11.08.2022

Was ist aus der Farc geworden?

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Was ist aus der Farc geworden?

Seit dem 7. August hat Kolumbien erstmals eine linke Regierung. Präsident Gustavo Petro und Vizepräsidentin Francia Márquez versprechen dem Land wirklichen Frieden. Ehemalige Angehörige der Farc hoffen nun auf ein Leben in Sicherheit.

von Léa Gasquet und Pierre Carles

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Sie haben ihre Khaki-Westen und ihre berühmten Gummistiefel gegen weiße T-Shirts und weiße Schuhe eingetauscht. Als sie sich am 7. März 2022 in Bogotá treffen, tragen manche ihre alte Kampfmontur über dem Arm, geschmückt mit Blumen. Die 200 ehemaligen Kämpferinnen und Kämpfer der Revolutionären Streitkräfte Kolum­biens – Volksarmee (Farc-EP) sind aus dem ganzen Land zu einem „Pilgermarsch für das Leben und den Frieden“ aufgebrochen. „Passt auf, nicht den Verkehr stören“, mahnt ein Ordner, als der Zug auf die wichtigste Verkehrsader der Hauptstadt, die Septima, einbiegt. Heutzutage melden die Ex-Guerilleros ihre Demonstrationen an und sind Pazifisten.

Sie tragen Fotos ihrer ermordeten Kameradinnen und Kameraden. „Manuel Antonio González Buelva. 1988–2019“. Manuel hatte 12 seiner 31 Lebensjahre in der Guerilla verbracht. Nach dem Frieden wurde er Motorradtaxifahrer und bekam eine Tochter, erzählt sein Vater. Seit der endgültigen Ratifizierung des Abkommens zwischen der Farc und der Regierung von Juan Manuel Santos (2010–2018) im November 2016 wurden 320 ehemalige Guerillaangehörige ermordet, 2,5 Prozent von 13 000, die sich damals für die Wiedereingliederung in die Gesellschaft entschieden hatten. Bis heute kam keiner dieser Morde vor Gericht.

Das ist ein „nicht verfassungsgemäßer Zustand“, befand das kolum­bia­nische Verfassungsgericht im Januar 2022 im Hinblick auf die „ständigen, massiven Verletzungen grundlegender Rechte dieser Bürger und das Versäumnis der zuständigen Behörden, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen“. Der Staat schützt die entwaffneten Kämpferinnen und Kämpfer nicht wirklich, obwohl er 1800 Bodyguards eingestellt hat, die meist aus den Reihen der Farc stammen.

„Es ist keine Lösung, allen cameradas einen Leibwächter zur Seite zu stellen. Wir bräuchten das alles nicht, wenn sich die Regierung an das Abkommen halten würde: Die paramilitärischen Gruppen wurden nämlich nicht aufgelöst, und die Umstellung vom Koka­anbau auf andere Produkte kommt nicht voran“, erklärt Julio César Orjuela alias Federico Nariño, einst Comandante der Farc und Delegationsmitglied bei den Friedensverhandlungen in Kuba, während sich der Zug dem Justizpalast nähert.

Knapp sechs Jahre nach dem Frieden könnte die kolumbianische Gesellschaft eine progressivere Richtung einschlagen: Die große Protestbewegung (Paro Nacional) von 2021 verhinderte eine Steuerreform, die die bestehenden sozialen Ungleichheiten verschärft hätte.1 Im März 2022 legalisierte das Verfassungsgericht die Abtreibung. Am 26. Juni wurden dann erstmals mit Gustavo Petro ein Linker zum Präsidenten und mit Francia Márquez die erste schwarze Frau zur Vizepräsidentin gewählt, dank eines breiten „historischen“ Bündnisses, das von Kommunisten bis zu Mitte-links-­Par­teien reichte.

