08.09.2022

Fake me

zurück

Fake me

Die Persönlichkeit im Zeitalter ihrer virtuellen Reproduzierbarkeit

von Joe Dunthorne

Mathieu Pernot, Paris barrikadiert, 2018–2019
Audio: Artikel vorlesen lassen

In Fjodor Dostojewskis Roman „Der Doppelgänger“ wird das Leben des Protagonisten Jakow Petrowitsch Goljadkin ruiniert, als ein Doppelgänger auftaucht, der ihm aber nur äußerlich ähnelt. Nach und nach spannt der neue, deutlich sympathischere Goljadkin dem älteren die Freunde aus, ersetzt diesen am Arbeitsplatz und ist überhaupt viel besser und talentierter als das Original. Jakow versucht sein Leben zurückzuerobern, doch stößt er dabei immer wieder auf ein unüberwindliches Hindernis: Sein Doppelgänger ist einfach beliebter. Der Roman endet damit, dass Jakow wahnsinnig wird.1

Vor einigen Monaten kontaktierte mich ein Dichter und fragte, ob mein Instagram-Account gehackt worden sei. Bis dahin hatte ich gar nicht gewusst, dass ich einen habe. Irgendjemand hatte auf Instagram all meine banalen Twitter-Beiträge repostet, etwa über Seegurken, die bei Gefahr ihre Eingeweide herausschleudern, oder die Ähnlichkeit von Gary Oldman und George Saunders – und das mit erstaunlich großem Erfolg.

Mein Doppelgänger hatte nach nur vier Monaten mehr als 6000 Follower. Wenn Fake-Ich in diesem Tempo weitermachte, wäre es bald beliebter als mein echtes Ich, und – da in den sozialen Medien die Anzahl der Follower der einzige Maßstab für Authentizität ist – würde ich bald zu meinem eigenen Imitator werden. Also legte ich einen Account an und schickte meinem falschen Ich eine Nachricht. Ich bat ihn (ich dachte ihn mir als,ihn’), damit aufzuhören – woraufhin er mich sofort blockierte.

Ich bat meine Freunde, ihn in meinem Namen zu kontaktieren. Die Kommentare, mit denen sie Fake-Ich zur Rede zu stellen versuchten, wurden sofort als missbräuchlich gekennzeichnet und entfernt. Ich meldete das Problem Instagram, indem ich ein Onlineformular ausfüllte und ein Foto von mir mit meinem Pass in der Hand hochlud. Sobald ich auf „Senden“ geklickt hatte, durfte ich die Dreistigkeit des Haftungsausschlusses bewundern: „Wir setzen alles daran, die dringendsten Überprüfungen zu priorisieren. Das bedeutet, dass wir deine Identität vielleicht nicht überprüfen können oder es länger dauert als sonst.“ Mit anderen Worten: Du bist höchstwahrscheinlich nicht wichtig genug.

Da Instagram mir nicht antwortete, legte ich ein neues Profil unter dem Namen Joanna an und schickte Fake-Ich eine private Nachricht. „Hallo“, schrieb ich. „Ich hab alles von dir gelesen, selbst Unveröffentlichtes.“ – „Wow, vielen Dank!“, schrieb er zurück. „Ich möchte dieses Medium nutzen, um einem glücklichen Fan näher zu kommen. Wo wohnst du?“

„Ich lebe halb-halb in London und New York“, antwortete ich, um möglichst vage zu bleiben und dennoch glamourös zu klingen.

„Du wirkst sehr sympathisch“, schrieb er. „Bist du Single? Wenn ja, hier ist meine private Handynummer (es war eine US-amerikanische Nummer), schick mir einfach eine Nachricht, und ich schreib so schnell wie möglich zurück. Und bitte gib meine Nummer nicht weiter. Ich bin gerade im Studio, schreib mir einfach, ich melde mich so schnell wie möglich. Noch mal danke, dass du Fan bist.“

Zwischen mir und Fake-Ich schien die Chemie sofort zu stimmen. Ich dachte darüber nach, ihm zu schreiben, doch dann zögerte ich, denn das hätte bedeutet, meine richtige Telefonnummer preiszugeben. Also bestellte ich eine neue SIM-Karte – mein burner phone, wie ich es bewusst nannte – und kaufte bei einem Mann, der sich im Internet Igor nannte, eine kleine schwarze Box zum Aufzeichnen von Tele­fongesprächen.

