08.09.2022

Kein Frieden in Sicht

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Kein Frieden in Sicht

Weder Wolodimir Selenski noch Wladimir Putin scheinen derzeit davon auszugehen, dass der Krieg in der Ukraine mit diplomatischen Mitteln beendet werden könnte. Gespräche über den Status der Krim, die Kiew im März sogar noch angeboten hatte, wird es wohl nicht mehr geben.

von Igor Delanoë

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Sechs Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat sich die „Spezialoperation“ des Kreml entlang einer Frontlinie festgefahren, die von den Vororten Charkiws im Nordosten bis zu den Steppen an der ukrainischen Schwarzmeerküste verläuft.

Es regiert die Logik der Waffen, und die Aussicht auf ein Ende der Feindseligkeiten ist in weite Ferne gerückt. Seit dem Gipfeltreffen in Istanbul am 29. März, bei dem russische und ukrainische Unterhändler den Entwurf für einen Friedensvertrag ausgearbeitet haben, sind diplomatische Bemühungen zur Beendigung des Kriegs weitgehend zum Erliegen gekommen, und die Positionen haben sich verhärtet.

In Istanbul legte Moskau Maximalforderungen auf den Tisch, die bereits bei einem Vorbereitungstreffen am 10. März im türkischen Antalya formuliert worden waren. Als Voraussetzung für einen Waffenstillstand verlangte der Kreml, dass Kiew die russische Souveränität über die Krim sowie die Unabhängigkeit der beiden selbsternannten Republiken Lugansk und Donezk anerkennen sollte, wie es Putin am 21. Februar in seiner Fernsehansprache getan hatte.

Darüber hinaus sollte Kiew alle Ambitionen auf eine Nato-Mitgliedschaft aufgeben und einen „blockfreien“ Status annehmen. Dies würde eine Änderung der ukrainischen Verfassung erfordern, in der Nato-Beitritt als Ziel festgeschrieben ist. Russland forderte außerdem ein Verbot von ultra­na­tio­na­lis­ti­schen und „neonazistischen“ Parteien und Organisationen in der Ukrai­ne sowie die Aufhebung der sogenannten Erinnerungsgesetze, die das nationale Gedenken an historisch umstrittene Figuren des antirussischen und antisowjetischen Unabhängigkeitskampfs fördern. Und schließlich sollte Russisch als zweite Staatssprache gelten.

Kurzum: Moskau erwartete eine Kapitulation der Ukraine. Kiew hingegen forderte die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen und den Abzug der russischen Streitkräfte aus ihrem gesamten Hoheitsgebiet einschließlich der Krim.

Die Gespräche in Istanbul dauerten drei Stunden, und die russische Delegation zeigte sich danach optimistisch. Dazu hatte sie allen Grund: Die ukrai­ni­sche Seite hatte ihr ein 10-Punkte-Arbeitspapier übergeben, das für die Ukrai­ne eine Form der bewaffneten Neu­tra­li­tät vorsah.1 Denn Präsident Selenski hatte zu seiner Erbitterung feststellen müssen, dass er mit einem direkten militärischen Eingreifen der Nato nicht rechnen konnte, ebenso wenig mit einer baldigen Nato-Mitgliedschaft. So erklärte sich Kiew bereit, einen „blockfreien und nichtnuklearen Status“ anzunehmen.

Darüber hinaus verpflichtete sich die Ukraine, keine ausländischen Truppen oder Militärstützpunkte dauerhaft auf ihrem Boden zuzulassen. Im Gegenzug verlangte Kiew jedoch „internationale Sicherheitsgarantien“. Gemäß Punkt 1 des Arbeitspapiers sollten als Garantiestaaten die Ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats (also auch Russland) infrage kommen, ebenso wie die Türkei, Deutschland, Kanada, Ita­lien, Polen und Israel. Diese Garantien sollten jedoch nicht für die Krim oder den Donbass gelten (Punkt 2), womit für potenzielle Garantiestaaten sichergestellt werden sollte, dass sie nicht in Konfrontation mit Russland geraten würden.

Unklar blieb, wie umfangreich die Sicherheitsgarantien sein sollten. Wollte die Ukraine womöglich eine Art Beistandsklausel vergleichbar mit Artikel 5 der Nato-Charta, mit der Verpflichtung zu einer automatischen militärischen Reaktion auf jede hypothetische Aggression? Denn die von Kiew genannten Garantien sollten im Falle einer „Aggression oder eines bewaffneten Angriffs auf die Ukraine“ die Umsetzung von individuellen oder gemeinsamen Maßnahmen ermöglichen, die von den Garantiegebern beschlossen würden, einschließlich „der Lieferung von Waffen und der Anwendung von Waffengewalt“ (Punkt 4).