In den letzten vier Jahren der konservativen Regierung von Iván Duque war der Friedensprozess zum Stillstand gekommen. Von 107 Gesetzesvorhaben, die zur Umsetzung des Friedensabkommens von Havanna erforderlich gewesen wären, wurden nur fünf verabschiedet. Nach wir vor gibt es bewaffnete Konflikte, zumeist zwischen kolumbianischen Streitkräften und nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen.2

Eine Bar namens Lubianka

Nach einem Bericht der Vereinten Nationen wurden 2021 73 300 Menschen vertrieben und 150 durch Antipersonenminen verletzt oder getötet. „Die Lage hat sich seit 2017 kontinuierlich verschlechtert. Damals war der bewaffnete Konflikt tatsächlich stark abgeflaut“, meint ein Historiker, der anonym bleiben möchte. „Der Paramilitarismus ist nicht mehr so sichtbar, wird aber immer stärker.“ Er sieht alle Voraussetzungen für einen neuen Zyklus bewaffneter Kämpfe, jetzt aber um die Kontrolle über die vom Staat vernachlässigten Gebiete. Dort erpressen bewaffnete Gruppen Schutzgelder, vor allem bei Kokabauern, und mischen im Drogenhandel mit.

Im Teusaquillo-Viertel von Bogotá treffen wir Pastor Alape in der Bar Lubianka. Das nach dem Sitz der sowjetischen Geheimpolizei benannte Lokal wird von Ex-Guerillas betrieben. Alape war früher Comandante einer der sieben Divisionen der Farc und Mitglied des Farc-Sekretariats. Heute ist er Delegierter der Comunes-Partei im Na­tio­na­len Rat für Wiedereingliederung (CNR), der paritätisch mit Vertretern von Regierung und Farc-Veteranen besetzt ist. Vier Panzerwagen und acht ­Sicherheitsleute bewachen den Eingang der Bar. Im Obergeschoss gibt es eine Runde Flaschenbier der Marke „Alap(e)az“, die den Namen Alape mit „la paz“, also Frieden verbindet. Kleine Brauereien und Bars von Ex-Guerillas gibt es zuhauf in diesem Viertel. Die Casa Alternativa zapft La-Roja-Bier (Das Rote), die Casa de la Paz La Trocha (Der Pfad).

Eigentlich ging es bei den Verhandlungen in Havanna über die wirtschaftliche Reintegration nicht um Bier, sondern um landwirtschaftliche Kooperativen, da die Farc-Basis vorwiegend bäuerlich war. Auch konnten die Unterzeichnenden für eigene Betriebe oder Kooperativen eine Starthilfe von 8 Millionen Pesos (etwa 2000 Euro) beziehen. Ende 2021 bewilligte der CNR 116 Gemeinschaftsprojekte, davon 80 Prozent in der Landwirtschaft, für insgesamt 3855 Menschen.

Die Kosten von 43,5 Milliarden Pesos machten mehr als ein Viertel des internationalen Friedensfonds aus, erklärt Alape. Und die staatliche Behörde für Wiedereingliederung genehmigte weitere knapp 4000 Projekte. In den Genuss einer solchen Unterstützung kam damit über die Hälfte der ehemaligen Farc-Angehörigen.

Eines der Vorzeigeobjekte ist die Fabrik für La-Montaña-Rucksäcke, die in Antioquia gefertigt werden; und bei einem Treffen der NGO Concordia in New York trug Milliardär Warren Buffet gelbe Boots, die ihm Präsident Duque geschenkt hatte – hergestellt von Ex-Guerilleros in Tierra Grata.

Doch Alape sieht eine Menge Pro­ble­me: „Keines der bewilligten Projekte konnte sich bislang wirklich behaupten. Bei den Soloselbstständigen ist die Situation noch schlimmer. So viel wir wissen, gehen 90 Prozent gerade pleite. Mit 8 Millionen Pesos konnte man gerade mal drei Waschmaschinen kaufen, um eine Wäscherei zu eröffnen, oder ein paar Kühe, mehr war kaum drin.“

Auf dem Land, weit weg von der Hauptstadt, kommen die Agrarkooperativen nicht in Gang, weil die Subventionen zu spät ausgezahlt werden und Anbauflächen schwer zu finden sind. „Seit Beginn des Bürgerkriegs 1964 hat sich die Situation kaum verändert. Das Problem ist immer noch dasselbe“, klagt Erika Montero, ehemalige Comandante und Comunes-Vertreterin in der Wiedereingliederungszone (Espacio Territorial de Capacitación y Reincorporación, ETCR) von Llano Grande im Departamento Antioquia. Von der Terrasse ihres Hauses blickt man auf die Barackensiedlung am Fuße des Paramillo-Gebirges.

