11.08.2022

Schwimmen lernen

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Schwimmen lernen

von Philippe Baqué

Piscine d’Évreux, 1984 GIL RIGOULET
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Aubervilliers im Februar 2022. Eine Leiter lehnt an dem hohen Metallzaun zwischen Kleingärten und Baustelle. Von hier aus lassen sich die Fortschritte des künftigen Sport- und Freizeitbads gut beobachten – wobei man heute lediglich ein paar Bauarbeiter sieht, die sich an einem riesigen Betonmischer zu schaffen machen.

„Wir haben uns letzte Woche an dieses Ding gekettet, um die Betonierung der Parzellen zu stoppen, von denen man uns vertrieben hat“, erzählt die Kleingärtnerin Dolores Mijatovic. Sie und ihre Mit­strei­te­r:in­nen nennen das 4000 Quadratmeter große Gelände, auf dem bis vor Kurzem noch Obstbäume standen und Gemüse gezogen wurde, „jardin à défendre“ (zu verteidigenden Garten) – in Anlehnung an die legendäre ‚zone à défendre‘ gegen den Bau des Großflughafens im bretonischen Notre-Dame-des-Landes.

Nachdem Paris zum Austragungsort für die Olympischen Sommerspiele 2024 gekürt worden war, bewarb sich die Verwaltung des Pariser Vororts Aubervilliers darum, die Wettkämpfe im Wassersport auszurichten. Den Zuschlag erhielt dann zwar die Nachbargemeinde Saint-Denis. Aber dafür setzte die kommunistische Bürgermeisterin von Aubervilliers, Meriem Derkaoui, den Bau einer Trainingsstätte durch – mit einem 50-Meter-Becken für Sportvereine, einem öffentlichen 25-Meter-Bassin und einem Freizeitbereich mit Saunen, Hamam, Gymnastikhalle und Solarium. Das 33-Millionen-Euro-Projekt – zu einem Drittel finanziert von der staatlichen Olympia-Baugesellschaft Solideo (Société de Livraison des Ouvrages Olympiques) – übernahm dann 2020 die neue Bürgermeisterin Karine Franclet vom Mitte-rechts-Bündnis Union des démocrates et indépendants (UDI). Sie will das Bad von einem Privatunternehmen betreiben lassen.

Im Winter trafen wir auch Arthur Mondésir vom „Kollektiv zur Verteidigung der Arbeitergärten in Aubervilliers“: „Wir sind nur gegen den Bau des Solariums auf einem Teil unserer Gemüsegärten. Sie existieren seit 100 Jahren, sind artenreich und ernähren viele Familien“, erklärte er damals. „Gegen die Schwimmbecken haben wir gar nichts. Sie werden auf einem ehemaligen Parkplatz gebaut. Aber anstatt hier diesen Riesenkomplex hinzusetzen, wäre es besser, mehrere Schwimmbäder in verschiedenen Stadtteilen zu bauen, damit auch andere Leute etwas davon haben.“

Laut dem Bericht der unabhängigen Beobachtungsstelle für Ungleichheiten (Observatoire des inégalités) vom November 2020 leben 45 Prozent der Bevölkerung von Auber­villiers unterhalb der Armutsgrenze. Das große Hallenbad soll nun zusammen mit dem Ökowohnquartier am Fort d’Aubervilliers und den geplanten Bauten um die zukünftige Metro­sta­tion neue und kaufkräftigere Be­woh­ne­r:in­nen anziehen.

Mittlerweile sieht es jedoch so aus, als müsse die Stadtverwaltung bei ihrem Vorhaben Abstriche machen, die Aktivitäten der Gegner des Hallenbads zeigen Wirkung: Am 9. März lehnte das Pariser Verwaltungsberufungsgericht den interkommunalen Bebauungsplan ab und verordnete einen Baustopp. Der Erhalt der Artenvielfalt sei nicht berücksichtigt worden. Bürgermeisterin Franclet und Mathieu Hanotin, Präsident des Gemeindeverbands Plaine Commune, zu dem Aubervilliers gehört, konzentrieren sich seither auf die Olympiabauten und haben das Solarium gestrichen.

