Kampf um Europas Stahlindustrie
Gewerkschaften im Clinch mit ArcelorMittal von Tristan Coloma
Als der letzte Hagelschauer vorüber war, verschwanden auch die letzten Demonstranten. Auf den verlassenen Straßen lagen in den bunten Pfützen nur noch die zerfetzten Flugblätter, und rundum füllten sich die ersten Bars. An diesem 7. Dezember 2011 waren aus Belgien und ganz Europa Stahlarbeiter nach Lüttich gereist, um die Metallarbeiter von ArcelorMittal zu unterstützen, die mit einem eintägigen Streik gegen die Schließung ihres Werks protestierten. Noch am späten Nachmittag konnte man sie in den Plattenbauten rund um den Parc d’Avroy, den großen Stadtpark an der Meuse, hören: Sie sangen den „Chant des Partisans“, das Partisanenlied aus dem französischen Widerstand.
Ähnliche Szenen hätten sich auch in Florange an der Mosel oder im luxemburgischen Schifflange abspielen können, wo seit Beginn dieses Jahres gegen die Stilllegung mehrerer Hochöfen mobilgemacht wird. In der Provinz Lüttich hatte der ArcelorMittal-Konzern im November 2011 die Schließung der Hochöfen in Ougrée und Seraing und der Stranggussanlage von Chertal bekannt gegeben. Insgesamt sollen hier 581 Arbeitsstellen verschwinden. Laut Jean-Claude Marcourt, stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister von Wallonien, hätte das „Auswirkungen auf 3 500 bis 5 000 weitere Arbeitsplätze“ in der Region, die seit Beginn der Industriellen Revolution von der Stahlindustrie wirtschaftlich abhängig ist.
Transparente mit Losungen wie „Full Mittal racket“ oder „Mittal – Stopp dem sozialen Genozid!“ offenbarten die ohnmächtige Wut der Arbeiter. Im Lärm der Protestböller ergriff der Stahlwerker Sylvain das Wort, obwohl es eigentlich ein Schweigemarsch hätte werden sollen. „Mit seinem Metall macht Lakshmi Mittal nicht Karosserien, sondern Geld. Das ist die Schweinerei!“ Der indische Stahlmagnat – auf Platz 21 in der Forbes-Weltrangliste der Reichsten – sieht das freilich anders: Für ihn zählt die Tatsache, dass seine europäischen Werke nur 20 Prozent der Gewinne bringen, aber 60 Prozent der gesamtbetrieblichen Unkosten verursachen.
Angesichts der Macht transnationaler Unternehmen, die in einem grenzenlosen Wirtschaftsraum auf Rationalisierung1 setzen, stellt sich die Frage, wie sich die traditionellen Gewerkschaften heute noch behaupten können. „Obwohl sich in Europa die Beschäftigten immer weniger organisieren, erleben wir zugleich eine Europäisierung der Gewerkschaften“, beobachtet der Politikwissenschaftler Hans-Wolfgang Platzer von der Hochschule Fulda. „Die Krise zwingt die Organisationen, enger zusammenzurücken, denn sie können auf die ständigen Umstrukturierungen und Rationalisierungsmaßnahmen nur noch in einem transnationalen Verbund antworten.“2
Michael Bach, der Tarifbevollmächtigte der deutschen IG Metall, räumt indes ein, dass bislang „nichts von einer europaweiten Solidarität zu bemerken war. In Deutschland hat das Stahlwerk Bremen sogar von der Schließung der belgischen Fabriken profitiert. Aber seit wir wissen, dass der eigene Standort als Nächster dran sein kann, hat sich etwas geändert. Die Unsicherheit hat die Arbeiter länderübergreifend zusammengeschweißt.“
In Belgien haben die Gewerkschafter bei ArcelorMittal früh begriffen, dass das endgültige Aus in Lüttich nur der Auftakt für die Zerschlagung des gesamten europäischen Teils des Stahlkonzerns wäre. Doch sich auch gesamteuropäisch solidarisieren, das ist leichter gesagt als getan. Es fehlt an jungem Nachwuchs, die Mitgliederzahlen sind überall rückläufig, und die kulturellen Unterschiede, wenn nicht gar Gegensätze zwischen den Gewerkschaftsbewegungen der romanischen (Belgien, Frankreich, Spanien und Italien) und der nördlichen Länder sind auch nicht zu unterschätzen. Während zum Beispiel Erstere bei Forderungen vor allem auf das Demonstrationsrecht als Druckmittel setzen, neigen Letztere eher zum „sozialen Dialog“. Hinzu kommt das oft unterschätzte Problem der sprachlichen Verständigung: „Während der offiziellen Sitzungen haben wir Dolmetscher, aber abends und während der Pausen, und das sind ja normalerweise die Phasen mit dem besten Gesprächsklima, können sich die Leute kaum verständigen“, erzählt der IG-Metaller Bach.