Ursprünglich sah die von der Farc verhandelte Landreform vor, dass 7 Millionen Hektar Land, die von Bäuerinnen und Bauern ohne Eigentumsrechte bewirtschaftet wurden, legalisiert werden. Weitere 3 Millionen Hektar sollen an andere Landlose (darunter auch Ehemalige der Farc) verteilt werden. Doch das Kataster ist immer noch in Arbeit. Recherchen der Zeitung El Espectador zufolge wurden von den 400 000 Hektar, die nach Angaben der nationalen Landbehörde bereits verteilt sein sollten, lediglich 3000 Hektar an neue Besitzer übergeben.3

Die „Zone“ von Llano Grande ist sieben Fahrstunden – auf chaotischen Straßen – von Medellín entfernt und bietet exakt denselben Anblick wie die anderen 24 Lager, die über das Land verstreut sind: Baracken mit Metallskeletten, Wänden aus Gips und Dächern aus Wellblech. Eigentlich sollten sie nur als provisorische Unterkunft für ein halbes Jahr dienen. Die zuversichtlichsten Bewohner haben sie mit leuchtenden Farben bemalt und Begonien und Yuccapalmen davor gepflanzt. Hinter den Baracken ziehen sich Hühnergehege und Gemüsegärten den steilen Berghang hinauf.

Die Agrarkooperative des Lagers namens Agroprogreso hat endlich 250 Hektar Land für die Rinderhaltung bekommen, sie will Milch und Fleisch produzieren. Doch das Grundstück liegt zwei Fahrstunden entfernt, das Vieh ist noch nicht gekauft. Auch eine längst geplante Zitronenplantage gibt es noch nicht, aber immerhin hat man dieses Jahr zum ersten Mal Kaffee geerntet.

Die Kooperative hat auch auf Ökotourismus gesetzt und dafür ein Guerillacamp rekonstruiert, dazu ein kleines Hotel. Die Pandemie machte ihr einen Strich durch die Rechnung, jetzt übernachten hier gelegentlich Naturwissenschaftler, die im Naturpark Paramillo forschen. Ihren Lebensunterhalt können die Lagerbewohner nicht selbst bestreiten.

Die renta basica, ein Grundeinkommen in Höhe von 90 Prozent des Mindestlohns (etwa 215 Euro), und die ständig neu verhandelten Lebensmittelrationen reichen nicht aus, zumal sich die Familien nach dem Krieg vergrößert haben, eine Folge von Fa­mi­lien­zu­sam­men­füh­rung und steigenden Geburtenzahlen. Von den 320 Ehemaligen der Farc, die ihre Waffen abgegeben haben, wohnt nicht einmal mehr ein Drittel im Camp. Viele sind auf der Suche nach Jobs weggezogen, oft arbeiten sie als Tagelöhner auf Plantagen.

Während der Aufbau der Kooperativen stagniert, löst sich das Gemeinschaftsleben, das einst den Alltag der Guerilla strukturiert hatte, allmähl ich auf. In Llano Grande gibt es außer zu Weihnachten und Neujahr keine ranchadas mehr, also Küchendienst für alle. In der „Zone“ von Pondores (Departamento La Guajira) zeigen die kleinen Vorhängeschlösser an den Toilettentüren an, dass auch der Putzdienst nicht mehr rotiert. In San José de León (Antioquia) wurde der gemeinsame Arbeitseinsatz am Samstagmorgen (convite) – zur Reparatur der Straße – mangels Teilnahme abgesagt.