Der Kampf der Kleingärtner von Aubervilliers fand Nachahmer. Im Gemeindeverband Val Parisis (Département Val-d’Oise) regt sich Widerstand gegen eine 45 Millionen Euro teure Schwimmhalle für Sportler:innen. Und im strukturschwachen Saint-Denis, wo wie überall in Frankreich der Zugang zu Wassersportmöglichkeiten die sozialen und regionalen Risse der Gesellschaft abbildet, steht der gesamte Olympiakomplex (Kostenfaktor 180 Millionen Euro) in der Kritik.

Die ersten öffentlichen Schwimmbäder und Volksbäder für die Körperhygiene wurden Ende des 19. Jahrhunderts eröffnet. Die 1884 eröffnete Piscine Château-Landon war das erste Hallenbad in Paris. Das Wasser in dem 40-Meter-Becken wurde von den Fabriken von La Villette beheizt. Einige Fabrikbesitzer ließen damals sogar neben den Wohnsiedlungen für ihre Arbeiter Schwimmbäder bauen.1

Zu den Avantgardisten gehörte der Ofenfabrikant und frühe Sozialist Jean-Baptiste André Godin, der 1860 in Guise (Aisne) das Familistère errichten ließ, ein imposantes Backstein­ensemble mit 500 komfortablen Wohnungen, genossenschaftlichen Läden, zwei Schulen und einem Bade- und Waschhaus. Zehn Jahre später kam eine Schwimmhalle mit beweglichem Spaltenboden hinzu, die wie das Badehaus von der benachbarten Fabrik beheizt wurde. Hier sollten die Arbeiter und ihre Familien schwimmen lernen.

Anfang des 20. Jahrhunderts integrierten an Hygienekonzepten interessierte Stadtplaner Schwimmbäder in Pläne für den sozialen Wohnungsbau.2 Doch allgemein zeigte der Staat wenig Interesse: Vor den Olympischen Spielen 1924 gab es in Frankreich gerade einmal 20 Schwimmbäder, 7 allein in Paris. Deutschland besaß zu dieser Zeit bereits 1362 und England 806.

Erst für das Sportgroßereignis wurden in Paris weitere ganzjährig nutzbare Schwimmhallen gebaut, wie 1922 die von ihrem Architekten Louis Bonnier so genannte „usine à nager“ (Schwimmfabrik) von La Butte-aux-Cailles im 13. Pariser Arrondissement. Sie ergänzte das dort bereits 1908 errichtete Volksbad, das bis heute über eine unterirdische Warmwasserquelle versorgt wird. Mehrere Städte ließen in den kommenden Jahren Schwimmbäder bauen, um den Schwimmsport zu verbreiten; in ­Rennes wurde 1926 die Piscine Saint-Georges eröffnet, in Lyon 1934 die Piscine Garibaldi, die in den 1970er Jahren aufwendig restauriert wurde.

Die Volksfront-Regierung unter Premierminister Léon Blum bemühte sich ab 1936 um Sport- und Freizeitangebote für alle. Doch die Entwicklung wohnortnaher und preisgünstiger Einrichtungen wurde durch den Zweiten Weltkrieg jäh unterbrochen. Zwischen 1945 und 1960 blieb der Schwimmbadbau auf lokale Initiativen beschränkt. Gebadet wurde vor allem in Flüssen, Seen oder im Meer.

Doch viele konnten nicht schwimmen und ertranken – die häufigste Todesursache nach dem Krieg, behauptet Axel Lamotte, der 1986 den Berufsverband der Bademeister und Rettungsschwimmer gründete: „Schwimmer wie der ehemalige Widerstandskämpfer André Blaty setzten sich dafür ein, dass am 24. Mai 1951 ein Gesetz verabschiedet wurde, das die Überwachung von kostenpflichtigen Badeorten vorschrieb und zur Ausbildung anerkannter Bademeister und Rettungsschwimmer führte. Es ging darum, das Schwimmen sicherer zu machen, aber auch darum, dass die Menschen schwimmen lernten.“

Ab 1960 galten Schwimmbäder als Angebot von öffentlichem Interesse, um Schü­le­r:in­nen den Zugang zum Schwimmsport zu ermöglichen. Der Staat subventionierte zwar den Schwimmbadbau, aber viele Projekte kamen gar nicht erst zustande, weil das Geld fehlte. Bei den Olympischen Spielen in Mexiko 1968 schnitten die französischen Schwimmer sehr schlecht ab, im Jahr darauf ertranken 19 Kinder bei einer Sommerfreizeit in der Loire und dann 24 Menschen, darunter 14 Mädchen, bei einem Schiffsunglück auf dem Genfer See. Nun musste etwas geschehen.

