Großbritannien aus den Fugen
Die neue Regierungschefin Liz Truss ist wie ihr Vorgänger Boris Johnson eine Hardlinerin der Thatcher-Schule. Mit marktradikalen Methoden lässt sich die aktuelle Energie- und Kostenkrise aber nicht bewältigen – zumal das Vereinigte Königreich sozial und politisch nie so gespalten war wie heute.
von Jamie Maxwell
Am 4. August warnte die Bank of England vor einem Abdriften der britischen Volkswirtschaft in eine tiefe Rezession, die bis Ende 2023 andauern werde. Die Zentralbanker rechneten da schon mit einer Inflationsrate von 13 Prozent, dem höchsten Stand seit 42 Jahren, und warnten, der Lebensstandard werde aufgrund stagnierender Löhne und steigender Energiekosten weiter sinken.1
Fünf Wochen später hatte Liz Truss die Nachfolge von Boris Johnson als Premierministerin des Vereinigten Königreichs angetreten, Königin Elizabeth II. war im Alter von 96 Jahren gestorben, und die britische Wirtschaft war in den freien Fall übergegangen.
Bei ihrer Ehrung der verstorbenen Monarchin wählten die Regierungschefs von einst und heute verschiedene Variationen desselben Themas: Für Truss war Elizabeth „der Fels, auf dem das moderne Großbritannien errichtet wurde“; der ehemalige Labour-Premier Tony Blair sah in ihr „die Mutterfigur unserer Nation“; und John Major, Blairs konservativer Amtsvorgänger, beschrieb sie als „weise und selbstlos“ in der Ausübung ihrer Pflichten. Doch die Phrasen, in denen die Westminster-Elite unisono die nationale Einheit beschwor, wirkten, je öfter sie wiederholt wurden, immer weniger überzeugend.
Nur Stunden vor dem Tod der Queen hatte Liz Truss dem Unterhaus einen umfangreichen Krisenplan vorgelegt, der einen ökonomischen Absturz verhindern soll. So verkündete die neue Regierungschefin einen kreditfinanzierten Zusatzhaushalt von 150 Milliarden Pfund (umgerechnet circa 171 Milliarden Euro), eine Liste von Steuersenkungen und weitere Deregulierungsmaßnahmen. Da ein womöglich historischer Wirtschaftseinbruch drohe, so Truss, sei „kühnes Handeln“ geboten.
Zerbricht das Vereinigte Königreich?
Die Finanzmärkte waren weniger überzeugt. Als der neuernannte Finanzminister Kwasi Kwarteng am 23. September sein „Minibudget“ präsentierte, das nicht gegenfinanzierte Steuergeschenke an die Superreichen in Höhe von 2 Milliarden Pfund vorsah, reagierten die Investoren verschreckt. Tags darauf stürzte das britische Pfund ab, und die Bank of England intervenierte mit einem umfassenden Ankauf von Staatsanleihen, um das Vertrauen in die britische Wirtschaft zu stärken.
Als Anfang Oktober der Parteitag der Tories in Birmingham begann, hatten Truss und Kwarteng eine demütigende Niederlage erlitten. Der Finanzminister mussten die Steuergeschenke wieder einkassieren, und die Premierministerin musste eingestehen, sie hätte die unerwartete Wende in der britischen Wirtschaftspolitik wohl „besser vorbereiten müssen“.
An den Dimensionen des zunächst angekündigten Ausgabenpakets lässt sich die Tiefe der sozialen Krise ermessen. Die Energiekosten für die privaten Haushalte haben sich in den letzten zwölf Monaten fast verdoppelt (von 1400 auf 2500 Pfund pro Jahr).2 Immer mehr Familien müssen sich verschulden, zudem steigen die Kosten für die Bedienung laufender Hypotheken. Im kommenden Winter werden mindestens 8 Millionen Familien nicht ausreichend heizen, weil sie kaum die nötigsten Ausgaben bestreiten können.