Erst dann schrieb ich meinem Doppelgänger eine Nachricht über Whatsapp: „Sorry, dass ich dir nicht gleich geantwortet habe. Ich war zu aufgeregt!“ Und weiter: „Wollen wir telefonieren? Bist du im Studio?“ (Mir gefiel der Gedanke, dass ich ein Studio hatte.) Doch er antwortete nicht. Ich stellte fest, dass sein Profilbild bei Whatsapp ein anderes war als bei Instagram. Bei Ins­ta­gram war es eins meiner Autorenfotos, hier eine unheimliche Gestalt in Kapuzenpulli vor einem Laptop, das Gesicht verborgen hinter einem Fragezeichen. Halb Hacker, halb Sensenmann.

Ich wartete den ganze Tag auf eine Rückmeldung, dann – ich badete gerade meinen kleinen Sohn – klingelte das Telefon. Es war ein Videoanruf von Fake-­Ich. Ich sah den Kapuzenmenschen auf meinem Bildschirm aufleuchten. Mit Schaum an den Fingern nahm ich ab und drehte die Kamera Richtung Decke, um nicht gesehen zu werden. Auf den Bildschirm schielend stellte ich fest, dass er die Kamera ausgeschaltet hatte. Einen langen Moment sprach keiner von uns ein Wort, denn wir sahen ja weder so aus noch klangen wir so wie die Menschen, die wir vorgaben zu sein.

Mein Doppelgänger sah nur die Deckenlampe meines Badezimmers sowie Schwaden von aufsteigendem Wasserdampf. Im Hintergrund konnte er ein Kleinkind hören, wie es mit einer Quietscheente gegen die Fliesen schlug. Ich starrte auf den dunklen Bildschirm und lauschte seinem leisen Atmen. Wir waren Fremde im Dunkeln, die einander anatmeten. Nachdem Fake-­Ich festgestellt hatte, dass ich wahrscheinlich nicht derjenige war, der ich vorgab zu sein, legte er auf und blockierte mich.

Ich beruhigte mich damit, dass solche Dinge ständig passieren. Jonathan Franzen zum Beispiel wird so oft die Identität geklaut, dass er auf seinem Desktop ein Foto von sich gespeichert hat, auf dem er einen Zettel in der Hand hält: „Ich bin nicht bei Twitter“. Regelmäßig schickt er dieses Foto an die zuständigen Behörden, die dann – so nehme ich jedenfalls an – unverzüglich aktiv werden. Schön und gut, wenn du Jonathan Franzen bist. Doch das Geniale daran, sich als jemanden wie mich auszugeben, ist, dass es niemanden schert – außer mich.

Ich hatte immer noch nichts von Ins­ta­gram gehört und formulierte – zusehends wütender – eine weitere Beschwerde. Ich schrieb, dass sich das Risiko für ihre User erhöhe, je länger sie nicht handelten, und dass es nicht um mich gehen würde (dabei ging es natürlich ausschließlich um mich). Als ich auf „Senden“ klickte, ploppte sofort eine Warnmeldung auf: „Die Systeme von Facebook haben festgestellt, dass du zu schnell vorgegangen bist. Du musst deutlich langsamer handeln. Dein Verhalten könnte von anderen Nutzern als lästig oder beleidigend empfunden werden.“ Jetzt war also ich der Troll? Ich, mit meinem Burner-­Phone, meinem Abhörgerät, meinem Fake-Account und meiner selbstgerechten Mission? Skandal!