1969 startete das Staatssekretariat für Jugend und Sport das Programm „1000 piscines“. Das Land sollte flächendeckend mit Schwimmbecken versorgt werden, die kostengünstig in Serie produziert und großzügig subventioniert wurden. Bis Anfang der 1980er Jahre wurden überall in Frankreich die vier Schwimmbadmodelle Tournesol (Sonnenblume), Caneton (Entlein), Iris oder Plein Ciel (freier Himmel) auf die grüne Wiese gesetzt: mit 25-Meter-Becken und 15-Meter-Nichtschwimmer-Bassins inklusive Schiebeüberdachung zur ganzjährigen Nutzung. „Schlussendlich wurden 822 Schwimmbäder gebaut“, berichtet der Sportwissenschaftler Fabien Camporelli. „Aber die Gemeinden merkten schnell, dass ein Schwimmbad eine komplexe Angelegenheit ist. In der Ölkrise mussten die Behörden Betriebskosten reduzieren. Sie versuchten, die Einrichtungen rentabel zu machen, und kamen schließlich auf ein neues Konzept: das Erlebnisbad.“

1989 eröffnete der Pariser Bürgermeister Jaques Chirac das damals größte Erlebnisbad Europas, den Aqua­boulevard an der Porte de Versailles – mit Riesenrutschen, Wasserfällen, Wasserkanonen, Schlauchbooten, Becken für Aquagymnasitik und Aquacycle sowie Fitness- und Krafträumen. Die vom Unternehmen Forest Hill realisierte und von der Stadt Paris mitfinanzierte Anlage hat schätzungsweise 450 Mil­lio­nen Euro gekostet.

Fast 30 Jahre später bezeichnete der französische Rechnungshof in seinem Jahresbericht von 2018 den Zustand der Schwimmbäder im Land als „veraltet“. Die Hälfte der Einrichtungen seien vor 1977 entstanden und benötigten eine umfassende Sanierung.3 Da das Betriebsdefizit – von durchschnittlich 640 000 Euro pro Bad – für kleine Gemeinden kaum zu stemmen ist, werden immer mehr Schwimmbäder von Gemeindeverbänden (établissements publics de coopération intercommu­nales, EPCI) realisiert. Sie sind die Bauträger und sorgen für den Betrieb und die Finanzierung. Dadurch konnten die staatlichen Subventionen erheblich reduziert werden.

Der Rechnungshofbericht offenbarte zudem ein krasses Ungleichgewicht bei der regionalen Verteilung. In sozia­len Brennpunktvierteln liegt die Versorgungsrate pro Einwohner 40 Prozent unter dem nationalen Durchschnitt. Außerdem stellte der Rechnungshof fest, dass die Ausstattung der bestehenden Bäder nicht mehr zeitgemäß sei, und empfahl den Gemeinden, das Angebot zu erweitern, was gleichzeitig mehr Einnahmen generieren würde, so dass man schon beim Bau weniger Zuschüsse durch den Staat einplanen könne.

Thierry Brézillon, Ausbilder für Berufe in Bäderbetrieben und ehemaliger Leiter des Schwimmbads Malbentre in Pujols (Lot-et-Garonne), erzählt, wie sich das Berufsbild gewandelt hat. Früher hätten Bademeister den Job gemacht, die ihre „Kernaufgaben in Sicherheit, Hygiene und Schwimmunterricht sahen. Heute sollen sie Manager und Geschäftsleute sein.“ So sei man immer mehr dazu übergegangen, den Leitungsposten mit Absolventen im Marketing, mit Betriebswirten oder sogar Großhändlern zu besetzen.