Boris Johnson hat Liz Truss ein Land hinterlassen, das aus den Fugen zu geraten droht. Die düsteren Perspektiven der britischen Wirtschaft haben zum Teil mit dem Brexit zu tun. Das Office for Budget Responsibility schätzt in seiner offiziellen Prognose, dass die von Johnson Ende 2019 ausgehandelte Brexit-Vereinbarung das britische BIP auf absehbare Zeit um 4 Prozent pro Jahr mindern könnte. Die britischen Exporte in die EU sind 2021 gegenüber dem Vorjahr um 13,6 Prozent eingebrochen, laut EU-Kommission eine direkte Folge des Brexit.
Allerdings sind es nicht nur ökonomische Faktoren, die das Vereinigte Königreich einer Zerreißprobe aussetzen. Am Beginn einer neuen Ära unter Charles III. ist die Verfassungsordnung selbst von Auflösungserscheinungen bedroht. In Schottland stimmte beim Brexit-Referendum von 2016 eine große Mehrheit (62 Prozent) gegen den Ausstieg aus der Europäischen Union.
Und die von Nicola Sturgeon geführte Regierung der separatistischen Scottish National Party (SNP) will erneut über ein unabhängiges Schottland abstimmen lassen.
Sturgeon will vom Obersten Gericht des Vereinigten Königreichs grünes Licht für ein „beratendes“ (also nicht verbindliches) zweites Referendum, das sie für Oktober 2023 anstrebt. Wird das nicht bewilligt, wird sie die nächsten gesamtbritischen Wahlen – irgendwann im Jahr 2024 – in eine De-facto-Abstimmung über ein eigenständiges Schottland umfunktionieren.
Nordirland ist ein Brexit-Fall für sich. Das Gezerre um die Austrittsmodalitäten, die in dem zwischen London und Brüssel ausgehandelten Protokoll vom 31. Januar 2020 festgelegt sind, hat die politischen Institutionen in Belfast lahmgelegt. Die Unionisten sehen durch diese Regelungen die Zugehörigkeit Nordirlands zum Vereinigten Königreich gefährdet, weshalb sie das Protokoll zerreißen wollen. Solange es in Kraft ist, weigern sie sich, die Koalition mit der Sinn Féin fortzusetzen, die seit 2007 in Belfast bestanden hatte.3
Die EU will an der Vereinbarung unbedingt festhalten. Wie immer die Sache ausgeht – der britischen Regierung stehen monatelange zermürbende Verhandlungen bevor, die ein rechtliches Dilemma auflösen sollen, für das Johnson verantwortlich ist, weil er die Bindungen seines Landes an die EU überhastet kappen wollte.
Das politische Chaos, in dem Großbritannien derzeit versinkt, ist in der Nachkriegsgeschichte nahezu beispiellos. Rechte Kommentatoren ziehen zwar oft eine Parallele zu den unruhigen 1970er Jahren, die durch eine galoppierende Inflation und erbitterte Arbeitskämpfe gekennzeichnet waren. Aber damals standen keine konstitutionellen Themen wie die schottische Unabhängigkeit oder ein vereinigtes Irland auf der Tagesordnung. Und damals bemaß das Land die Vorteile des Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft – und nicht die eines EU-Austritts.
Der Historiker David Edgerton formulierte einmal eine kühne These, die mittlerweile immer plausibler klingt: Die berühmte „Britishness“ habe als kohärente politische Identität nur kurze Zeit existiert. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, verblasste sie schon nach gut 50 Jahren in den von vielen als die Hochphase der Ära Blair betrachteten frühen 2000er.
Aber schon vor Blairs Amtszeit (1997–2007) wurden die zentralen Institutionen, in denen diese „Britishness“ verankert war – das Empire, die Schwerindustrie, der Wohlfahrtsstaat und eine starke Gewerkschaftsbewegung – immer weiter abgebaut.