Für die russische Seite war der Text noch an weiteren Stellen problematisch. In Punkt 7 des Plans war ein Referendum vorgesehen, in dem die ukrainische Bevölkerung über den neutralen Status ihres Landes abstimmen sollte. Doch was würde geschehen, wenn der Text abgelehnt würde? Schließlich sah Punkt 8 vor, dass beide Seiten für die Dauer von 15 Jahren Gespräche über den Status der Krim führen sollten. Moskau hält das Thema allerdings seit der Annexion der Halbinsel im Frühjahr 2014 für abgeschlossen.

Aus Sicht des Kreml waren die Zugeständnisse Kiews unzureichend. Und die ukrainische Delegation wurde ohnehin zurückbeordert, als einige Tage später das Massaker von Butscha bekannt wurde. Sowohl in Moskau als auch in Kiew gewannen die Kriegsbefürworter die Oberhand, und Anfang April geriet die diplomatische Dynamik vollends ins Stocken. Die russische Seite sprach von „britischen und US-amerikanischen Einflüsterern“, die Selenski dazu gedrängt hätten, nichts zu unterschreiben und auf die militärische Option zu setzen.

Die ukrainische Seite verurteilte die „Sprache des Ultimatums“ seitens Russlands. Nach dem Treffen in Istanbul sprachen die Verhandlungsführer nur noch online und auf unteren Ebenen miteinander, um sporadisch den Austausch von Gefangenen und toten Soldaten zu organisieren und humanitäre Korridore einzurichten.

Seitdem ist der Krieg in eine neue Phase eingetreten. Bei seinem Besuch in Aşgabat in Turkmenistan am 30. Juni erklärte Putin, dass „die Spezialoperation so lange fortgesetzt wird, bis der Donbass vollständig befreit und die Sicherheitslage für Russland stabil ist“, und zwar ohne zeitliche Begrenzung, um keine Erwartungen in der Öffentlichkeit zu wecken. Die russische Strategie besteht darin, die militärischen Anstrengungen entlang der Frontlinie zu konzentrieren und dort immer wieder Vorstöße zu versuchen.

Der 10-Punkte-Plan von Istanbul

Parallel unternimmt das russische ­Militär in der Tiefe des ukrainischen Territoriums Bombenangriffe auf militärische Ziele und die Infrastruktur, um die wirtschaftlichen Ressourcen zu schwächen und die Bevölkerung zu zermürben. Alle diese Aktionen zielen darauf ab, der Ukraine mehr Territo­rium zu entreißen und die ukrainische Führung dazu zu bringen, dass sie den Kampf einstellt und Verhandlungen zu den Bedingungen Russlands aufnimmt.

Sollten keine Verhandlungen aufgenommen werden oder scheitern, weil Russland den gesamten Donbass unter seine Kontrolle bringt, könnte Moskau eine neue militärische Phase einleiten. Diese könnte sich auf den Süden konzentrieren, um auch den Westteil der ukrainischen Schwarzmeerküste zu besetzen, angefangen bei der Stadt Mykolajiw an der Mündung des Bugs.

Ein weiteres mögliches Ziel neuer Militäroperationen ist die vollständige Eroberung der Region Saporischschja. Dieses Szenario erwähnte ein russischer Militär bereits am 22. April, ebenso Russlands Ziel, einen Landkorridor nach Transnistrien zu schaffen.2 Bei den derzeitigen Kräfteverhältnissen scheint dieses Ziel für die russischen Streitkräfte jedoch schwer umsetzbar. Sollte es dennoch dazu kommen, würde von der Ukraine nur ein Binnenstaat übrigbleiben, ohne Zugang zum Schwarzen Meer und ohne Kontrolle über die Dnjipr-Mündung.

Auf der ukrainischen Seite besteht die Strategie darin, Widerstand zu leisten, um die militärischen Ressourcen Russlands zu erschöpfen, und wenn möglich zu verhindern, dass der Donbass vollständig in russische Hände fällt. Mit der Einnahme von Lyssytschansk Anfang Juli haben die russischen Streitkräfte und prorussische Separatisten jedoch die Region Luhansk vollständig erobert.

In der Oblast Donezk kontrolliert die Ukraine weiterhin etwas weniger als die Hälfte des Gebiets, darunter die Städte Bachmut, Slowjansk und Kramatorsk. Zugleich soll das vom Westen gelieferte Militärmaterial – darunter die Caesar-Haubitzen aus Frankreich, die US-amerikanischen Himars-Mehrfachraketenwerfer und die deutschen Panzerhaubitzen 2000 – Kiew befähigen, eine Gegenoffensive auf Cherson vorzubereiten.