In den 1990er und 2000er Jahren kümmerten sich die Gemeinden kaum um den Haushalt ihrer Bäder. Defizite waren normal und wurden in die allgemeinen Kosten eingerechnet. Das hat sich komplett geändert: „Die Energie- und Wasserkosten wurden in den letzten Jahren durch ein striktes Management und energieeffizientere Gebäude deutlich gesenkt. 2022 sind die Schwimmbäder für die Gemeinden weniger kostenintensiv“, berichtet Thierry Brézillon. Aber das reiche nicht. „Die Behörden wollen die Betriebskosten weiter senken. Dafür sind sie bereit, am Personal zu sparen, den Service runterzufahren und die Zeitfenster mit wenig Publikum abzuschaffen. Sie lassen die Vereine zahlen. Manche Schwimmbäder wollen sogar den Schwimmunterricht reduzieren.“

Und manche nehmen damit Geld ein, dass sie sich als Werbeträger verkaufen, wie das im Olympiajahr 1996 eröffnete Schwimmbad Antigone in Montpellier, das seit Ende 2020 Angelotti heißt – wie der Firmengründer des Immobilienunternehmens, das der Gemeinde über eine Laufzeit von sechs Jahren 120 000 Euro dafür zukommen lässt. Das Angelotti ist quasi rund um die Uhr geöffnet, während die öffentlichen Schwimmbäder nur eingeschränkte Öffnungszeiten haben.

Viele Gemeinden delegieren den Betrieb ihrer Bäder mittlerweile an eine bestimmte Art Privatunternehmen, die auf die Übernahme öffentlicher Aufgaben spezialisiert sind. Laut Rechnungshof werden inzwischen 30 Prozent der seit 2005 eröffneten Bäder von Privaten verwaltet, das sind bereits 15 Prozent der insgesamt verzeichneten 4135 Schwimmbäder in Frankreich. „Diese großen privaten Firmen haben in die öffentlichen Schwimmbäder Know-how eingebracht, das sie häufig in Fitnessketten erworben haben. Sie übernehmen von dort das Abo-System, erweitern das Angebot und orientieren sich an bestimmten Zielgruppen“, erklärt Sportwissenschaftler Camporelli. In Fünfjahresverträgen mit diesen Betreibern legt die öffentliche Hand nur die Reservierung für Schulklassen, Vereine und Sportklubs sowie die Eintrittspreise fest.

Für den Schwimmunterricht von Schulkindern erhalten die Unternehmen eine jährliche Ausgleichszahlung. Der Rechnungshof beanstandet jedoch, dass bestimmte Vertragsklauseln den Firmen zu viele Vorteile gewähren. So werden einige von den Gemeinden an Gewinnen beteiligt, was profitabler ist als eine jährliche Vergütung. Auch die Vorschriften für Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst ließen sich mit einem Privatunternehmen umgehen,4 erklärt Thierry Prat, Schwimmbad-Dezernent der Stadt Rennes. Arbeitskräfte werden oft nur befristet und je nach Bedarf beschäftigt.

Schwimmbadoffensive mit Modell Entlein

Cécile Waterlot ist Geschäftsführerin des Schwimmbads von Ham im Dé­parte­ment Somme. Sie ist ausgebildete Bademeisterin, Rettungsschwimmerin und Schwimmlehrerin. „Ich musste mich durchsetzen, denn Bademeister war damals ein reiner Männerberuf“, sagt sie.

Ihr Schwimmbad wird inzwischen wieder vom Gemeindeverband verwaltet, nachdem es eine Zeit lang von einem großen Privatunternehmen betrieben worden war. Bevor sie die Leitung in Ham übernahm, arbeitete Cécile Waterlot in einem Fitnesscenter: „Ich habe alle Fitnessaktivitäten auf den Wasserbereich übertragen und ein umfangreiches Freizeit-, Sport – und Wellnessangebot entwickelt. Meine Kompetenzen wurden anerkannt, mittlerweile bilde ich selbst Bademeister und Sportlehrer aus.“

Der Beruf des Bademeisters hat sich mit der Weiterentwicklung der Schwimmbäder ebenfalls verändert und ist spezialisierter geworden: Staatlich geprüfte Bademeisterinnen und Rettungsschwimmer werden zu Sport­leh­re­r:in­nen fortgebildet, mit besonderem Schwerpunkt auf Schwimmunterricht. Wer lediglich das Rettungsschwimmerdiplom hat, darf selbst nicht unterrichten und soll nun vor allem während der Sommersaison an den Stränden und in den Freibädern die Bademeisterei unterstützen.