Zudem spielte die „Devolution“ der späten 1990er Jahre beim Dahindämmern dieses speziellen Nationalismus eine Rolle. Dieser Prozess der Föderalisierung diente der Scottish National Party als Sprungbrett für ihr Streben nach Unabhängigkeit und stärkte auch in Wales den Wunsch nach regionaler Selbstregierung. Dadurch wurde eine konstitutionelle Lücke umso augenfälliger: das Fehlen eines eigenen englischen Staatswesens.
Dank der Devolution hatten Schottland und Wales seit 1999 eigenständige Parlamente; und seit 1998 gehörte die nationalistische Sinn Féin in Nordirland (mit Unterbrechungen) der Regierung an. Die Entscheidung Blairs, britische Truppen für den Irakkrieg der Bush-Regierung abzustellen, war in Schottland besonders unpopulär und verschaffte der SNP auf Kosten der schottischen Labour Party Zugewinne, so dass sie 2007 erstmals die Regierung in Edinburgh stellen konnte.
Die Vormacht der schottischen Nationalisten wurde noch mehr gestärkt, als Blair seinen neoliberalen Kurs verschärfte und die nachfolgende konservative Cameron-Regierung nach der Finanzmarktkrise von 2008 den Sozialstaat weiter abbaute. Die Labour Party konnte ihren Niedergang in Schottland nur kurzzeitig aufhalten, als sie unter Jeremy Corbyn neue Visionen entwickelte, die unter anderem eine dezentralisierte Verfassung vorsahen.
Am meisten zum Absterben der „Britishness“ beigetragen hat allerdings die Konservative Partei mit ihrem unionistischen Partner in Nordirland. In den 1980er Jahren hat die Thatcher-Regierung einen Großteil der staatlichen Unternehmen – vom Eisenbahnnetz bis zur Stahlindustrie – privatisiert, die das Rückgrat der britischen Wirtschaft waren. Und im Kampf gegen die britischen Bergarbeiter hat sie der Gewerkschaftsbewegung das Genick gebrochen.
Nordirland ist ein Brexit-Fall für sich
Die Deregulierung des Finanzsektors im Interesse der Londoner City hatte zur Folge, dass sich die ökonomischen Aktivitäten im Südosten Englands konzentrierten, was zulasten der klassischen Industrieregionen in Zentralschottland, Nordengland und Südwales ging.
Ähnlich destruktive Auswirkungen hatte der Brexit. Der Ausstieg aus der EU wurde zwar in der Sprache des britischen Nationalismus beschworen, aber die Haupttriebkräfte waren englische Interessen. Zudem hatte das Brexit-Projekt die unbeabsichtigte Folge, die in England herrschende Gleichgültigkeit gegenüber der Verbindung mit Schottland zu vertiefen.
2019 ergab eine Meinungsumfrage, dass von den Mitgliedern der Konservativen Partei 63 Prozent das Ausscheiden Schottlands (und Nordirlands) aus dem Vereinigten Königreich begrüßen würden, wenn damit ein Hindernis für den Ausstieg Englands beseitigt wäre. Dieselbe Meinung vertraten nach einer weiteren Umfrage mehr als drei Viertel derjenigen Tory-Wähler, die für den Brexit gestimmt hatten.
Seit 2016 lautet die zentrale politische Aussage der SNP, dass Schottland nach dem Brexit als unabhängiger Staat erneut der EU beitreten werde. Vor diesem Hintergrund bezeichnete Edgerton den Brexit als „notwendige Krise“: Er habe die fundamentalen Schwächen der britischen Union offenbart und aufgezeigt, dass das Vereinigte Königreich schon lange ein kränkelndes Staatswesen mit ungleicher innerer Machtverteilung sei.4
Boris Johnson versuchte in seiner Regierungszeit die tiefer werdenden Risse im sozialen und konstitutionellen Gebälk zuzukleistern, indem er erstens auf die Souveränität des „Westminster Systems“ pochte und zweitens ein ausgeglicheneres Wachstum innerhalb des Vereinigten Königreichs versprach.