Zudem müssen die Gewerkschafter den Widerspruch aushalten zwischen der Verteidigung des jeweiligen nationalen Arbeitsmarkts und dem Bekenntnis zu einer gesamteuropäischen Solidarität, die für die Bildung einer gewerkschaftlichen Gegenmacht unabdingbar ist. Joseph Thouvenel, Beauftragter für internationale Fragen bei der französischen Gewerkschaft der christlichen Arbeiter (CFTC), erzählt, dass er beim Thema Standortverlagerung in Billiglohnländer nicht selten Kommentare hört wie: „Die Rumänen müssen ja auch nicht so hohe Mieten zahlen.“ „Darum“, so Thouvenel, „müssen wir jedem erklären, dass wir zwar da sind, um ihre Beschäftigung zu sichern, dass wir aber auch eine kollektive Vision für die Zukunft der Arbeit entwickeln müssen.“
Im großzügigen Empfangsraum des Allgemeinen Belgischen Gewerkschaftsverbands (FGTB) erzählt Jean-François Tamelline, wie das europäische Abenteuer begann: „Bei einer Aufsichtsratssitzung von ArcelorMittal erfuhren 2008 drei Arbeitnehmervertreter aus drei verschiedenen Ländern, dass der Hochofen 6 im Stahlwerk Seraing (Provinz Lüttich) geschlossen werden sollte. Sie hielten es nicht für nötig, diese Information weiterzugeben. Dieser Präzedenzfall hat bei den Arbeitnehmern in Lüttich Misstrauen gegen ihre europäischen Vertreter im Aufsichtsrat gesät.“
Solche inneren Streitigkeiten sind besonders schädlich, da das Management in multinationalen Konzernen stets danach strebt, die verschiedenen Standorte gegeneinander unter Konkurrenzdruck zu setzen, was in der Regel dazu führt, dass sich die Beschäftigten oft erst solidarisieren, wenn es schon zu spät ist. „Die Schließung des Hochofens in Lüttich durch ArcelorMittal hat den letzten Anstoß für die europäische Gewerkschaftsbewegung gegeben“, bestätigt Robert Rouzeeuw, der Vorsitzende der FGTB-Metaller. „In Belgien nutzte das Unternehmen die innenpolitischen Reibereien zwischen Flamen und Wallonen und spielte die Standorte Gent [Flandern] und Lüttich [Wallonien] gegeneinander aus. Auch der Zeitfaktor ist wichtig: Solche Gewerkschaftstreffen sind schließlich eine logistische Herausforderung. Im Grunde rennt man immer dem Unternehmer hinterher, der mit seinen Entscheidungen in großen Schritten vorauseilt. Wir versuchen schnell zu reagieren, bei einer Werksschließung ist keine Zeit zu verlieren.“
Binnen fünf Jahren hat ArcelorMittal in Europa über 30 000 Arbeitsplätze vernichtet und 9 von insgesamt 25 Hochöfen stillgelegt. Edouard Martin, der lothringische Delegierte der Gewerkschaft CFDT stellt fest: „Es ist jetzt völlig klar, dass Mittal nur auf kurzfristige Rentabilität aus ist, während wir versuchen, die europäische Stahlindustrie zu retten.“
Deshalb war die Aktion vom 7. Dezember 2011 auch symbolisch wichtig: An diesem Tag wurde die Arbeit auch in Frankreich, Italien, Spanien, Belgien, Luxemburg und mehreren deutschen Mittal-Standorten niedergelegt. In Tschechien, Rumänien, Mazedonien und Polen fanden Demonstrationen statt. Erstmals seit der Fusion des ArcelorMittal-Konzerns im Jahr 2006 hat der europäische Metallgewerkschaftsbund (EMB) eine gemeinsame Aktion für alle europäischen Stahlstandorte koordiniert. Es ist der ehrgeizige Versuch, auf europäischer Ebene eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. „Der EMB steht vor großen Aufgaben, denn wir vertreten wichtige Branchen wie die Luftfahrt-, Rüstungs-, Elektronik- und Automobilindustrie“, erklärt Marcel Grignard, stellvertretender Generalsekretär der CFDT. „In diesen Industrien vollzieht sich seit Jahrzehnten ein Strukturwandel, deshalb müssen die Gewerkschaften ihre Strategien ändern.“