Mit der Verbreitung der Erlebnisbäder und des Managements durch Privatunternehmen entstand zudem ein neuer Spezialberuf. Nun gibt es das Berufsbild „Fachpersonal für Jugendarbeit, Volkserziehung und Sport, Fachgebiet Wasser- und Schwimmaktivitäten“. Dies sei eine neue Erfindung des Sportministeriums, sagt Fabien Camporelli: „Sportlehrkräfte werden jetzt zu vielseitig einsetzbaren soziosportiven Animateuren. Man kann übrigens inzwischen auch ein Bademeisterdiplom an der Universität machen. Es gibt mittlerweile sechs Berufsabschlüsse für die Beaufsichtigung eines Schwimmbads. Ein riesiges Durcheinander. Und gleichzeitig gibt es zu wenige Bademeister.“

Ende Februar 2022 erschien ein Bericht über den alarmierenden Personalmangel in Schwimmbädern und an Stränden.5 Trotzdem würde er jungen Leuten nicht dazu raten, die neue Ausbildung zu machen, meint Jean-Michel Lapoux, Generalsekretär der Bademeister- und Rettungsschwimmer-Vereinigung: „Viele wechseln nach ein paar Jahren sowieso den Beruf. Diese Ausbildung dauert ein Jahr und kostet 6500 Euro. Nur wenige junge Leute können sie überhaupt finanzieren. Und manche Ausbildungsinstitute verdienen sich damit eine goldene Nase. Früher fand die Schulung zum Bademeister oder zur Rettungsschwimmerin in den Schulferien statt und kostete fast nichts.“

In den öffentlichen Bädern werden immer mehr Stellen gekürzt und Verträge erst nach sechs Jahren entfristet. In den privat geführten Bädern sind befristete Verträge die Regel. Kein Wunder, dass viele junge Leute nicht mehr Bademeister werden wollen. Hinzu kommen die schlechte Bezahlung, unregelmäßige Arbeitszeiten und Konflikte mit gewalttätigen Badegästen, vor allem im Sommer, wenn es heiß ist und die Becken überfüllt sind.

Das Problem der Badeaufsicht könnte sich noch verstärken, weil sich die Polizei, die seit 1958 im Sommer bestimmte Strände bewacht, aus der Wasserrettung zurückzieht. Nachdem der Rechnungshof diese staatliche Hilfe kritisiert hatte, kündigte Innenminister Collomb 2018 eine Überprüfung an und erklärte, die Sicherheitskräfte sollten sich wieder auf ihre ursprünglichen Kernaufgaben konzentrieren. Nun ersetzen die Gemeinden nach und nach die Polizeikräfte durch ziviles Personal. Die Kosten für die Beaufsichtigung der Badestellen und Bäder müssen sie nun komplett selbst tragen.

Von der Bademeisterin zur soziosportiven Animateurin

„Ich bin froh, dass ich am Ende meiner Berufslaufbahn stehe und nicht mehr am Anfang“, bekennt Chris­tophe Baudraz, Leiter des Schwimmbads von Nevers. „Bei der Prävention von Badeunfällen sind wir auf demselben Stand wie vor 15 Jahren. Es ist eine Katastrophe.“ Jedes Jahr nach der Sommersaison veröffentlicht das französische Gesundheitsamt Santé pu­blique France, die Zahl der Unfalltoten durch Ertrinken und leitet daraus eine Schätzung für das Gesamtjahr ab. Die Behörde kommt dabei auf durchschnittlich 1000 Fälle im Jahr (davon die Hälfte in der Sommerperiode). Bei den unter 25-Jährigen ist Ertrinken die häufigste Unfallursache mit Todesfolge im Alltag.

Die meisten ertrinken während der Sommermonate im Meer (47 Prozent im Jahr 2021), in fließenden Gewässern oder in Seen (39 Prozent der Todesfälle). In öffentlichen und privaten Schwimmbädern lag der Anteil bei 0,7 Prozent und in hauseigenen Pools tatsächlich bei 13 Prozent, wobei Kleinkinder unter 5 und Erwachsene über 65 Jahre hier besonders gefährdet sind – eine bedenkliche Statistik, gerade angesichts der jüngsten Zunahme von privaten Pools in Zeiten von Corona und Hitzesommern. Frankreich ist, trotz des katastrophalen ökologischen Fußabdrucks solcher Pools, mit 3,2 Mil­lio­nen Stück im Jahr 2021 der nach den USA zweitgrößte Absatzmarkt weltweit.6

