11.08.2022

Film und Ton

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Film und Ton

von Pascal Corazza

Rufai Zakari, I Love My Bike, 2022, 142 × 144 cm
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In der Spielfilmproduktion sind zwar weitaus mehr Menschen mit der Ausstattung, den Kostümen und dem Make-up beschäftigt als mit dem Ton. Doch das bedeutet nicht, dass er keine entscheidende Rolle spielt. Im Gegenteil – der Ton war von Beginn an ein wichtiges filmästhetisches Gestaltungsmittel.

Anfang 1895, ein Jahr vor der Premiere des ersten Stummfilms der Brüder Lumière in Paris, hatten Thomas Edison und sein Assistent bereits eine Tonfilmsequenz mit einem Kinetofon aufgenommen. „Man sieht zwei Angestellte von Edison, die zum Klang einer Geige tanzen“, erzählt der Ton­inge­nieur Daniel Deshays, der an der Pariser Filmhochschule Fémis unterrichtet. „Die Technik erlaubte allerdings nicht, mehr als 30 Sekunden aufzuzeichnen.“1

Deshalb setzte man auch im Kino anfangs auf Theatertechniken. Schauspielerinnen und Geräuschemacher synchronisierten das Geschehen versteckt hinter der Leinwand, oft wurde es auch musikalisch begleitet. Der industrielle Tonfilm war erst ab den 1930er Jahren verfügbar, als man das Signal auf 35-mm-Film aufzeichnen konnte. Die monofone Aufnahme wurde anschließend auf zwei oder drei Spuren abgemischt. In den 1960er Jahren konnte man mit dem Nagra III, dem ersten tragbaren Magnetbandgerät, den Ton frei aufnehmen: Der „direkte Ton“, charakteristisch für die Nouvelle Vague, wurde zum Synonym des „Klangs der Wirklichkeit“.

Dann kam Ray Dolby (1933–2013). Mit seinen diversen Innovationen auf dem Feld der Mehrkanal-Tonsysteme – von Dolby Stereo („Star Wars“, 1977), Dolby Split Surround („Apocalypse Now“, 1979), dem ersten vollständig digitalen Format Dolby Digital 5.1 („Batmans Rückkehr“, 1992) bis Dolby Atmos („Oblivion“, 2013) – bescherte er dem Kinopublikum sensationelle Klang­er­leb­nisse.

Daneben machten Orson Welles, Alfred Hitchcock, Jacques Tati oder Jean-Luc Godard aus der Tonaufnahme eine Kunst. Unvergesslich sind etwa die Geräusche in der Duschszene in Hitchcocks „Psycho“ (1960). Ende der 1970er Jahre heuerten die ersten US-Regisseure explizit Sounddesigner an. Francis Ford Coppola arbeitete für „Apocalypse Now“ mit Walter Murch zusammen. Ben Burtt entwickelte Spe­zial­effek­te für Science-Fiction-Filme wie Georg Lucas’„Star Wars“: Was wären die Laserschwerter ohne ihr charakteristisches Surren?

Filmhändler achten beim Ton indes vor allem auf die realistische Wiedergabe und starke Emotionalität. So kam es, dass die Tonspur von „Stalker“ (1978/79) viele Jahre nach dem Tod von Regisseur Andrei Tarkowski manipuliert wurde: „In der Originalversion gab es zu Beginn eine lange Stille“, berichtet Deshays. „In der 5.1-Version der DVD wurde sie durch Wind, Regen und Knarzgeräusche ersetzt – grauenhaft! Tarkowski hätte dem nie zugestimmt.“ Das zeige wieder einmal, dass der Ton im Film immer noch nicht den gleichen Status genießt wie das Bild – und dass man sich anscheinend vor nichts so sehr fürchtet wie vor Stille.