Selenskis Berater Oleksi Arestowitsch hatte eine solche bereits im Frühjahr für den Spätsommer angekündigt. Kiew ist politisch darauf angewiesen, dass diese Gegenoffensive erfolgreich verläuft, um der ukrainischen Öffentlichkeit und dem Westen zu zeigen, dass ein Sieg möglich ist und die finanziellen und militärischen Anstrengungen nicht vergeblich waren. Dieser Faktor ist umso wichtiger, wenn der Winter naht und die Einschränkungen aufgrund der Sanktionen gegen Russland in Europa immer stärker zu spüren sein werden.

Letztlich bleibt das Ziel der Ukrai­ne bei jeder Verhandlung, dass Moskau seine Truppen auf die Positionen vom 24. Februar zurückzieht. Gewisse Zugeständnisse könnte Kiew machen, indem es einen bewaffneten neutralen Status im Austausch für Sicherheitsgarantien akzeptiert.

Bis heute will keine der beiden Seiten einen Waffenstillstand. Während es Ende März in Istanbul noch möglich schien, im Gegenzug für ukrainische Zugeständnisse einen Rückzug der russischen Truppen aus den Re­gio­nen Cherson und Saporischschja zu erreichen, scheint es nun illusorisch, dass Russland dies tun wird.

Die Option, in den von Russland eroberten Gebieten neue „Volksrepubliken“ zu schaffen, hat der Kreml offenbar aufgegeben, da sich dieses Modell als Fehlschlag erwiesen hat – auch weil Kiew die Minsker Vereinbarungen, die die Wiedereingliederung der Gebiete in einen neuen föderalen Rahmen vorsahen, nie umgesetzt hat. Der Prozess der Eingliederung in die Russische Föderation hat längst begonnen. Gemanagt wird er von Sergei Kirijenko, dem Vizechef der russischen Präsidialverwaltung, der im Frühjahr und Sommer mehrmals die ukrainischen Gebiete unter russischer Kontrolle besucht hat.

Seit Ende Mai gilt dort der Rubel als Zahlungsmittel, das Verfahren zur Ausstellung russischer Pässe für die Bevölkerung hat Präsident Putin durch einen Erlass vereinfacht. Zurzeit laufen die Vorbereitungen für ein Referendum in den beiden Regionen, das voraussichtlich im Herbst stattfinden wird, möglicherweise am 11. September, denn für diesen Tag sind in Russland Regional- und Kommunalwahlen geplant.

Am 12. August besuchte eine russische Delegation die Region Luhansk, um die Abstimmung über den Anschluss an Russland vorzubereiten. In den Regionen Donezk und Charkiw, die nicht komplett von russischen Streitkräften kontrolliert werden, scheint ein Referendum zum jetzigen Zeitpunkt jedoch unrealistisch.

Sollte Russland sich diese Regionen einverleiben, stellt sich die Frage, was im Falle eines ukrainischen Angriffs auf diese Gebiete passieren würde. Moskau hat bereits gedroht, dass jeder Einsatz westlicher Artillerie gegen russisches Territorium oder vom Kreml als russisch angesehene Gebiete zu Angriffen auf bisher verschonte ukrai­nische Machtzentren (etwa das Parlament oder den Präsidentenpalast) führen würde.

Wie sich der Konflikt in den kommenden Monaten entwickeln wird, hängt vor allem vom Geschehen hinter der Front ab. Beide Kriegsparteien sind davon überzeugt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, und glauben, dass die Zeit für sie spielt. Aber wie lange noch?

Die Ukrainer setzen darauf, dass die gegen Russland verhängten Sanktionen ihre Wirkung entfalten werden, und rechnen mit neuen Waffenlieferungen. Moskau hingegen rechnet damit, dass die Ukraine wirtschaftlich kollabieren und die finanzielle Unterstützung des Westens nachlassen wird, es spekuliert auf eine politische Implosion des Landes.