Todesfälle durch Ertrinken seien „zumeist vermeidbar“, schreibt das Gesundheitsamt und erklärt, es sei nie zu spät, schwimmen zu lernen. 2016 hieß es, dass eine von sieben erwachsenen Personen in Frankreich überhaupt nicht schwimmen könne und eine von drei sich nicht in der Lage fühle, mindestens 50 Meter weit zu schwimmen.7

Der Erwerb der Schwimmfähigkeit wird im Lehrplan der Schulen zwar als „nationale Priorität“ und Schwimmen als „Grundkompetenz“ bezeichnet. Doch 2019 offenbarte ein Bericht die Schwierigkeiten bei der Erhebung des Schwimmniveaus von Schulkindern: 88 Prozent von ihnen behaupteten am Ende der 5. Klasse, sie könnten schwimmen; aber nur 82 Prozent bekamen in der 6. Klasse von der Schule ihre Schwimmfähigkeit bescheinigt.8

Die Ungleichheit beim Zugang zum Schwimmunterricht in den verschiedenen französischen Gemeinden und Departements ist nach wie vor erheblich. Laut einem Bericht des Bildungsministeriums schaffte 2014 im sozial schwachen Département Seine-Saint-Denis nördlich von Paris nur jedes zweite Schulkind zu Beginn der 6. Klasse die Schwimmprüfung.9 Nach der Schließung der Schwimmbäder während der Coronapandemie dürfte die Zahl der Kinder, die nicht schwimmen können, noch gestiegen sein.

Sei es mangels Schwimmbädern, verfügbarer Zeitfenster oder Finanzmittel für den Bustransport: Viele Kommunen geben den Kindern keine Möglichkeiten, schwimmen zu lernen. Zudem muss der Anfängerunterricht durch die schulische Lehrkraft mit Unterstützung eines professionellen Bademeisters oder ausgebildeten Ehrenamtlichen erfolgen. „Viele Gemeinden wollen keine Bademeister für den Schulschwimmunterricht bezahlen. Alles hängt von den Ehrenamtlichen ab, Eltern oder Rentnern, die wenig oder gar nicht ausgebildet sind und häufig auch gerade keine Zeit haben“, beklagt Jean-Michel Lapoux.

Wegen fehlender Schwimmbäder haben die Gemeinden von Seine-Saint-Denis, die Stadtverwaltung von Marseille und viele andere Kommunen Frankreichs in Schulen und Vierteln mittlerweile kleine mobile Pools aufgestellt, in denen Ba­de­meis­te­r:in­nen den Kindern das Schwimmen beibringen. Laut Lapoux „ein Rückfall in die 1970er Jahre, in die Zeit vor dem Programm ‚1000 piscines‘, als kleine mobile Plastikbassins von Stadt zu Stadt wanderten, damit die Kinder darin schwimmen lernten“.

1 „Piscines et paternalisme“, Allgemeines Kulturerbeverzeichnis, Region Hauts-de-France, 2017.

2 Antoine Le Bas, „Des piscines et des villes: genèse et développement d'un équipement de loisir“, Histoire urbaine, Nr. 1, Paris 2000/01.

3 „Les piscines et centres aquatiques publics: un modèle obsolète“, Rapport public annuel de la Cour des comptes, Februar 2018.

4 Jean-Damien Lesay, „Sports – Régie directe ou DSP, les piscines nagent entre deaux eaux“, Banque des territoires, 18. November 2016.

5 „Recensement des besoins en surveillance de pis­cines“, Erhebung von Andes und anderen, Präsentation vom 28. Februar 2022.

6 Siehe Rubin Prudent und Brice Le Borgne, „Du Sud au Nord, la vague des piscines privées déferle sur la France, à contre-courant de la crise climatique“, Franceinfo, 25. Juli 2022.

7 Gaëlle Pédrono, Jean-Baptiste Richard, Bertrand Thélot und die Gruppe Baromètre santé 2016, „Capacité à nager des 15-75 ans de France métropolitaine. Analyse des données des baromètres santé 2010 et 2016“, Bulletin épidémiologique hebdomadaire, Santé publique France, 30. Mai 2017.

8 Thierry Maudet und Véronique Éloi-Roux, „Pour une stratégie globale de lutte contre les noyades“, Ministerium für Bildung und Jugend, Juni 2019.

9 „Tous nageurs et toutes nageuses in Seine-Saint-Denis“, Kolloquium am 14. April 2016, Bobigny.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Philippe Baqué ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.08.2022, von Philippe Baqué