Mein Verleger riet mir, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Es sei nicht der Mühe wert, die es erfordern würde, um Accounts wie diesen sperren zu lassen. Aber ich steckte schon zu tief drin. Ich legte ein neues Fake-Konto bei Instagram an und startete einen weiteren erniedrigenden Versuch, Fake-Ich zu verführen. Wir fingen an, uns Nachrichten zu schreiben, irgendwann schrieb er, dass er mir gern „näherkommen“ würde (get up close). Eine Telefonnummer schickte er mir diesmal nicht. Ich schlug vor, ihn zu bezahlen, wenn er mir beim Dichten half. Ich hoffte, dass er mir seine Kontodaten schicken und so etwas über sich preisgeben würde.

Ich hätte mir denken können, dass er in Bitcoins bezahlt werden wollte. Außerdem wollte er, dass ich – bevor er sich meine Gedichte anschaute – „einen Vertrag, eine eidesstattliche Erklärung und eine Geheimhaltungsklausel“ unterschreibe, „damit wir sicher sein können, dass das alles legal ist“. Seine plötzliches Engagement für Recht und Gesetz war geradezu rührend. Mit Hilfe eines Onlinegenerators für Haikus verfertigte ich einige Gedichte und schickte sie an seine E-Mail-Adresse: joe­dun­thorne39@yahoo.com. Während ich darauf wartete, dass die Unterlagen bei ihm ankamen, begannen wir zu chatten.

Fake-Ich machte Ferien in Florida, lag in der Sonne und ging in den Freizeitpark. Sein Lieblingsfilm war „Fast and Furious 9“, und er hoffte, dass es auch noch einen zehnten Teil geben würde. Er hörte gern Country, Old School HipHop und R’n’B. Er antwortete spontan und schien nicht mehr über seine Antworten nachzudenken. Er hatte seine Rolle verlassen.

In diesem Fall schien es sehr wahrscheinlich, dass ich es mit einer realen Person zu tun hatte, die sich wahrscheinlich in Florida befand, wahrscheinlich ein junger Mann, vielleicht in den Ferien, vielleicht beim Abendessen mit seinen Eltern, deren Blicke gerade den beängstigend schnellen Bewegungen seiner Daumen folgten und dabei in sein bläulich schimmerndes Gesicht sahen, sich fragend, was so interessant sein könnte, dass ihr Junge sie vollkommen vergessen zu haben schien.

Ich hörte nie wieder was von meinen Gedichten, denn Fake-Ich hatte größere Pläne. Auf Instagram forderte er seine (unsere?) Fans zum Kauf meines neuen Buchs auf. Willkommene Gratiswerbung – bis er seine Follower mit noch mehr Verve dazu animierte, in Kryptowährungen zu investieren. Das war also das große Finale. Er ak­tua­li­sier­te sein Profil, jetzt stand da: „Romancier und Dichter. Krypto-Lover“. Er empfahl einen befreundeten Anlageberater, Tyler, der, wie sich herausstellte, seinerseits der Doppelgänger eines bekannten Krypto-Analysten war.

Von einem meiner Fake-Accounts begann ich eine Unterhaltung mit Fake-Tyler, der mir prophezeite „Millionen zu machen“, wenn ich nur „die unendlichen Chancen“ ergriffe. Wir schrieben eine Woche lang hin und her, wobei ich versuchte, sein Seelenleben zu ergründen, während er mich zu überzeugen versuchte, in ein Unternehmen namens Metaco zu investieren. Keiner von uns kam damit besonders weit. Ich fand heraus, dass Metaco ebenfalls ein Fake war, die Imitation einer real existierenden Investmentfirma.

Während das echte Unternehmen Metaco in der Schweiz saß, ­hatte ­Fake-Metaco eine Adresse in Nord­rumä­nien – in der malerischen mittelalterlichen Stadt Suceava. Und seine Webseite war auf den Kokosinseln registriert. Mit anderen Worten: Es schien ein internationales Fake-Netzwerk zu geben, das sich auf die Erwartung gründete, Leute würden Anlagetipps von einem Dichter und Roman­cier annehmen.