Erika Montero erklärt, wie schwer der Übergang von einer hierarchischen Organisation zur Selbstverwaltung ist: „Wir waren darauf nicht vorbereitet. In der Guerilla hieß es immer: ‚Papa Farc und Mama Farc‘. Die Organisa­tion sorgte für alles, was du brauchtest, auch wenn ‚alles‘ nicht besonders viel war: ein Rucksack, eine Waffe, Kleidung, Essen und gute Krankenpflege.“

Die ETCR haben sich entgegen optimistischen Vorstellungen nicht zu selbstverwalteten kommunistischen Dörfern entwickelt. „Wie hätte das auch gehen sollen“, meint Tanja Nijmeijer, die Anfang der 2000er Jahre aus den Niederlanden zur Guerilla kam. „Es ist nicht mehr so wie früher, als wir alle zusammen im Untergrund lebten. Wir sind jetzt in die kapitalistische Gesellschaft hineingestoßen, ob wir das wollen oder nicht.“ Sie lebt zurückgezogen am Fuße der Cali-Berge. Nach ihrer Demobilisierung hat sie ihr Studium fortgesetzt. Heute gibt sie Online-Englischkurse. Im November 2021 hat sie ihre Autobiografie veröffentlicht.

Tania Nijmeijer steht nach wie vor auf der Fahndungsliste von Interpol, weil sie Dolmetscherin für gefangene US-amerikanische Soldaten bei der Farc war. Sie kann das Land nicht verlassen, das für sie zu „einem schönen Gefängnis“ geworden ist. Dort lebt sie mit ihrem Lebensgefährten Boris Guevara – heute Grafikdesigner und Dokumentar­filmer – in einem kleinen Haus, das von drei Hunden bewacht wird.

Bei Kriegsende, schildert Nijmeijer, habe zunächst die Stimmung geherrscht: „Jeder für sich und rette sich, wer kann.“ Aber sie bleibt optimistisch: „Wir werden zum Kollektiv zurückfinden. Auch ich selbst hatte das Bedürfnis, mich zurückzuziehen. Jetzt habe ich eine Arbeit und ein Haus und will mich in unserer Kooperative engagieren, das gibt mir viel Hoffnung.“ Mit ihrem Partner baut sie einen Onlineversand auf, um die Produkte der Kooperative zu vermarkten.

Was die Friedensvereinbarungen betrifft, so macht sich Nijmeijer keine Illusionen: „Bei der Abgabe der Waffen waren wir zu naiv“, meint sie. In Verhandlungen unter Gleichberechtigten hätte man Gegenleistungen durchsetzen können: „Eine Agrarreform, die Demokratisierung der Institutionen, einen Plan zur Substitution des Koka­anbaus. Aber wie wollen wir das heute noch einfordern?“ Das sehen viele ähnlich.

In einer kleinen Erdgeschosswohnung, die vor der brütenden Hitze im Stadtzentrum von Cali schützt, stößt Miguel Pascuas ins selbe Horn: „Wenn Manuel Marulanda, Jacobo Arenas und Alfonso Cano die Farc noch angeführt hätten, dann hätten wir dem Friedensschluss zwar zugestimmt, aber unsere Waffen hätten wir nicht abgegeben.“ Der 81-jährige Pascuas, der letzte Überlebende aus der Gründergeneration der Farc, führt Klage, dass die Regierung das Abkommen nicht einhalte: „Und deshalb gehen manche zur Guerilla zurück.“

Mit leiser, manchmal stockender Stimme, erklärt der alte Comandante.warum er nichts bereut: „Damals gab es keine andere Wahl, als zur Guerilla zu gehen.“ Doch die war anders als die heutigen, „sehr unorganisierten“ bewaffneten Gruppen. In deren Reihen sieht Pascuas viele „Banditen“, die unschuldige Zivilisten töten und in den Kämpfen Unbeteiligte gefährden. „Ich habe den Krieg ernsthaft betrieben, und das möchte ich auch mit dem Frieden tun.“

In der „Zone“ von Pondores, unweit der Grenze zu Venezuela, spart Benedicto González ebenfalls nicht mit Kritik an der heutigen Führung. Er war früher Mitglied der kommunistischen Jugend und in der Guerilla für Bildung und Propaganda zuständig. Als die Verhandlungsdelegation nach Havanna reiste, blieb er in Kolumbien. „Wir haben weiße Linien festgelegt. Wir konnten die Konfliktlösung nach dem UN-Modell ‚Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung‘ nicht annehmen.“ Eigentlich wollte man die Waffen nicht abgeben, sondern nur niederlegen, wie es die IRA in Irland getan hat: „Wir wollten uns nicht entwaffnen lassen, sondern uns in der Politik engagieren. Wir wollten uns nicht wieder eingliedern, weil wir nie außerhalb der Gesellschaft waren. Aber genau das Gegenteil ist passiert.“ Deshalb fühlten sich die Leute betrogen, wofür Gon­zá­les auch die Führung verantwortlich macht. Er selbst hatte im Kongress zeitweise den ehemaligen Farc-Anführer und Friedensunterhändler Jesús Santrich vertreten, der stets eine harte Linie gegenüber der Regierung verfolgt hatte und im Mai 2021 von Söldnern ermordet wurde.