Die Tonmeisterin Mélissa Petitjean erzählt dazu folgende Anekdote: „Ich war bei einer Filmsichtung fürs Fernsehen. Ein guter Film wurde abgelehnt. Ich fragte einen der Programmverantwortlichen nach dem Grund. Er sagte mir: ‚Zu viel Stille. Beim Fernsehen machen die Leute nebenbei andere Sachen. Man muss ihre Aufmerksamkeit die ganze Zeit fesseln.‘ “

„Das heutige Kino setzt auf Stress, mit sehr schnellen Schnitten und lauten Geräuschen, bei denen wir nicht gleich verstehen, woher sie kommen“, erklärt Deshays. Das bestätigt Luc ­Arnal, Neurowissenschaftler am Institut Pasteur: „Das Publikum darf auf keinen Fall abschalten. Die Regie schafft also ein Dauerfeuerwerk, ein Bombardement der Sinne bis zur Betäubung, nach dem Vorbild der Videospiele, wo es ständig Belohnungen gibt.2 Die Musik trägt auch dazu bei.“ Zumal „sie ständig im Hintergrund läuft“, kritisiert die Cutterin Catherine Rascon: „Wie wollen Sie so eine Dynamik schaffen?“

Das Geräusch einer Tasse

US-Produktionsfirmen hätten beim Ton vor allem zwei Dinge im Blick, erklärt der französische Produzent Alexandre Gavras: verständliche Dialoge und eine Musik, die das Publikum in den Bann zieht. „Ein großer US-amerikanischer Film kostet 200 Millionen US-Dollar. Da steht viel auf dem Spiel.“ Deshalb ist es längst nicht immer die Regie, die entscheidet.

Der isländische Komponist und Filmemacher Jóhann Jóhannson (1969–2018) vertrat die Ansicht, dass manche Filme viel zu viel Musik enthielten. Nachdem er für Denis Villeneuves „Arrival“ (2016) die Filmmusik komponiert hatte, sollte er für „Blade Runner 2049“ erneut mit ihm zusammenarbeiten. Doch Warner Bros. ersetzte ihn durch Hans Zimmer („Thelma & Louise“, „Der König der Löwen“, „Der schma­le Grat“, „Dune“), der als massentauglicher galt.

Die Filmmusik soll aber nicht nur unsere Gefühle steuern, sie dient manchmal auch dazu, ein dürftiges Tonkonzepte zu kaschieren. „Der Regisseur überträgt die Verantwortung für den Ton dem Techniker, und der Techniker verlässt sich auf die immer ausgeklügeltere Technik“, erklärt der Toningenieur Jean-Pierre Duret.

Der Geräuschemacher Pascal Chau­vin erzählt, wie er Alexandre ­Astiers Film „Kaamelott – Premier volet“ (2021) mit einer Tonspur bekam, auf der lediglich  die Dialoge zu hören waren: „Ich musste alles neu machen. Wir trafen uns jede Woche zur Videokonferenz, um zu hören, ob es der Regie gefiel.“

Rascon staunt über diesen Unsinn: „Wenn man in den Schnitt geht, dann arbeitet man doch zwangsläufig mit dem Ton, denn er verändert die gesamte Perspektive.“ Wie beispielsweise in „French Connection“ (1971), wo Inspektor Doyle, gespielt von Gene Hackman, in einem Nachtklub mit einer Kellnerin spricht, aber die Musik seine Worte komplett übertönt. Als er sich danach mit seinem Kollegen (Roy Scheider) an der Bar unterhält, tritt die Musik in den Hintergrund, so dass man die Eiswürfel in ihren Gläsern klackern hört.

Die Kunst, die Filmerzählung durch die Tongestaltung voranzutreiben, werde an Filmhochschulen vernachlässigt, meint Daniel Deshays. Seit Kurzem unterrichtet er auch Drehbuchstudierende, damit der Ton bereits beim Abfassen des Skripts berücksichtigt wird: „Bei „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931) hat Fritz Lang mit nur zwei Tonspuren gearbeitet, war dafür aber ungeheuer kreativ. Heute haben wir 350 Spuren – aber was wollen wir damit ausdrücken?“

„Je mehr Soundelemente zusammenkommen, umso weniger hört man“, meint Deshays. „Einen Bildausschnitt festzulegen, bedeutet auch zu bestimmen, was man alles nicht zeigten will. Mit dem Ton kann man auswählen, was man im Bild aktivieren möchte“.3 Zur Veranschaulichung zitiert Deshays eine in der Totalen aufgenommene Szene aus Tatis „Mon Oncle“ (1958), in der das einzige Geräusch von einer winzigen Tasse stammt, die der rundliche Fabrikbesitzer Arpel auf die Untertasse stellt.