Teil eins dieser Strategie ging nach hinten los. Als sich konservative Minister in London daranmachten, die Rechte der Parlamente in Schottland und Wales zu beschneiden, lösten sie in Edinburgh und Cardiff erbitterten Widerstand aus, womit sie die Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland und Wales sogar befördert haben dürften.5
Auch in Nordirland hatte der Brexit unbeabsichtigte Folgen: Er trug dazu bei, die Unionisten bei den Wahlen im Mai 2022 zu schwächen und damit Sinn Féin den Sieg zu sichern. Die irischen Republikaner stellen nun die stärkste Fraktion im Belfaster Parlament – dessen Arbeit allerdings durch die Unionisten blockiert wird, die sich weigern, eine gemeinsame Regierung im Sinne des vereinbarten „power-sharing“ zwischen Unionisten und Republikanern zu bilden.
Auch Teil zwei von Johnsons Strategie ist nicht aufgegangen: Bei seinem Einzug in 10 Downing Street im Juli 2019 hatte er noch gelobt, das Wohlstandsgefälle im Lande „einzuebnen“ („level Britain up“).
Tatsächlich ist Großbritannien heute das westeuropäische Land mit dem größten Einkommens- und Vermögensgefälle zwischen den einzelnen Regionen, was hauptsächlich auf die einseitige Entwicklung der britischen Wirtschaft in der Thatcher-Ära zurückgeht. Ein Beispiel: In Glasgow, der größten und ärmsten Stadt Schottlands, liegt die Lebenserwartung bei 73 Jahren; in den Chiltern Hills südöstlich von London dagegen bei 83 Jahren.
Sein Versprechen wollte Johnson durch die Verlagerung der Investitionen aus dem reichen Süden in die vernachlässigten Regionen des Nordens einlösen. Drei Jahre später ist davon, trotz eines speziellen „levelling up“-Ministeriums, nichts zu sehen: Die regionale Ungleichheit und die Armutsgefährdung haben sich im Gegenteil eher noch verschärft. Nach den Daten des Londoner Institute for Public Policy Research lag der Anteil der Working-Poor-Haushalte schon 2020 mit 17,4 Prozent höher als je zuvor.
Der „Johnsonismus“ war von Beginn an ein politischer Ideenmix. Nachdem er Theresa May aus Downing Street verdrängt hatte, verfolgte Johnson zwei Ziele: Corbyns Labour Party besiegen und „den Brexit durchziehen“. Mit dem Wahlsieg vom 12. Dezember 2019, der den Tories eine Mehrheit von 80 Sitzen im Unterhaus verschaffte, war das erste Ziel erreicht; das zweite mit dem formellen Ausstieg aus der EU zum 31. Januar 2020.
Doch danach ging es nur noch abwärts. Johnsons sogenannte Coronastrategie war eine Katastrophe: Er flirtete mit der umstrittenen Theorie von der „Herdenimmunität“, schwänzte wiederholt Krisentreffen im Cabinet Office und lavierte immer wieder unschlüssig zwischen Öffnung und Lockdown. Anfang 2021 verzeichnete das Land eine der höchsten Covid-Todesraten der Welt, und die britische Wirtschaft sackte – laut Internationalem Währungsfonds (IWF) – in die schlimmste Rezession aller G7-Länder ab.
Der „Partygate“-Skandal, der ab Januar 2022 ans Licht kam, brachte den Tories im Juni zwei krachende Niederlagen bei den Nachwahlen zum Unterhaus ein. Als dann im Juli noch die Missbrauchsaffäre um Chris Pincher, den Vizefraktionsvorsitzenden der Konservativen im Unterhaus, hinzukam, waren viele Tory-Abgeordnete mit ihrer Geduld am Ende. Johnson hatte Pincher auf den hohen Posten gehievt, obwohl er über dessen sexuelle Übergriffe informiert war. Als er das bestritt, wurde ihm diese Lüge zum Verhängnis.
