Eine Metro für Belgrad
von Ana Otasević
Es war der erste offizielle Besuch eines französischen Präsidenten in Serbien seit fast 18 Jahren. Als Emmanuel Macron im Juli 2019 nach Belgrad reiste, wollte er vor allem die Absicht signalisieren, wieder im Westbalkan zu investieren. Für die französische Diplomatie sei die Region lange ein „toter Winkel“ gewesen, wie sich Nathalie Loiseau, die damalige Ministerin für europäische Angelegenheiten, ausdrückte.
Macron nahm eine Abordnung wichtiger französischer Wirtschaftsbosse mit nach Belgrad, wo er seinem „Freund“, Präsident Aleksandar Vučić, versprach, „die lockeren Verbindungen zu festigen“. Dieser wiederum hatte ein Jahr zuvor bei seinem Besuch in Paris französischen Konzernen einige Großaufträge in Aussicht gestellt: „Vinci wird den Flughafen von Belgrad übernehmen, Suez große kommunale Projekte in Belgrad managen, und mit Alstom und Egis führen wir Gespräche über den Bau der Belgrader U-Bahn.“
In der serbischen Hauptstadt leben 1,7 Millionen Menschen, ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Landes.1 Belgrad ist eine der wenigen Großstädte Europas ohne U-Bahn-Netz. Seit 1923 gab es zwar zahlreiche Metro-Projekte, aber keines wurde realisiert. Der rasant zunehmende Autoverkehr, der die veraltete Infrastruktur überfordert, macht eine Neustrukturierung des Verkehrssystems unausweichlich.
2011 erhielt der französische Bahntechnologiekonzern Alstom den Auftrag, bis 2017 eine erste U-Bahn-Linie für geschätzte 1 Milliarde Euro zu bauen. Die Machbarkeitsstudie übernahm das französische Unternehmen Egis, finanziert wurde sie mit 3,8 Millionen Euro aus dem Studien- und Unterstützungsfonds der französischen Regierung für den Privatsektor.
Dann gab es 2012 in Belgrad einen Machtwechsel und Aleksandar Vučić wurde Parteichef der regierenden Serbischen Fortschrittspartei SNS. 2014 avancierte er vom stellvertretenden Ministerpräsidenten zum Regierungschef. Seit 2017 ist er Präsident. Vučić öffnete das Land für chinesische Investitionen. Im April 2019 unterbreitete Peking ein Angebot für den „schlüsselfertigen“ Bau von zwei U-Bahn-Linien, betrieben mit „rollendem Material“ des chinesischen Industriegiganten CRRC (China Railway Rolling Stock Corporation). Zudem wurde mit dem Hochbau-Tiefbau- und Energieunternehmen Power China ein Kooperationsprotokoll unterzeichnet, dessen Details nicht bekannt sind.
Der Deal mit den Chinesen ist typisch für Vučić und seine außenpolitische Strategie, „auf zwei Stühlen gleichzeitig zu sitzen“, sagt die Wirtschaftsjournalistin Anica Telesković. Mit Macrons Besuch von 2019 rückte der französische Stuhl wieder in Reichweite. Im November 2020 unterzeichnete Franck Riester, Frankreichs Vizeminister für Außenhandel, in Belgrad ein zwischenstaatliches Abkommen über „vorrangige Projekte“. Für deren Umsetzung verabschiedete das serbische Parlament ein Sondergesetz über die Finanzierung strategischer Projekte, zu denen vorrangig die Belgrader U-Bahn zählt. Dank dieser Sonderreglung, erläutert Telesković, konnte „die geltende Gesetzeslage zur Vergabe öffentlicher Aufträge umgangen und ohne Ausschreibung direkt verhandelt werden“.