Inzwischen ist González aus dem Leitungsgremium seiner Partei ausgeschieden. Die sieht er nicht mehr als seine politische Heimat: „Das Ziel, die Macht im Land zu übernehmen, wurde durch eine Chamäleonstrategie ersetzt. Man passt sich an, die programmatischen Inhalte rücken in den Hintergrund. Es gibt keine Kampagnen mehr gegen multinationale Konzerne oder für den Zugang zu Ackerland.“

Die Partei hieß offiziell zunächst Alternative Revolutionäre Kraft der Gemeinschaft (Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común, Farc); seit 2021 firmiert sie schlicht als „Comunes“. Die Namensänderung erfolgte, „weil Farc an den Krieg und die Verzweiflung erinnert“, erklärte der Parteivorsitzende Rodrigo Londoño alias Timochenko in einem Interview mit Radio La FM.

Die ehemaligen Farc-Leute hätten zwar den bewaffneten Kampf aufgegeben, nicht aber ihr revolutionäres kommunistisches Projekt, versichert uns Carlos Antonio Lozada alias Julián Gallo, einst Comandante und Mitglied des Sekretariats, der uns in seinem schmucklosen Büro empfängt. Er hat soeben seine zweite Amtszeit als Senator angetreten. Im Wahlkampf verteilte er Flugblätter mit dem neuen Logo von Comunes: einer stilisierten roten Rose, die von einer Friedenstaube angeflogen wird.

Gemäß den Friedensabkommen stehen der Partei in den ersten beiden Legislaturperioden (von je vier Jahren) zehn Sitze im Kongress zu: fünf im Senat, fünf im Repräsentantenhaus. Dennoch führte Comunes einen aktiven Wahlkampf, um sich für 2026 einen Wählerstamm aufzubauen.

„Wir wollen die Gesellschaft demokratisieren. Das ist aus europäischer Sicht kein besonders revolutionäres Vorhaben, aber hier ist es das durchaus“, erklärt der Senator, um dann zu einer orthodox marxistischen Analyse der wirtschaftlichen Lage anzusetzen: Kolumbien stecke noch immer in einer vormodernen Entwicklungsphase, wie die feudalistische Verteilung des Landbesitzes zeige. Man müsse zunächst „den Kapitalismus entwickeln, bevor man von einer postkapitalistischen Gesellschaft sprechen“ könne. „Die ist zwar immer noch unser Ziel, aber es ist im Moment nicht umsetzbar. Wer das behauptet, ist ein Traumtänzer.“

Bei den Parlamentswahlen im März 2022 erhielt Comunes nur 52 000 Stimmen, was einem Anteil von nur 0,15 Prozent entspricht. Das schlechte Wahlergebnis wird damit erklärt, dass die Sitze im Kongress ja sicher waren, deshalb hätten die Anhänger der Partei dem historischen Pakt von Petro und Márquez eine Chance gegeben. Die Abgeordneten wollen das schwache Abschneiden nicht als Misstrauen interpretieren.