Sein Sturz wurde am Ende von seinem eigenen Kabinett organisiert. Als Johnson Anfang September aus dem Amt schied, lag Labour in Umfragen 11 Prozentpunkte vor den Tories (Anfang Oktober war der Vorsprung auf 23 Punkte angestiegen). Das lag aber nicht nur an Johnson. Die Konservative Partei wirkte insgesamt erschöpft und ausgelaugt – das Resultat von 12 zermürbenden Jahren an der Regierung und einer unendlichen Folge politischer Turbulenzen: von der Brexit-Kontroverse und dem Referendum über die schottische Unabhängigkeit bis zur Coronapandemie seit 2020 und der drastischen Verteuerung der Lebenshaltungskosten in jüngster Zeit.
Das ganze Ausmaß der Tory-Fatigue offenbarte sich im innerparteilichen Wettstreit um Johnsons Nachfolge, die sich über den ganzen Sommer hinzog. Liz Truss und ihr Hauptrivale, Ex-Finanzminister Rishi Sunak, überboten sich gegenseitig in ihrer Berufung auf den 40 Jahre alten Thatcherismus: Truss gebärdete sich als rebellische libertäre Thatcher-Wiedergängerin, Sunak gab den fiskalisch strengen Thatcheristen und Verfechter einer restriktiven Geldpolitik zur Bekämpfung der Inflation.
Doch weder Truss noch Sunak präsentierten einen seriösen Plan gegen das Absinken des allgemeinen Lebensstandards und den ökonomischen Verfall. Im Gegenteil: Insbesondere Truss wehrte sich gegen neue „milde Gaben“ aus der Staatskasse und polemisierte gegen Ökonomen, die das Land „in die Rezession reden“ wollen. Im Rennen gegen Sunak hatte sie von Anfang an die Nase vorn, weil sie die provinziellen Instinkte der Tory-Basis weitaus besser bediente als ihr Konkurrent.
Als Truss am 5. September zur neuen Tory-Vorsitzenden gewählt wurde, war das keine Überraschung. Sie gewann die Stimmen von 57 Prozent der Parteimitglieder – also einer Gruppe überwiegend weißer und wohlhabender Menschen fortgeschrittenen Alters, die gerade mal 0,2 Prozent der britischen Gesamtbevölkerung darstellen.
Am 6. September 2022 wurde Johnson in 10 Downing Street von seiner ehemaligen Außenministerin abgelöst, die sich übrigens an der Rebellion gegen Johnson in der Pincher-Affäre (anders als die meisten Kabinettsmitglieder) nicht beteiligt hatte. Seit ihrem Amtsantritt gefällt sich die neue Premierministerin in der Rolle als nationale Mittlerin. In Wahrheit ist sie eine originalgetreue Johnson-Kopie und genauso unberechenbar populistisch wie ihr Amtsvorgänger.
Noch als Außenministerin trat sie im August binnen weniger Tage von einem Fettnapf in den nächsten. Zuerst bezeichnete sie Nicola Sturgeon, die demokratisch gewählte Regierungschefin Schottlands, als „geltungssüchtige Person“, die man „ignorieren“ sollte. Dann denunzierte sie den britischen öffentlichen Dienst ohne Begründung als Hort des Antisemitismus. Und schließlich beleidigte sie den französischen Präsidenten, von dem man nicht wisse, ob er „ein Freund oder ein Feind“ Großbritanniens sei.6
In der Brexit-Frage ist Truss eine späte, aber radikale Konvertitin. Das hat sie auch mit ihrem Vorgänger gemeinsam. Zudem ist sie wie Johnson in der Parteirechten verankert und wird wie dieser den reaktionärsten Segmenten der britischen Boulevardpresse nach dem Mund reden, insbesondere bei brisanten Themen wie Einwanderung und Transgender-Rechten.
Im Übrigen ist der „Trussism“ – wie der „Johnsonism“ – mehr Stimmung als Programm. Der Erfolg der neuen Premierministerin hängt also davon ab, ob sie die konservativen Stammwähler bei der Stange halten kann.