Ergebnis: Paris finanzierte die 8,3 Millionen Euro teure neue Machbarkeitsstudie, wiederum von Egis. Die Gesamtkosten für die ersten zwei U-Bahn-Linien beziffert Vučić auf „mindestens 4,4 Milliarden Euro“. Wenn die längerfristig geplante dritte Linie dazukommt, veranschlagt Egis die Gesamtkosten auf rund 6 Milliarden Euro. Damit ist die Belgrader U-Bahn die größte Infrastrukturinvestition in Südosteuropa und wird die serbische Staatsverschuldung erheblich in die Höhe treiben.
Das aktuelle Projekt sieht nicht mehr – wie frühere Pläne – eine Stadtbahn vor, die teils Straßenbahn, teils U-Bahn ist, sondern eine vollständig unterirdische Bahn, die entsprechend deutlich teurer ist. „Das ist schon eine erstaunliche Leistung“, kommentiert der Nahverkehrsexperte Vladimir Depolo, der als Leiter des Belgrader U-Bahn-Projekts mit Egis den ersten Plan ausgearbeitet hatte: „Sie planen jetzt ein U-Bahn-System, das dreimal mehr kostet, und Alstom kriegt 60 Prozent vom Kuchen ab.“
Chinesisch-französische Kooperation
In einem am 22. Januar 2021 in Belgrad unterzeichneten Protokoll wurde eine Kooperation zwischen Serbien, Frankreich und China vereinbart. Demnach soll Alstom für das Verkehrssystem verantwortlich sein und Power China für den Bau. Für die Anschaffung französischer Schienenfahrzeuge und die technische Ausrüstung der Linie 1 wird Serbien ein Kredit von 454 Millionen Euro gewährt, teils direkt aus der französischen Staatskasse, teils von Bpifrance Assurance Export, einer Tochter der staatlichen Investitionsbank.
Das Planungsbüro von Egis liegt im Stadtzentrum, in unmittelbarer Nähe seines Kunden Beogradski metro i voz (Metro und Bahn von Belgrad). Leiter dieses staatlichen Unternehmens ist Stanko Kantar, der bei den französischen Ingenieuren eine radikale Änderung des Streckenverlaufs der U-Bahn-Linie 1 durchgesetzt hat. Die durchquert nun nicht mehr die am dichtesten bewohnten Viertel beidseitig der Save, sondern verläuft nur am rechten Saveufer.
Die neue Strecke liegt damit nicht mehr auf der Hauptachse Belgrads, wo der Großteil der Bevölkerung lebt. Sie verbindet vielmehr zwei noch schwach besiedelte Gegenden: Makiš, eine unbewohnte Ebene im Südwesten der Hauptstadt, und den Vorort Mirijevo im Osten. Die Linie geht also „von einem Acker zum anderen“, wie die Gegner des Projekts ätzen.
Dem hält Finanzminister Siniša Mali2 entgegen, die U-Bahn werde „selbstverständlich als Achse der städtischen Entwicklung“ fungieren. Doch die Mehrheit der Belgrader Bevölkerung wird weiter auf die hypothetische dritte Linie warten müssen, bis sie eine U-Bahn-Station in der Nähe haben.
Kontrovers ist vor allem die geplante Endstation der Linie 1 in der Ebene von Makiš, die mit ihrem Grundwasser die Hauptquelle der Trinkwasserversorgung für den Ballungsraum Belgrad darstellt. Hier soll ein Wohnviertel für 30 000 Menschen entstehen, was Umweltschützer als große Gefahr ansehen. Vor der Unterzeichnung der Vereinbarungen mit Frankreich und China warnten serbische NGOs und Oppositionsparteien vor einer drohenden Umweltkatastrophe.
„Wir haben an die Botschaft und die Verwaltungsräte der französischen Unternehmen, die das Abkommen unterzeichnet haben, geschrieben. Niemand hat uns geantwortet“, erzählt der Stadtplaner Marin Krešić, der auch der Bewegung Freies Serbien angehört. Er war Mitarbeiter beim Institut für Stadtplanung in Belgrad und wirft seinen ehemaligen Kollegen vor, sie hätten sich dem Druck der Politik und des Unternehmens Egis gebeugt, das die Daten für die Streckenplanung der Linie 1 geliefert hat.