Mit dem Label Farc lässt nicht mehr viel gewinnen. Bei den Kommunalwahlen 2019 wurde nur in Turbaco, einer Stadt mit 70 000 Einwohnern nahe der Karibikküste, ein ehemaliger Farc-Kämpfer zum Bürgermeister gewählt. Freilich hat sich Julian Conrado inzwischen der Mitte-links-Partei Colombia Humana angeschlossen. Statt auf die alte Formel „Frieden und soziale Gerechtigkeit“ setzte er auf den Slogan: „Wir gewinnen, indem wir lieben.“

Die Verheerungen durch ein halbes Jahrhundert Bürgerkrieg, die mediale Darstellung der Guerilla als bloße „Drogenterroristen“ und die Abwanderung in die Städte – all das hat die Farc, die sich vor allem aus der Landbevölkerung rekrutierte, zunehmend isoliert. Zudem hat die Auflösung ihrer Hierarchien die politischen Differenzen unter den Ehemaligen vertieft und nach außen sichtbar gemacht. Im August 2021 gründeten die Kongressabgeordneten (und Ex-Comandantes) Victoria Sandino und Israel Zúñiga 2021 eine eigene Bewegung: „Avanzar“ (Voranschreiten). Der endgültige Bruch erfolgte am 22. Juli 2022 mit einem Aufruf, der von mehr als 200 ehemaligen Farc-Mitgliedern unterzeichnet wurde. Zu ihnen gehörte auch Eliana, die älteste Guerillera, die den Nepotismus und Klientelismus von Comunes scharf verurteilte.

Eine weitere wesentliche Veränderung bei der Ex-Farc ist das Ende der Gleichstellung der Geschlechter. Wenn 13 000 Menschen aus einer Parallelgesellschaft, in der die Gleichheit von Mann und Frau vorgeschrieben war, ins zivile Leben zurückkehren, hätte dies eine allgemeinere Wirkung entfalten können. Doch es kam anders: „Manche Kameraden sind Beziehungen zu Frauen eingegangen, die zu sehr an ihre untergeordnete Stellung gewöhnt waren. Und sie haben schnell vergessen, wie in der Farc alles gemeinschaftlich erledigt wurde: das Kochen, das Waschen und der Krieg“, schimpft Yudis Cartagena, stellvertretende Vorsitzende der Zone Pondores. Sie sorgt ganz allein für ihren Vater und ihre behinderte Tochter und betreut dazu noch ihre Enkelin. Die Guerilleras zahlen für ihre Wiedereingliederung in eine patriarchale und machistische Gesellschaft einen hohen Preis. Sie werden, wie es im Volksmund bereits heißt, „vom Gewehr zu den Kochtöpfen“ zurückgeschickt.

Die Geburt vieler Kinder, der „Friedensbabyboom“, hat die rasche Rückkehr zu traditionellen Geschlechterrollen gefördert. Im Untergrund war es nicht nur undenkbar, sondern sogar verboten, Kinder zu zeugen. Als 2016 die Unterzeichnung der Friedensverträge in greifbare Nähe rückte, gab es nicht mehr so viele Bombenangriffe und lange Märsche durch den Dschungel. „Als die Frauen in die Re­gio­nalzonen kamen, um ihre Waffen abzugeben, waren viele schwanger oder trugen schon kleine Kinder auf dem Arm“, erinnert sich die heutige Senatorin Victoria Sandino. „Aber es gab keine Kindergärten, niemand hatte daran gedacht. Also blieb die Kinderbetreuung an den Frauen hängen.“

Babyboom nach dem Friedensschluss

Wie Sandino zugibt, hat auch sie zu spät begriffen, dass die Gleichheit zwischen Kämpferinnen und Kämpfern eher auf die Kriegssituation als auf egalitäre sozialistische Ideale zurückging. Für den Rückschritt seien auch das traditionelle Wertesystem auf dem Land und der soziale Druck verantwortlich, der nach der Familienzusammenführung noch stärker wurde. „Häufig haben die Guerilleras ihre Ausbildung abgebrochen, um sich um ihre Kinder zu kümmern.“ Einige mögen es zwar geschafft haben, Kindererziehung, Ausbildung und Verantwortung in den Kooperativen miteinander zu verbinden, aber sie mussten dafür einen hohen Preis zahlen.

Mit ihrem orangen Filzhut war Victoria Sandino auch inmitten der fröhlichen Menge gut auszumachen, als sie am 8. März in Bogotá zum Internationalen Frauentag an der Seite von Tanja Nijmeijer und anderen Kameradinnen demonstrierte. Am linken Handgelenk trug sie das grüne Tuch der Pro-Choice-Bewegung, die sich für die Legalisierung der Abtreibung einsetzt, am rechten das Avanzar-Tuch in Signalorange. Und ihr T-Shirt zeigte das Konterfei von Mariana Páez. Die erste Guerillakämpferin, die dem Generalstab der Farc angehörte, wurde 2009 im Kampf getötet. Trotz aller Rückschläge, meint Sandino, seien die feministischen Bewegungen stärker geworden, nachdem die Guerilleras in der Gleichstellungskommission den Dialog mit zivilgesellschaftlichen Organisationen aufgenommen haben.