Noch fehlt es in der europäischen Union am politischen Willen, einen zuverlässigen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der den Beschäftigten der transnationalen Unternehmen eine Stimme verleiht. Bei der Tagung des europäischen Rats für Wirtschaft und Finanzen im September 2011 in Breslau hatte der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) zur Demonstration aufgerufen. Vor der Jahrhunderthalle, dem ehemaligen Volkspalast, wo die europäischen Finanzminister tagten, hielt der Solidarnosc-Vorsitzende Piotr Duda eine Rede, in der er beklagte, dass sich die europäische Kommission zu wenig für die „soziale Frage“ interessiere: „Sie redet immer von Solidarität, aber sie tut nichts dafür. Die Rettung des Euro ist wichtiger geworden als die Rettung von Arbeitsplätzen und Menschenleben. Die ‚soziale Union‘ ist ein Märchen!“
Auf der Kundgebung mit über 50 000 Teilnehmern pflichtete die EGB-Generalsekretärin Bernadette Ségol Duda bei: „Nach zwei Jahren Krise dürfen sich die europäischen Regierungen nicht länger von den Finanzmärkten und den Ratingagenturen herumkommandieren lassen. Sie müssen sich über eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik verständigen, in der Solidarität und Beschäftigungssicherheit großgeschrieben werden.“
Bei ihrer Gründung verstand sich die Europäische Union als ein Projekt des Friedens und sozialen Fortschritts, dessen Mitgliedstaaten sich über einen gemeinsamen Markt einander annähern sollten. Doch die Rede des EU-Kommissars für Beschäftigung, Soziales und Integration, László Andor, vom 17. Januar dieses Jahres zeigte, dass längst ein ganz anderer Kurs eingeschlagen wurde: Die Komission ordnet sich den Dogmen des freien Markts unter und unterstützt das Sozialdumping. Andor, der der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) nahesteht, beschönigt die Umstrukturierungsmaßnahmen als „Teil des unternehmerischen Alltags“: Sie seien „notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe zu bewahren“.
Anders sieht das die Soziologin Anne Dufresne: Man müsse „die politischen Prioritäten der Europäischen Union gründlich verändern und das Wohl des Volkes und nicht die Raffgier der Finanzmärkte an die erste Stelle setzen. Dieser Wandel kann durch ein Netzwerk von starken, streitbaren Gewerkschaften gefördert werden, die zusammenarbeiten und einen gemeinsamen Forderungskatalog aufstellen.“3
Zahnlose Dialoge
Die Europäische Union hat es sich nie zur Aufgabe gemacht, einen den weltwirtschaftlichen Verflechtungen angepassten sozialen Rahmen zu schaffen. 1985 hatte Jacques Delors als Präsident der EG-Kommission den „europäischen sozialen Dialog“ ins Leben gerufen. Unter dieser freundlich klingenden Bezeichnung wurde im Umgang zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein grundsätzlicher Wandel eingeleitet: von einer prinzipiell konfrontativen Haltung zur Kultur der Sozialpartnerschaft.
Den rechtlichen und institutionellen Rahmen für die Umsetzung des neuen Leitbilds schuf die Vereinbarung vom Oktober 1991, deren Ergebnisse 1992 in das Sozialprotokoll des Maastricht-Vertrags eingingen. Dieses legt unter Vermeidung des Begriffs „Mitbestimmung“ die Bereiche der gegenseitigen Abstimmung und Beratung, aber auch die Verhandlungsverfahren fest. Sehr rasch wurden damit echte Arbeitskämpfe für entbehrlich und zum allenfalls letzten Mittel erklärt. Nach der Logik des sozialen Dialogs begleiten die „Sozialpartner“ lediglich den Prozess der politischen Willensbildung und beugen sich am Ende den gefällten Entscheidungen. Ein so verstandener Dialog behindert jedoch den Abschluss von Kollektivverträgen mit europäischer Reichweite. So sind seit 1995 erst sieben berufsübergreifende und fünf auf einzelne Branchen bezogene Rahmenvereinbarungen4 getroffen worden.
Da jeder Versuch, Gesamttarifverträge auf europäischer Ebene abzuschließen, bislang gescheitert ist, ist in letzter Zeit ein neues Phänomen in Erscheinung getreten: Vereinbarungen im Rahmen der transnationalen Unternehmen. Diese Art der Vereinbarungen beziehen sich vor allem auf die Bereiche der betrieblichen Rationalisierungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen, der betrieblichen Sicherheit und Gesundheitsförderung, des Personalwesens und des Datenschutzes. Bei den Unternehmen werden sie in aller Regel von den europäischen Betriebsräten (EBR) unterzeichnet,5 die lediglich Informations- und Konsultationsrechte besitzen.