Was die Verfassungsfrage betrifft, so wird Truss an Johnsons harter Linie festhalten. Im August erklärte sie noch als Außenministerin, sie werde niemals zulassen, dass „unsere Familie aufgelöst wird“, womit sie das Vereinigte Königreich meinte. An die Adresse der SNP präzisierte sie: „Als gewählte Premierministerin werde ich kein weiteres Unabhängigkeitsreferendum genehmigen.“7
Wie ein zweites Referendum zu verhindern wäre, geht aus einem Bericht der Sunday Times hervor. Demnach denkt Truss darüber nach, die Regel dahingehend zu ändern, dass ein neues Referendum nur dann stattfinden kann, wenn mindestens 60 Prozent der schottischen Wählerschaft dafür sind. Auch das Quorum für ein positives Votum soll erschwert werden: Künftig sollen die Ja-Stimmen von 50 Prozent der Wahlberechtigten erforderlich sein – und nicht wie bisher der abgegebenen Stimmen. Das würde es Nicola Sturgeon fast unmöglich machen, ein Unabhängigkeitsreferendum zu gewinnen.8
Auch im Konflikt um das Nordirland-Protokoll wird Truss hart bleiben. Noch im Juni hat sie als Außenministerin einen Gesetzentwurf eingebracht, der darauf hinauslief, alle zentralen Bestimmungen des Protokolls einseitig aufzuheben. Damit provozierte sie eine heftige Reaktion der EU-Kommission, die in der Vereinbarung ein international verbindliches Abkommen sieht, das für Frieden und Stabilität auf der irischen Insel wichtig ist.
So sehen es auch die nordirische Sinn Féin und die Regierung in Dublin. Truss dagegen wollte mit ihrem Gesetzentwurf signalisieren, dass London auf seine nationalen Interessen pocht und nach Vollzug des Brexit nicht mehr hinnimmt, sein Handeln von den Bürokraten in Brüssel diktieren zu lassen – und auch nicht durch die Rücksicht auf innenpolitische Probleme in den Randgebieten des Königreichs.
Nichts spricht dafür, dass sie mit ihrer aggressiven Strategie zur Verteidigung der Union mehr Erfolg haben wird als Johnson. Truss setzt darauf, dass der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs die Forderung der SNP nach einem neuen Referendum abweisen wird und dass bei der schottischen Bevölkerung das Interesse an einem selbständigen Staat irgendwann versiegt. Zudem sieht sie die Fehde mit Edinburgh als Chance, sich als Kämpferin für die Einheit zu inszenieren.
Wie Truss die Unabhängigkeit Schottlands verhindern will
Allerdings könnte ihre Blockadehaltung auch der SNP in die Hände spielen. Wenn die Tories den demokratischen Weg zur Unabhängigkeit blockieren, riskieren sie, die Kluft zwischen England und Schottland zu vertiefen und Sturgeons Argumentation zu stützen, die da lautet: Schottland wird innerhalb des Vereinigten Königreichs als Geisel gehalten und von seinem dominanten Nachbarn England in eine Union eingesperrt, die das schottische Volk zunehmend als illegitim empfindet. Während die Befürworter der Unabhängigkeit in Schottland früher in der Minderheit waren, kommen sie heute auf knapp 50 Prozent und könnten in den nächsten Monaten noch an Boden gewinnen.
Ein ähnlicher Effekt könnte auf der irischen Insel eintreten. Nach ihren durch den Brexit begünstigten Wahlerfolgen fordert die Sinn Féin einen „border poll“, eine Abstimmung über die innerirische Grenze, sprich die Einheit Irlands. Laut Umfragen vom Mai 2022 sind nur noch 48 Prozent der nordirischen Bevölkerung für den Verbleib im Vereinigten Königreich – 2020 waren es noch 54 Prozent. Und in der Republik Irland hat Sinn Féin gute Aussichten, nach den Wahlen in drei Jahren zur Regierungspartei zu werden.