Bei den Verhandlungen in Havanna hätten die Guerillakämpferinnen einerseits die Grenzen der Gleichstellung in ihrer eigenen Organisation erfahren (zuweilen auf schmerzhafte Weise); andererseits sei einige fraktionsübergreifende Gender-Aspekte in die Friedensverträge eingeflossen: Der Zugang zu Land sollte für Bäuerinnen separat geregelt werden, ebenso die Anerkennung von Frauen als Konfliktopfer. Mit solchen Maßnahmen wollte man gegen die Diskriminierung von Frauen angehen. Sandino glaubt sogar: „Diese Genderperspektive, die wir in Kuba eingeführt haben, hat neue Formen des feministischen Kampfs angestoßen, der von jungen Frauen getragen wird.“ Die Wahl der afrofeministischen Aktivistin Márquez zur Vizepräsidentin des Landes scheint ihr Recht zu geben.

Unter den ehemaligen Guerilleros und Guerilleras wurde der Sieg Petros und seiner Koalition, die 50,44 Prozent der Stimmen gewann, überschwänglich gefeiert. Dass ein Ex-Guerillero der M19 und ein ehemaliges Zimmermädchen an der Macht sind, bedeutet einen Wendepunkt in der kolumbianischen Politik, die seit der Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Jorge Gaitán 1948 von der Rechten dominiert wurde. Der Tod des populären Gaitán, der gegen die soziale Ungleichheit und für die Verteilung von Ackerland kämpfte, löste einen Bürgerkrieg aus, in dem sich die ersten marxistischen Gue­rilla­grup­pen formierten: darunter die Farc.

Noch weiß man nicht, ob die neue Regierung, die Anfang August ihre Arbeit begann, einen echten sozialen Wandel herbeiführen kann. Am Abend seiner Wahl warb Gustavo Petro für „Wandel“ und „Frieden“ und forderte den Generalstaatsanwalt auf, Demonstrierende freizulassen, die während der Protestbewegung inhaftiert worden waren. Zudem setzte er ein starkes Zeichen, indem er das Mikrofon einer der Mütter der „falsch Positiven“ überließ: jener jungen Bauern, die von der Armee umgebracht und als „gefallene Guerilleros“ ausgegeben wurden, um ihre Erfolgsbilanz aufzubessern.

„Wir werden den Kapitalismus weiterentwickeln. Nicht weil uns das System gefällt, sondern weil wir aus dem Feudalismus rauskommen müssen“, versicherte der neue Präsident. Seine Rede bezog sich zwar auch auf die von Comunes vertretene marxistische Wirtschaftstheorie, sollte aber vor allem das ökonomisch erfolgreiche Bürgertum beruhigen, das im Wahlkampf immer wieder das Schreckbild venezolanischer Zustände beschworen hatte. Petros Spielraum für Reformen ist begrenzt, da die Kongressmehrheit rechts bis rechtsextrem ist. Die Ehemaligen der Farc machen sich keine Illusionen über die zahlreichen Hindernisse. Aber die meisten geben die Hoffnung nicht auf, dass das Friedensabkommen eines Tages wirklich umgesetzt wird.

1 Lola Allen und Guillaume Long, „Außer Kontrolle in Kolumbien“, LMd, Juni 2021.

2 „Cinco conflictos armados en Colombia, ¿qué está ­pasando?“, Internationales Roten Kreuz, 6. Dezember 2018.

3 David Franco Mesa und Milton Valencia-Herrera, „El futuro sin tierras para los campesinos“, El Espectador, Bogotá, 20. Februar 2022.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Léa Gasquet ist Journalistin, Pierre Carles Regisseur.

Le Monde diplomatique vom 11.08.2022, von Léa Gasquet und Pierre Carles