Selbst Philippe de Buck, Generalsekretär des europäischen Arbeitgeberverbands BusinessEurope, gibt im Nachhinein zu: „Die Art und Weise, in der diese Strukturveränderungen durchgezogen und verkündet wurden, ist eigentlich ein Skandal. Seitdem sagt man uns, wenn es um Restrukturierungsmaßnahmen geht: ‚Macht es doch wie bei Renault.‘ Aber was hat das gebracht? Dass man mehr, besser und rascher informiert? Nein. Früher gab es Verhandlungen mit den Gewerkschaften. Heute braucht man ganze Heerscharen von Juristen, und man spricht kaum noch über die wirklich wichtigen Dinge.“6
Die EU-Richtlinie zur Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats (vom 6. Mai 2009) soll revidiert werden und transnationalen Kollektivverhandlungen eine neue Dynamik verleihen. Die Gewerkschaften wollen aus der reinen Defensive herauskommen und in die Rolle einer teilnehmenden Partei, gewissermaßen ins Komanagement, wechseln – als echte Dialogpartner.
„Man muss realistisch sein: Für die Europäischen Betriebsräte gibt es keinen Spielraum für Verhandlungen“, erklärt Georges Jespers, der Vorsitzende des EBR von ArcelorMittal. „Unter dem geltenden Recht finden keine echten, ergebnisoffenen Beratungen statt. Wir werden lediglich informiert. Der EBR hat keinen Einfluss auf das Management. Deshalb bemühen wir uns um die Schaffung einer echten europäischen Arbeitnehmervertretung mit weiter gehenden Entscheidungsbefugnissen.“
Die Topmanager der transnationalen Unternehmen wissen über die Verhältnisse genau Bescheid und sollten daher bereit sein, mit Vertretern aus Politik und Gewerkschaften in einem dreiseitigen Rahmen zu verhandeln. „Alles, was die Grundlagen eines Arbeitsvertrags berührt, wird zuallererst zwischen den Sozialpartnern ausgehandelt. Wir sind nicht gegen dreiseitige Beziehungen, aber dieses Zweiparteienprinzip muss anerkannt werden“, fordert Arbeitgebervertreter de Buck. Für den belgischen Gewerkschafter Geoffrey Schenk ist der Fall klar: „Natürlich muss die Politik auch auf international agierende Unternehmen Einfluss nehmen können. Für eine ausgewogenere Machtbalance ist das Dreiparteienprinzip unerlässlich.“
Derzeit kommt es überhaupt nur dann zu Gesprächen, wenn die Unternehmensleitung dazu bereit ist. „Seit der Übernahme des Arcelor-Konzerns durch Mittal hat sich die gewerkschaftliche Teilhabe an der Unternehmenskultur immer mehr dem angelsächsischen Modell angenähert“, erklärt Enrique Soriano, der spanische Vertreter der Gewerkschaft CCOO (Comisiones Obreras) im EBR von ArcelorMittal. „Herr Mittal selbst hat, obwohl er Vorsitzender dieses Gremiums7 ist, noch nie an einer Sitzung teilgenommen. Seine Informationspflicht erfüllt der Konzern nur über Pressemitteilungen. Beratungen gibt es praktisch nicht, denn an seiner Unternehmensführung lässt Lakshmi Mittal ohnehin keine Zweifel zu.“
„Wir bevorzugen Rahmenvereinbarungen anstelle von Tarifverträgen“,8 gibt Herr De Buck, der Vertreter von BusinessEurope, erstaunlich freimütig zu. „Während der Vertrag nach seiner Umsetzung geltendes Recht wird, zieht eine Rahmenvereinbarung, die ja nur Empfehlungen ausspricht, keine Sanktionen nach sich.“ Die Arbeitgeberorganisation war von jeher gegen einen verbindlichen rechtlichen Rahmen für internationale Abmachungen und will auf keinen Fall zulassen, dass der EBR ein Gremium mit Entscheidungsbefugnissen wird. Diese rechtliche und institutionelle Lücke im EU-Sozialmodell verhindert praktisch brancheninterne oder berufsübergreifende Verträge, die verbindlicher wären als die rechtlich zahnlosen betrieblichen Vereinbarungen.
