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Le Monde diplomatique vom 08.09.2022, von Olivier Pironet