Nachdem sich Truss im Wettstreit um die Parteiführung noch als Johnson-Loyalistin bezeichnet hat, muss sie sich als Regierungschefin nun mit all den innenpolitischen Problemen herumschlagen, die ihr Johnson mit seinem Brexit-Experiment eingebrockt hat. Zudem droht unter dem Druck der Krise die Koalition aus Südenglands konservativen Wählerschichten und den traditionellen Labour-Wählern im Norden zu erodieren, die Johnson 2019 an die Macht gebracht hat.
Nach einer Meinungsumfrage vom Dezember 2021 dürften von den 45 Sitzen, die Johnson in Nordengland und in Wales mit seiner Brexit-Strategie gewonnen hat, bei den nächsten Wahlen 42 wieder an Labour gehen. Das liegt vor allem daran, dass die angekündigte „Einebnung“ der ungleichen Lebensverhältnisse zugunsten des Nordens ausgeblieben ist. Ein weiterer Grund ist die endlose Serie von Fehlleistungen und korrupten Praktiken in der Endphase von Johnsons Amtszeit.
Truss kann nur hoffen, dass sie mit ihrer Entscheidung, die explodierenden Energiepreise für die Konsumenten zu deckeln,9 die Umfragewerte der Tories wieder hochziehen kann. Das mag ihr für eine begrenzte Zeit sogar gelingen. Dazu muss sie sich allerdings gegen diverse Widerstände durchsetzen – und nicht zuletzt gegen die Grundsätze ihrer eigenen neoliberalen Ideologie handeln, wonach jede Staatsintervention des Teufels ist.
Deshalb verkündete die Regierungschefin am 8. September das Einfrieren der Energiepreise nur widerwillig. Sie handelte erst, als klar war, dass Nichtstun ein politisches Desaster wäre. Zum Ausgleich setzte Truss eine ganze Latte von Maßnahmen zur Angebotsförderung durch, getreu ihrem neoliberalen Credo, wonach weniger Steuern und Regulierungen zu mehr Wachstum führen. Sie kappte die Abgaben zugunsten grüner Energien, kürzte bei den Sozialversicherungsleistungen und schaffte die Prüfung der Umweltverträglichkeit bei der Erschließung von Schiefergas oder bei neuen Öl- und Gasvorkommen in der Nordsee ab.
Zur Umsetzung dieser „Reformen“ verkündete der neue Finanzminister Kwasi Kwarteng ein ganzes Feuerwerk von Maßnahmen, die ganz im Geiste Thatchers darauf zielen, den Finanzplatz London zu stützen und aufzupeppen. Das chaotische Minibudget, das er am 23. September vorlegte, sah nicht nur die Kappung des Spitzensteuersatzes vor; auch die Deckelung der Bonuszahlungen für die Banker, die in Reaktion auf den Finanzcrash von 2008 eingeführt worden war, sollte wieder aufgehoben werden.
„Eine starke britische Wirtschaft war immer auf einen starken Finanzdienstleistungssektor angewiesen“, erklärte Kwarteng, der früher selbst in der Branche gearbeitet hat. „Wir brauchen globale Banken, um hier Jobs zu schaffen, hier zu investieren, hier in London Steuern zu zahlen und nicht in Paris, Frankfurt oder New York.“
Der große Gewinner ist auf jeden Fall die Labour Party. Deren Vorsitzender Keir Starmer hat Truss mit seinen wirtschaftspolitischen Vorschlägen offensichtlich ausmanövriert: Sein Versprechen, die exzessiven Gewinne der Energiekonzerne durch eine Sondersteuer abzuschöpfen, kommt bei den Wählerinnen und Wählern sehr gut an. 49 Prozent der Bevölkerung glauben, dass Starmer die auf das Land zukommenden Probleme klar im Blick hat, von Truss denken das nur 35 Prozent. Die Zustimmung für die Regierungschefin sank Anfang Oktober auf den historisch Tiefstand von 20 Prozent.10
Labour hat sich nach der radikalen Corbyn-Phase unter der nüchternen, vielleicht sogar ganz bewusst langweiligen Führung Starmers erneut in der politischen Mitte positioniert. Wie Truss will auch Starmer nicht mit der SNP über Schottlands Unabhängigkeit verhandeln. Und in Bezug auf die irische Frage hat er mit der traditionell neutralen Labour-Position gebrochen und erklärt, er werde im Fall eines Referendums für den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich eintreten.