Auf dieses Thema angesprochen, erklärt Predrag Krstić, der den Bereich Verkehr am Institut für Stadtplanung leitet: „Ich habe den Plan auf Basis der Daten angefertigt, die man mir gegeben hat, damit war meine Aufgabe beendet.“ Nach Aussage eines anderen Institutsmitarbeiters, der anonym bleiben möchte, hatte man nur die Wahl zu kündigen oder den Streckenverlauf so zu zeichnen, wie es die französischen Ingenieure und ihre serbischen Auftraggeber vorgegeben hatten. Der Mitarbeiter zitiert einen Institutskollegen, der sich seit Jahren mit dem städtischen Nahverkehr beschäftigt, mit dem Satz: „Diese beiden U-Bahn-Linien sind völlig schwachsinnig, planen wir eine dritte.“ Und das habe man dann gemacht.
Allerdings genießt das französische Ingenieurunternehmen nicht überall Unterstützung. Bezeichnend ist, dass die Französische Agentur für Entwicklungszusammenarbeit AFD, die seit 2019 in Serbien tätig ist, sich nicht an der Finanzierung des Projekts beteiligt, weil es gegen ihre Umweltschutz- und Transparenzkriterien verstößt.
Stanko Kantar verteidigt die beschlossene Streckenführung: „Unsere Studien zeigen, dass es für sie gute Gründe gibt. Die Linie 1 ist für die Bewohner eines zukünftigen Wohnviertels, dessen Investor wir noch nicht kennen. Aber selbst wenn dort nichts gebaut wird, dürften an der Ausgangsstation stündlich etwa1800 Fahrgäste einsteigen.“
Anderer Meinung ist Aleksandar Đukić, Vizedekan der Fakultät für Bauwesen an der Universität Belgrad. Die U-Bahn müsse zuallererst den gegenwärtigen Ballungsraum vernetzen, meint der Ingenieurwissenschaftler. Die geplante Linie 1 lasse alles links liegen (siehe Karte): die Wohnviertel in Novi Beograd (am linken Saveufer), den Hauptbahnhof, den Busbahnhof und die Wehrmedizinische Akademie (Serbiens größtes Krankenhaus). „Die Verlängerung in künftige Stadtviertel hätte man erst für eine spätere Bauphase vorsehen sollen.“
Dass die Streckenführung geändert wurde, hat vor allem einen Grund: das Leuchtturmprojekt der Vučić-Regierung namens „Belgrade Waterfront“. Genau hier sollen sich die ersten beiden U-Bahn-Linien kreuzen. Das neue Luxusviertel mit Wolkenkratzer und Mall soll entlang der Save nahe der Einmündung in die Donau entstehen. Es ist ein Projekt des Immobilieninvestors Eagle Hills aus Abu Dhabi. Dessen Eigentümer Mohamed Ali Alabbar hat die Baugenehmigung mit dem heutigen Finanzminister Siniša Mali ausgehandelt, der von 2014 bis 2018 Bürgermeister von Belgrad war. Nach Berichten lokaler Medien garantierte der serbische Staat – als Gegenleistung für eine 32-Prozent-Beteiligung an der Baugesellschaft Beograd na vodi – das gesamte Baugelände bis Ende Juni 2016 zu „säubern“.
Nachdem die Enteignung der Bewohner per Sondergesetz vollzogen war, machten Bagger in der Nacht zum 25. April 2016 das alte Viertel dem Erdboden gleich. Die letzten in ihrem Zuhause ausharrenden Menschen wurden von vermummten Männern mit Baseballschlägern vertrieben.