Petitjean, die jedes Jahr Dutzende Filme für den Filmpreis César sichtet, meint: „Heute haben 30 Prozent der nominierten Filme ein durchdachtes und gelungenes Tonkonzept, bei 20 Prozent ist es durchdacht, aber misslungen; bei den anderen gibt es einfach Musik und Dialoge, und das war’s“.

Der Tonmeister Jean-Pierre Laforce berichtet, er habe erst in der Zusammenarbeit mit dem Regisseur Arnaud Desplechin („Rois et Reine“, 2004) begriffen, dass die schauspielerische Verkörperung einer Rolle mit der Stimme beginnt. Und bei Regisseur Arnaud des Pallières ist der Ton geradezu zentral. Er will, dass „die Fiktion durch den Ton entsteht, während das Bild eher der Illustration dient“.

Eine andere Methode, das Vorstellungsvermögen anzuregen, ist das Spiel mit Hors-champs – nicht sichtbaren Szenen. In Michael Hanekes bedrückendem Vorkriegsdrama „Das weiße Band“ (2009) gibt es einige von solchen Momenten, in denen das Publikum das Schreckliche zwar kommen sieht, es aber dann nur hört, wie die Schläge des strafenden Vaters hinter der verschlossenen Tür. Haneke sei „einer der wenigen Regisseure, die bei der Tonproduktion dabei sind“, erzählt Chauvin, der auch bei Hanekes Film „Happy End“ (2016) mitgearbeitet hat.

Auch ohne Dialoge kann der Ton viel erzählen. In Jean-Pierre Mel­villes „Vier im roten Kreis“ (1970) hören wir in dem Juwelierladen, den die Einbrecher nachts ausräumen, viele Geräusche: Eine Uhr tickt, der Schmuck klirrt. Sechs Minuten lang wird kein einziges Wort gesprochen. „Es gibt in Wahrheit gar keine Stille“, meint der Regisseur Xavier Legrand. „Man muss die Stille andauern lassen, damit sich der Ton überhaupt entfalten kann.“ In einer Szene seines Filmdramas „Nach dem Urteil“ (2017) ist nur das leise Geräusch des nahenden Aufzugs zu hören. Als er hält, begreift man sofort, dass der gewalttätige Ehemann gleich vor der Tür stehen wird. Die Szene dauert drei Minuten. „Als der Film zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen gezeigt wurde, meinte der Sender France 2, er sei zu leise. Doch die Quote war ausgezeichnet“, erzählt Legrand.

In seiner Dystopie „Libera Me“ (1993) über eine fiktive Militärdiktatur verzichtete Alain Cavalier auf sämtliche Dialoge, Stimmen oder Musik aus dem Off. Seine Figuren erdulden stumm alle Gewalt, und es entsteht eine Stille, die sämtlichen Geräuschen eine unglaubliche Sinnlichkeit verleiht. „Wenn ich fertig bin“, erzählt Cavalier, „drehe ich der Leinwand den Rücken zu und höre mir den Film erst mal nur an.“ Erst dann geht es ans finale Abmischen.

1 Sofern nicht anders angegeben, stammen alle Zitate aus Interviews, die der Autor zwischen Oktober 2021 und Januar 2022 geführt hat.

2 2018 hat die Videospielindustrie mehr Gewinne erzielt (120 Milliarden Dollar) als die Kino- und Musikindustrie zusammen (Quelle: Bpifrance).

3 Daniel Deshays, „Pour une écriture du son“, Paris (Klincksieck) 2006.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Pascal Corazza ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.08.2022, von Pascal Corazza