Angesichts der Inflation in Europa, die auch eine Folge der explodierenden Energiepreise ist, fühlt sich Moskau bestätigt und sorgt für noch mehr Energieknappheit, indem es seine Gasexporte nach Europa, insbesondere über die Ostseepipeline Nord Stream 1, drosselt oder immer wieder unterbricht. Die Ukrainer ihrerseits drängen Deutschland energisch, die schleppende Freigabe der versprochenen wirtschaftlichen und militärischen Hilfe zu beschleunigen.3 Während Selenski im April sagte, sein Land benötige 7 Milliarden US-Dollar (6,75 Mil­liar­den Euro) pro Monat, um zu funktionieren,4 ließ sein Wirtschaftsberater Oleg Ustenko im Juli verlauten, es seien nun 9 Milliarden Dollar (8,9 Mil­liar­den Euro).5

Die Fortsetzung der bewaffneten Konfrontation steht für Russland, das den Konflikt für unausweichlich hielt, überhaupt nicht infrage. Der Kreml ist überzeugt, dass die ­Sanktionen Teil eines Wirtschaftskriegs des Westens gegen Russland sind, und dass sie auf jeden Fall bleiben werden. Deshalb könne man auch nichts gewinnen, wenn man die Kampfhandlungen in diesem Stadium einstellt.

In der Ukraine glauben die Befürworter einer Fortsetzung des Krieges wahrscheinlich, dass es möglich ist, zum Zustand einer quasi-offenen Konfrontation zurückzukehren, wie sie zwischen 2014 und 2022 herrschte – allerdings mit zusätzlichen Sicherheitsgarantien.

Weder in Kiew noch in Moskau ist wohl derzeit jemand offen für die Idee eines Friedens, der auf ausgehandelten Zugeständnissen aufbaut. Hier wie dort setzt man eher auf einen durch Waffengewalt erzwungenen Frieden, trotz des damit verbundenen Risikos von Instabilität und Rache­akten. ­Beide Seiten glauben, so den Konflikt für sich entscheiden und ihre Ziele durchsetzen zu können: Für Kiew ist das die territoriale Integrität und Sicherheit, für Moskau die Neu­tra­li­sierung der Ukraine und ebenfalls Sicherheit.

Aber inwieweit decken sich die Kriegsziele Kiews mit denen der Nato-Staaten, ohne deren Militärhilfe die Ukrai­ne nicht bis heute Widerstand hätte leisten können? Die finanzielle und militärische Hilfe des Westens zielt zuallererst darauf ab, einen Zusammenbruch der ukrainischen Armee und der Regierung zu verhindern.

Doch welcher Ausgang wird letztlich angestrebt? US-Präsident Biden hat angedeutet, man wolle einen Regimewechsel in Russland provozieren, doch das Weiße Haus wie das Außenministerium wiesen solche Absichten von sich.6 US-Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärte Ende April, man wolle, dass Russland aus dem Konflikt so geschwächt hervorgehe, dass es in Zukunft zu weiteren derartigen Angriffen nicht mehr in der Lage sei.7

London versucht, eine „östliche Barriere“ von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer zu errichten, um Russland einzudämmen, und knüpft damit an die Vorstellung vom „Gleichgewicht der Mächte“ an, die jahrhundertelang die britische Diplomatie gegenüber dem alten Kontinent geprägt hat.8 Insgesamt ist Europa gespalten zwischen den osteuropäischen Ländern, die für unerbittliche Härte gegenüber Moskau plädieren, und den Staaten des „alten ­Europa“, die eher dazu neigen, „Russland nicht in die Enge treiben“ zu wollen.

Eines aber ist sicher: Jede Lösung des Konflikts, egal wie sie aussieht, wird ein Schritt auf dem Weg zu einer neuen Sicherheitsordnung in Europa sein. Und diese Ordnung ist bereits im Entstehen begriffen.

1 10-Punkte-Papier: euromaidanpress.com.

2 Kommersant, Moskau, 22. April 2022.

3 Jorge Valero und Alberto Nardelli, „EU Stalls on Ukrai­ne Aid as Fears Spike of Gas Crisis at Home“, Bloomberg, 14. Juli 2022.

4 „Zelenskiy says Ukraine needs $7 billion per month to make up for losses caused by invasion“, Reuters, 22. April 2022.

5 Sam Fleming u. a., „Allies sound alarm over plight of Ukraine’s public finances“, Financial Times, 13. Juli 2022.

6 Phil Stewart, Brendan O’Brien und Humeyra Pamuk, „Biden says he is not calling for regime change in Russia“, Reuters, 28. März 2022.

7 Missy Ryan und Annabelle Timsit, „U.S. wants Rus­sian military ‚weakened‘ from Ukraine invasion, Austin says“, The Washington Post, 25. April 2022.

8 Simon Tisdall, „Boris Johnson is using Ukraine crisis to launch a British comeback in Europe“, The Guar­dian, 15. Mai 2022.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Igor Delanoë ist stellvertretender Leiter des französisch-russischen Beobachtungsdienstes in Moskau und promovierter Historiker.

Le Monde diplomatique vom 08.09.2022, von Igor Delanoë