Der geraubte Wald
In Rumänien wollen alle am illegalen Holzschlag verdienen
von Hervé Bossy und Hugo Nazarenko
Tiberiu Bosutar krempelt die Ärmel seines karierten Hemds hoch und zieht sein Mobiltelefon aus der Hosentasche. Das Display zeigt 14.30 Uhr, es ist der 16. September 2021. In einem Waldstück im Distrikt Suceava im Nordosten Rumäniens bereitet sich der Aktivist darauf vor, Verstöße gegen das Forstgesetz live auf Facebook zu dokumentieren. An diesem Tag wird Bosutar von den beiden Dokumentarfilmern Mihai Dragolea und Radu Constantin Mocanu begleitet, die für den US-Sender HBO drehen. Seit fast acht Jahren ist Tiberiu Bosutar illegalen Abholzungen auf der Spur. In den sozialen Netzwerken folgen ihm mehrere zehntausend Menschen.
Eine halbe Stunde nach ihrer Ankunft fallen etwa 20 Männer mit Stöcken und Äxten über Bosutar und seine Begleiter her. Als die Polizei eintrifft, liegt einer der beiden Dokumentarfilmer bewusstlos am Boden. Sein Kollege und Bosutar sind blutüberströmt, ihre Ausrüstung wurde zerstört.
Wer es wagt, in Rumänien gegen illegalen Holzeinschlag zu protestieren, setzt sein Leben aufs Spiel. Seit 2016 wurden etwa 180 Menschen, überwiegend Angestellte der Forstverwaltung, belästigt oder verprügelt, 6 wurden sogar umgebracht. Die Wälder, die zu drei Vierteln vom Staat bewirtschaftet werden, sind eine begehrte Einnahmequelle. Laut einer Untersuchung der Universität Braşov trug die Holzwirtschaft im Jahr 2016 mit 8 Milliarden Euro 3,5 Prozent zum rumänischen Bruttosozialprodukt bei.
Wie in der EU insgesamt ist der legale Holzeinschlag in den vergangenen Jahren auch in Rumänien stark gestiegen: zwischen 2016 und 2020 von 15 auf 18 Millionen Kubikmeter.1 Allerdings werden in Rumänien insgesamt jährlich etwa 30 Millionen Kubikmeter Holz verbraucht, also weit mehr, als der legale Einschlag liefert. Rund 10 Millionen entfallen auf die Holzverarbeitung. Der große Rest wird von den 3,6 Millionen Haushalten verfeuert, die noch mit Holzöfen heizen.2
Organisiert wird der Waldraub weitgehend in der Forstverwaltung selbst – alle sind daran beteiligt, vom einfachen Holzfäller (padurar) bis zum Minister. In Marginea in der Bukowina staunen die Menschen über den Lebensstil des Padurars Mircea Caunei. „Sein Haus hat mehrere Stockwerke und ist einige Millionen Lei wert“, erzählte eine junge Frau in einer kleinen Bar im Nachbardorf Sucevita am Rande der Karpaten. Seit über 15 Jahren steht der erstaunlich wohlhabende Forstmitarbeiter immer mal wieder auf den Titelseiten der Lokalpresse, entweder weil er in illegale Abholzungen verwickelt ist oder weil er Aktivisten bedroht hat.
Ende 2020 sendete Bosutar einen Livebericht über Caunei auf seinen Social-Media-Kanälen. In einer Parzelle des Forsts von Marginea wurden offensichtlich ohne Genehmigung Bäume abgeholzt. Im Hintergrund hört man die Kettensägen kreischen. Doch Caunei muss Wind von der Aktion bekommen haben: Als die Ordnungskräfte eintrafen, hatte er seine Holzfällertruppe bereits aus dem Wald geschleust. Wo ganze Dörfer von der Waldwirtschaft leben, sind Kontrollen nahezu unmöglich. „Die Forstaufseher haben Caunei gewarnt, bevor sie anrückten“, erklärt Bosutar. „Sie sind alle in denselben Dörfern aufgewachsen, haben dieselben Schulen besucht und sind teils sogar verwandt. Insofern ist das nicht verwunderlich.“
Im November 2021 wurden auf der Straße über dem Ciumarna-Pass zwei Lkws beschlagnahmt, die illegales Holz geladen hatten. Beide Laster gehörten dem Unternehmen Caunimarc, als dessen Eigentümerin eine gewisse Liliana Cenuşă registriert ist, Cauneis Ehefrau. Beschäftigte der Forstverwaltung dürfen nämlich keine Geschäfte mit dem Transport und der Verarbeitung von Holz machen, aber für ihre Familienmitglieder gilt dieses Verbot nicht. Das Umweltministerium ließ unsere Anfragen zu diesem Fall unbeantwortet.