Wir leben in einem goldenen Zeitalter des Internetbetrugs. 2021 haben US-­Ame­ri­ka­ne­r:innen 3,5 Milliarden Dollar durch Onlinebetrügereien verloren, von denen viele hochkomplex und gleichzeitig unsagbar dumm sind. So investierten User 3,3 Millionen Dollar in die Kryptowährung Squid, die den Käu­fe­r:in­nen versprach, dass sie in einem von der südkoreanischen Netflix-Serie „Squid Game“ inspirierten Videospiel gehandelt werden könne. Der Wert pro Squid-Game-Coin stieg in knapp zwei Wochen um 30 Millionen Prozent – was eine Menge Leute steinreich gemacht hätte, wenn die ganze Sache nicht erstunken und erlogen gewesen wäre.

Dann waren da noch die 2,7 Millionen US-Dollar, die Menschen in digitale Affenbildchen investierten. Tatsächlich war das sogar ein doppelter Betrug. Erstens, weil den Käu­fe­r:in­nen versichert wurde, dass es sich bei diesen sogenannten NFTs (Non Fungible Token) um zeitlose Werke digitaler Kunst handle, zweitens, weil sie hohe Beträge an eine Organisation überweisen sollten, die gar nicht existierte. Wenn man mit solchen Maschen erfolgreich sein kann, stellte sich die Frage, ob mein Doppelgänger tatsächlich ein böses Genie war, das meiner treuen Fangemeinde Millionen aus der Tasche zog.

Ich kann nur vermuten, dass Fake-Ich nicht besonders viel Kohle gemacht hatte, weil ich nämlich eines schönen Tages ausrangiert wurde. Er änderte seinen Namen und sein Profilbild. Er gab sich jetzt als junger, schneidiger Krypto-Analyst namens Koroush aus. In den Videos, die er postete, sah man ihn im Garten seines riesigen rundum verglasten Hauses einhändig Klimmzüge machen, während er in der anderen Hand ein MacBook balancierte. Ich gebe zu, ich war ein wenig gekränkt.

Merkwürdigerweise waren meine Gedichte immer noch da, überlagert von neuen Posts über brasilianisches Ju-Jutsu und Shisharauchen in Dubai. Bei mir löste das den merkwürdigen Gedanken aus, dass ich irgendwie aufgestiegen war: ein Dichter mit einem Portfolio und gestähltem Oberkörper.

Ein paar Wochen später sah ich, dass Fake-Ich seinen Namen und sein Bild abermals geändert hatte: Er war jetzt Diego, ein 21-jähriger spanischer Kryptomillionär; dann verwandelte er sich erneut und wurde zu einem äußerst gutgelaunten Marktanalysten und Youtuber namens Donovan, und so ging es weiter.

Ungefähr einmal im Monat nahm er eine neue Gestalt an, doch meine Gedichte blieben stets in den Tiefen seines Profils verborgen. Als ich noch einmal versuchte, Kontakt aufzunehmen – ich verwendete jetzt den kryptofreundlichen Namen Ja­kow Goljadkin –, stellte er sein Konto auf privat um, so dass ich nicht mehr sehen konnte, was er postete. Ich war von mir selbst ausgeschlossen.

Auf mich selbst zurückgeworfen, blieb mir nichts anderes übrig, als noch mal über die Bedeutung unserer früheren Unterhaltungen nachzudenken. Wenn es die ganze Zeit nur um Kryptos gegangen war, warum hatte er dann einem „glücklichen Fan näherkommen“ wollen? Ich befragte alle meine Freunde, die mit Fake-Ich in Kontakt gewesen waren. Langsam dämmerte mir, dass ich der Einzige war, dem mein Doppelgänger seine Telefonnummer gegeben hatte. Ich brauchte einige Tage, um die unausweichliche Schlussfolgerung zu akzeptieren: Fake-Ich war nur interessiert gewesen, weil Real-Ich so scharf darauf gewesen war.

1 Vor Kurzem erschien die deutsche Erstübersetzung der Urfassung von 1846: Fjodor Dostojewski, „Der Doppelgänger“, Übersetzung und Nachwort von Alexander Nitzberg, Berlin (Galiani) 2021.

Aus dem Englischen von Anna Lerch

Joe Dunthorne ist Schriftsteller. Zuletzt erschien die Gedichtsammlung „O Positive“, London (Faber & Faber) 2019.

© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.09.2022, von Joe Dunthorne