Bester Anschluss für das künftige Luxusviertel
Der radikale Eingriff in die urbane Struktur provozierte wütende Reaktionen zahlreicher Architektinnen und Stadtplaner. „Die Idee, Belgrad bis ans Ufer zu bebauen, gibt es seit dem 19. Jahrhundert, aber dabei ging es stets um Gebäude von öffentlichem Interesse“, erzählt der Stadtplaner Borislav Stojkov, der von 2008 bis 2012 an der Stadtentwicklungsstrategie für Belgrad mitgearbeitet hat. Der „globale Unternehmer“ aus Abu Dhabi mache das genaue Gegenteil, klagt Stojkov.
Und Zoran Bukvić von der Bewegung Ne davimo Beograd (Versenken wir Belgrad nicht) stellt die Frage: „Soll die U-Bahn für die Leute sein, die zur Arbeit, ins Kino oder zum Arzt fahren, oder für die neue Elite, die ihr Geld in Wohnungen am Ufer investiert?“ Die Ingenieure von Egis könnten niemanden einreden, „dass der aktuelle Plan irgendeinen Nutzen für die Belgrader Bürger hat“.
Verkehrsexperte Depolo zweifelt die Daten der Machbarkeitsstudie an, mit denen die Verlegung des Schnittpunkts der beiden U-Bahn-Linien in das geplante Viertel Belgrade Waterfront begründet wird: „Das Projekt entsprach den früheren Plänen, bis das regierungsnahe Team diese komplett geändert hat.“ Depoli ist zu früh ausgestiegen, um zu wissen, was passiert ist, aber er ist überzeugt: Die haben sich den neuen Vorgaben einfach „angepasst“.
Die Belgrader Fakultät für Bauwesen hat sich wegen fehlender Kooperationsbereitschaft seitens des Bauträgers 2021 aus dem Projekt zurückgezogen. Begründung: Im Prinzip diene die neue U-Bahn-Planung nur der Aufwertung von stadteigenem Gelände. „Ziele, die mit den existierenden Verkehrsproblemen zu tun haben, spielen dagegen keine Rolle.“
Aleksandar Đukić von der Universität Belgrad kritisiert, dass sich die Regierung verpflichtet hat, die U-Bahn durch das neue Waterfront-Viertel zu führen: „Wir investieren in die Infrastruktur – U-Bahn, Straßen, Wasserversorgung, Abwasserbeseitigung –, der ganze Rest gehört dem Investor, der Profit macht und dann verschwindet.“ Und sein Kollege Stojkov fragt sich: „In wessen Interesse arbeiten die französischen Ingenieure?“
Gradimir Stefanović ist auch ein Experte für städtischen Verkehr und saß in der Kommission zur Evaluierung des früheren U-Bahn-Projekts. Über seine Egis-Kollegen sagt der Ingenieur, dass die Entscheidung ihres Auftragsgebers eigentlich gegen ihr Berufsethos verstoße: „Aber sie haben nichts gesagt, weil sie wussten, dass andere alles akzeptieren würden. Und Alstom wäre aus dem Rennen.“
Der Direktor von Beogradski metro, Stanko Kantar, lässt uns wissen, dass die Änderung des Streckenverlaufs im französischen Team für „Stress“ gesorgt hat: „Egis kann dem französischen Staat keine Rechnung stellen, wenn wir nicht unterzeichnen, und wir haben auf gewissen Änderungen bestanden.“ Sein lakonisches Fazit: „Die Großmächte verfolgen hier alle ihre Interessen. Wir sind ein kleines Land, das sehen muss, wie es sich behauptet.“
Die Ingenieure des französischen Unternehmens, die wir in Belgrad befragen wollten, verwiesen uns an die Botschaft, die uns an das Außenministerium verwies, das auf unsere Fragen nie geantwortet hat. Allerdings sagte uns ein leitender Botschaftsangestellter vertraulich: „Für die Reputation von Egis steht viel auf dem Spiel.“ Aber der neu berufene Botschafter sei glücklich, das U-Bahn-Projekt weiter begleiten zu dürfen.
1 Nach Schätzungen des Statistik-Instituts der Republik Serbien von 2020, www.stat.gov.rs.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Ana Otašević ist Journalistin in Belgrad.