Bei den extrem niedrigen Gehältern ist es kein Wunder, dass sich die Holzfäller etwas dazuverdienen wollen: Ein angestellter Padurar verdient etwa 400 Euro im Monat – das Durchschnittseinkommen liegt in Rumänien bei 650 Euro. Die Padurari und die Forstingenieure inventarisieren den Baumbestand, entscheiden, welche Parzellen abgeholzt werden, markieren die Bäume mit einem Schlagsiegel und bestimmen über deren Verwendung als Nutz- oder Brennholz.
Bei all diesen Tätigkeiten nutzen die Holzbetrüger aus der Forstwirtschaft Schlupflöcher und diverse Tricks, um die in den Vorschriften und im Zehnjahresplan vorgesehen Quoten zu überschreiten. Sie setzten etwa die Anzahl der Bäume, die in einer Parzelle gefällt werden können, absichtlich zu niedrig an und speisen die gezinkte Summe in die große Datenbank ein, wo auch die Herkunft und der Weg aller in Rumänien geschlagenen Stämme gespeichert sind. Durch den Einsatz von gefälschten Baumstempeln, mit denen die zu fällenden Bäume markiert werden, können sie dann mehr Holz schlagen als vorgesehen.
Auch das Forstrecht spielt der kriminellen Energie der Padurari und der Forstangestellten in die Hände. Denn sie sind nach rumänischem Recht auch dafür zuständig, kommerzielle Anbieter zu kontrollieren, die im Auftrag der Forstverwaltung Holz schlagen oder transportieren. So können sie einfach Bußgelder verhängen, wenn ein Drittanbieter nicht nach ihrer Pfeife tanzt oder bei ihren Betrügereien nicht mitmachen will.
In der rumänischen Forstverwaltung wird Holz in solchen Mengen geklaut, dass der Verdacht auf systemische Korruption naheliegt. „Die korrupten Beschäftigten sind zwar nicht in der Mehrheit“, sagt Laura Bouriaud, die an der Universität Suceava Forstwirte ausbildet. „Aber sie gefährden auch so schon das gesamte System, weil nämlich alle weggucken.“
Nach dem Studium müssen die angehenden Forstwirte ein einjähriges Praktikum in einem Forstrevier (ocol silvic) absolvieren. Wer übernommen werden möchte, wird nicht selten dazu aufgefordert, Schmiergeld an den leitenden Förster zu zahlen – mehr als 50 000 Euro sollen manche für den Posten eines Forstingenieurs hinblättern, berichtet Laura Bouriad: „Die jungen Leute verschulden sich, um ihre Stelle zu behalten. Ich sage meinen Studierenden immer, wenn sie sich mit Geld Zugang zu einem System verschaffen, werden sie immer weiter bezahlen müssen. Zum einen, weil sie erpressbar sind, und dann, weil es um so hohe Summen geht, dass sie jahrelang illegale Geschäfte machen müssen, um das Geld wieder reinzuholen.“
Auf der nächsthöheren Ebene sind die Posten der Regionaldirektoren sehr begehrt, ganz besonders jene, die mit der Vergabe von Aufträgen zu tun haben. Wenn staatliche Forstparzellen schlagreif sind oder aus anderen Gründen Baumfällungen anstehen, muss es eigentlich eine öffentliche Ausschreibung geben. Tatsächlich würden die Marktanteile oft nach politischen Interessen verteilt, erklärt Ilie Covrig, Forstdirektor in Mureş. Er hat das Gesetz des Schweigens gebrochen und wird seitdem bedroht.