Auch Starmers Wirtschaftspolitik kann man nicht unbedingt progressiv nennen. Nach seiner Wahl zum Vorsitzenden hatte er der Parteibasis noch einen „Corbynismus ohne Corbyn“ versprochen, doch inzwischen hat er das ökonomische Programm seines Vorgängers weitgehend gekippt. Und sein früheres Bekenntnis zu öffentlichen Versorgungsunternehmen und Mitbestimmung im Privatsektor taucht in seinem Wirtschaftsprogramm nicht mehr auf.
Allerdings bekennt sich Starmer zu einer womöglich folgenschweren Revision des britischen Verfassungssystems. Er hat den früheren Labour-Premier Gordon Brown beauftragt, die Machtverteilung innerhalb des föderalen Verbunds mit Schottland, Wales und Nordirland zu überdenken. Brown kam im Juli 2022 auf seinen alten Vorschlag zurück, das Oberhaus – mit ernannten, also nicht gewählten Mitglieder – durch einen „Senat der Nationen und Regionen“ zu ersetzen.
Was Starmer von Browns Vorschlägen übernimmt, bleibt abzuwarten. Aber auch die sind vielleicht nicht weitreichend genug, um das britische politische System ins 21. Jahrhundert zu führen. Doch allein die Tatsache, dass über solche konstitutionellen Grundsatzfragen gesprochen wird, zeigt, wie ungewiss die Zukunft des Vereinigten Königreichs mittlerweile ist.
Auch die neue Serie von Arbeitskämpfen verstärkt das Grundgefühl von Krise und Niedergang. Die ersten Streiks vom Juni und Juli organisierte die Gewerkschaft der britischen Eisenbahner (RMT) in Reaktion auf die steigenden Lebenshaltungskosten bei stagnierenden Löhnen. Inzwischen sind weitere Gruppen in den Ausstand gegangen: kommunale Beschäftigte in Glasgow und Edinburgh, Werftarbeiter in Liverpool, das Buspersonal in Bedford und Buckinghamshire.
Einige der Streiks wurden in der Woche vor dem Begräbnis der Königin abgesagt, „aus Respekt für sie und ihre Verdienste um das Land“, wie es die Gewerkschaften der (längst privatisierten) Royal Mail und der Bahnangestellten begründeten. Aber für den Winter sind weitere Arbeitsniederlegungen geplant, vor allem im öffentlichen Gesundheitssektor. Die in Trauer geeinte Nation ist nur eine Fassade, hinter der sich die Risse im Mauerwerk des Vereinigten Königreichs weiter vertiefen.
1 The Guardian, 4. August 2022.
2 Siehe James Meek, „No Cup of Tea“, LMd, November 2021.
3 Siehe Daniel Finn, „Zwei Länder – eine Partei“, LMd, Juni 2022.
4 Siehe David Edgerton, „Brexit is a necessary crisis“, The Guardian, 9. Oktober 2019.
5 Siehe Michael Keating, „The UK’s union has been fractured by Brexit“, LSE blogs, 23. April 2021.
6 „Macron skewers Truss over ‚friend or foe‘ comments“, Politico, 26. August 2022
8 „Liz Truss’s team mull bill to wreck indyref2 campaign“, Sunday Times, 3. September 2022.
10 Liz Truss’ approval rating, Politico, 5. Oktober 2022.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Jamie Maxwell ist Journalist in Glasgow.