Auch der Europäische Gewerkschaftsbund hält die Europäischen Betriebsräte nicht für „das angemessene Organ der Interessenvertretung“ und fürchtet, dass „grenzüberschreitende Verhandlungen nur als Vorwand dienen, um die Tendenz zur betrieblichen Vereinbarung zu stärken“.9 Der Gewerkschaftsbund fürchtet, seinerseits von den Verhandlungen ausgeschlossen zu werden. Denn er genießt keine hohe Akzeptanz unter den Arbeitnehmern, da er sich für deren Geschmack den Arbeitgebern und der Europäischen Kommission zu sehr andient. „Der EGB ist nicht gerade der Hort der Erneuerung. Seine Mitgliedsorganisationen veranstalten europafreundliche Kundgebungen, aber als Einheit ist er praktisch gar nicht vorhanden. Zur Beschäftigungssicherung wie zu allen anderen Fragen der sozialen Rechte hat er nichts beizutragen“, lautet das Urteil der französischen Soziologin Michèle Descolonges.
Kritik hagelt es von allen Seiten: „Der EGB ist doch nur so eine Art gewerkschaftliche UNO, der die Probleme der Arbeiter nicht lösen kann“, meint etwa der französische Gewerkschafter Thouvenel. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer will gleich gar nicht über den EGB reden. Nach einer fünfminütigen Unterredung in der Berliner Zentrale macht er lediglich eine Andeutung: „Wir haben gerade Probleme mit dem EGB-Sekretariat, deshalb antworte ich auf Fragen zum europäischen Projekt lieber nicht.“ Ende des Gesprächs.
Lakshmi Mittals Absichten
Während der EGB wenig zu sagen hat, beweisen die belgischen Metallarbeiter echten Kampfgeist und auch politisches Gespür. „Sechs Monate vor der Schließung des Lütticher Stahlwerks hat das Unternehmen wiederholt Hochöfen zeitweilig stillgelegt. Da war schon klar, dass das Ganze in eine Sackgasse münden würde“, erzählt der Gewerkschafter George Jespers. „Der Allgemeine Belgische Gewerkschaftsbund forderte, unterstützt vom Wirtschaftsministerium, dass zwei Forschungsinstitute (Laplace und Syndex) prüfen sollen, ob die Lütticher Stahlindustrie zukunftsfähig ist. Diese Studie wird gerade erstellt, aber Syndex hat uns schon signalisiert, dass die Werke in Florange und in Lüttich heute voll ausgelastet wären, hätte Mittal nicht an der Kapazitätsschraube gedreht, um den Stahlpreis in die Höhe zu treiben. Die aktuellen Überkapazitäten seien rein konjunkturell und nicht strukturell bedingt. Diese Befunde machen uns Mut, Mittals europäische Stahlstandorte zu verteidigen.“
Lakshmi Mittal und sein Sohn Aditya führen den weltweit größten Stahlkonzern wie ein mittelständisches und zudem hoch zentralisiertes Unternehmen (siehe Text unten). Bereits 2004, zwei Jahre vor der Übernahme von Arcelor, erzählte Aditya Mittal seinem damaligen Vorgesetzten bei der Bank Crédit Suisse von dem ehrgeizigen Plan, „mit dem Namen Mittal im Stahlsektor das zu erreichen, was Ford in der Automobilindustrie geschafft hat“.10 Die Kritiker heben hervor, dass die Mittal-Profite aus der Stahlproduktion dem weltweiten Erwerb von Eisenerzminen dienen und in diesem Sektor eine zügellose Spekulation anfachen.
In Belgien fordern die Gewerkschaften, die wallonische Stahlindustrie in regionale Regie zu übernehmen. Das erinnert an eine gar nicht so ferne Vergangenheit. In den 1980er Jahren gehörte das Stahlunternehmen Cockerill-Sambre zu 78 Prozent der wallonischen Provinzregierung. Als das damalige Management jedoch meinte, man müsste, um sich auf dem Weltmarkt zu behaupten, zum internationalen Konzern aufsteigen, endete das schließlich in der Reprivatisierung: 1998 kaufte das französische Unternehmen Usinor für 25 Milliarden Francs (das wären heute 7 Milliarden Euro) Belgiens größten Stahlkonzern.
Als die belgische Regierung vor einigen Monaten beschloss, die angeschlagene Dexia Bank zu retten, gab es wütende Kommentare vonseiten der Gewerkschaften: Wenn die Regierung 4 Milliarden Euro für die Verstaatlichung der Dexia Bank loseisen kann, müsste sie doch auch eine Milliarde Euro in die dauerhafte Sicherung der Arbeitsplätze im Lütticher Becken investieren können.