Anfang 2018 wurde Covrig das Amt des Staatssekretärs im Ministerium für Wasser und Forstwirtschaft angeboten. „Als man mir diesen Posten angetragen hat, dachte ich erst, das sei eine Anerkennung. Aber später wurde mir klar, dass es um etwas ganz anderes ging. Ich besaß keinerlei Handlungsfreiheit und konnte nichts verändern. Mit dieser Beförderung wollte man mich nur abschieben, weil ich den verantwortlichen Lokalpolitikern in Mureş, die in der Holzindustrie ihre eigenen lukrativen Geschäfte machen, ein Dorn im Auge war.“
Im Januar 2019 kehrte Ilie Covrig auf seine alte Forstdirektorstelle zurück, die er in einem Auswahlverfahren errungen hatte und die ihm rechtmäßig zustand. Aber dem Ministerium passte das gar nicht, weil es inzwischen ein treues Parteimitglied auf Covrigs Posten gesetzt hatte. Daraufhin begannen Repressionen gegen Covrig. Die regierende Sozialdemokratische Partei (PSD) versuchte ihn zum Rücktritt zu bewegen. Ein Abgesandter der PSD ließ Covrig wissen, dass er „der Partei nicht genug Geld“ einbringe.
Ende 2019 kam nach einem Misstrauensvotum gegen die umstrittene Premierministerin Viorica Dancila die Nationalliberale Partei (PNL) unter Ludovic Orban an die Macht. Danach nahmen die Einschüchterungsversuche sogar noch zu. Gelu Puiu, der für die Forstwirtschaft zuständige Staatssekretär, schickte immer wieder unangekündigt Inspektoren nach Mureş. In einem von der investigativen Reportergruppe Recorder veröffentlichten Mitschnitt eines Telefongesprächs hört man ihn zu Covrig sagen: „Entweder du trittst ab, oder ich ordne Prüfungen durch das Finanzministerium und den Rechnungshof an.“
Einige Wochen später kam ein weiterer Anruf. Diesmal drohte man Covrig mit „schwerwiegenden Konsequenzen“, sollte er seinen Posten nicht räumen. Heute ist Ilie Covrig immer noch im Amt und prangert Repressionen an, die darauf abzielten, „Personen in Schlüsselpositionen einzuschüchtern und aus dem Amt zu drängen, wenn sie nicht tun, was die politisch Verantwortlichen von ihnen erwarten“.
Staatssekretär Puiu musste nach den Enthüllungen von Recorder zurücktreten. Aus den Mitschnitten geht hervor, dass er mit Drohungen und Erpressung die Ablösung von 15 Forstdirektoren durchgesetzt hat. Ihre Posten wurden nach dem Machtwechsel mit PNL-Getreuen besetzt.
Der Werdegang von Gelu Puiu zeigt exemplarisch, wie Geschäftsleute und Lokalpolitiker gemeinsame Sache machen. Puiu begann seine Laufbahn als ungelernter Arbeiter, stieg dann zum Forstingenieur mit der Zuständigkeit für zwei Forstreviere in Suceava auf und wurde 2013 zum ersten Mal in die Regierung berufen. Danach übernahm er die Leitung eines Reviers in Vama.
In dieser Zeit soll er zahlreiche Verstöße gegen das Forstgesetz begangen haben. 2019 wurde er erneut zum Staatssekretär für Forstwirtschaft ernannt und startete unter Umweltminister Costel Alexe3 die große Erpressungskampagne gegen Covrig, über die er schließlich stürzte. Inzwischen ist er auf seinen Forstdirektorposten in Vama zurückgekehrt, obwohl ein Staatsanwalt in Suceava Ermittlungen wegen illegalen Holzbesitzes gegen ihn eingeleitet hat.
Die Krakenarme der systemischen Korruption sind in Rumänien allerdings nicht nur in der Forstwirtschaft zu finden. Auch in anderen Bereichen tauchen sie auf, etwa bei der Ausbeutung der Goldminen in Siebenbürgen oder beim Import von Millionen Tonnen Müll. Doch mittlerweile hat es die Regierung mit einer Zivilgesellschaft zu tun, die immer besser informiert und aufmerksamer ist.
Im Oktober 2019 fanden nach der Ermordung des Padurars Liviu Pop große Demonstrationen statt. Pop wurde mit einer Kugel in der Brust in einer Schlucht gefunden. Der Täter, ein Holzdieb, den man erst ein Jahr nach der Tat fasste, wurde am 29. April 2022 wegen Mord, Raub und illegalem Waffenbesitz zu einer Gefängnisstrafe von 17 Jahren und vier Monaten verurteilt. Doch dieses exemplarische Urteil verschleiert den Kern des Problems. Liviu Pop wurde in erster Linie Opfer eines Systems, in dem Korruption auf allen Ebenen des Staatsapparats an der Tagesordnung ist.
1 „Rundholzerzeugung“, Eurostat, aktualisierte Zahlen vom 20. Juni 2022.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Hervé Bossy und Hugo Nazarenko sind Journalisten.