08.06.2012

Das Trauma von Oran

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Das Trauma von Oran

Vor fünfzig Jahren endete der Kampf um die algerische Unabhängigkeit von Pierre Daum

Das Trauma von Oran
Aus französischer Sicht

Oran, fünfzig Jahre danach. Mit geschickten Gesten richtet der alte Mann seinen schönen, tadellosen Turban. „Meinen Sie wirklich, man muss noch mal darüber reden, diesen ganzen Dreck wieder aufrühren? Das ist doch so lange her! Wir hier denken lieber nicht mehr dran.“ Vor mehr als einem halben Jahrhundert hat dieser Mann am Befreiungskrieg seines Landes teilgenommen. Als Unteroffizier in der Nationalen Befreiungsarmee (ALN)1 kämpfte er mit der Maschinenpistole in der Hand gegen französische Soldaten. Fromm, wie er ist, erinnert er sich nur ungern an die vielen Toten, was aber nichts an seiner Überzeugung ändert, dass sein Kampf damals richtig war. „Sie sind ja Franzose“, sagt er trotzig. „Sie haben keine Ahnung, wie es ist, als dreckiger Araber beschimpft zu werden! Im eigenen Land!“ Bei der Erinnerung an den 5. Juli 1962 in Oran, den er miterlebt hat, trübt sich sein Blick allerdings. „Ich habe zwar alles getan, um das Gemetzel zu beenden, aber der Tag ist und bleibt eine Schande für uns.“

An diesem 5. Juli feierte ganz Algerien seine Unabhängigkeit. In jeder Stadt und jedem Dorf strömten Millionen Algerier ab dem frühen Morgen auf die Straßen, schwenkten ein Meer grün-weißer Fahnen, tanzten, lachten, sangen. Die 400 000 Franzosen, die sich noch im Land aufhielten (vor dem Unabhängigkeitskrieg waren es eine Million), waren erst leicht beunruhigt, aber irgendwann begannen auch sie sich unter die Feiernden zu mischen. Nirgends wurden Zwischenfälle gemeldet. Außer in Oran. In der großen Metropole im Nordwesten des Landes, in der noch 50 000 Pieds-Noirs2 mit den 200 000 Algeriern zusammenlebten, schlug die festliche Stimmung in ein Blutbad um. Mehrere Stunden lang wurde regelrecht Jagd auf Europäer gemacht, und dutzende, vielleicht hunderte Männer und Frauen wurden mit Messern, Äxten und Revolvern massakriert.

Dabei hatte alles so gut angefangen. „Es war ein Donnerstag, und es war wahnsinnig heiß“, erinnert sich Hadj Ouali, damals 18 Jahre alt. „Ich wohnte mit meiner Familie im Viertel Saint-Antoine, aber nach drei Sprengstoffanschlägen der OAS3 mussten wir in die Neustadt umziehen, nach Ville Nouvelle, wo ausschließlich Algerier wohnten. Am Vormittag des 5. Juli zogen alle aus unserem Viertel in die Innenstadt, in Richtung der Place d’Armes. Kurz vor Mittag waren auf einmal Schüsse zu hören. Niemand konnte sagen, woher das Feuer kam, und auch nicht, wer geschossen hatte, aber sofort hieß es: ,Das ist die OAS, sie schießt wieder auf uns!‘4 Eine Massenflucht setzte ein, und von allen Seiten kamen Schüsse. Was danach genau geschah, weiß man nicht. Das wird ihnen auch niemand sagen können, unmöglich! Man wird einfach mitgerissen wie von einer Welle, und wenn man wieder zu sich kommt ... Es hat sehr viele Tote gegeben, so viel steht fest.“ Der Frage, ob auch er an diesem Tag jemanden umgebracht hat, weicht Hadj Ouali mit einem verkrampften Lächeln aus. „Legen Sie mir nichts in den Mund, was ich nicht gesagt habe! Nein … Ich sage Ihnen, dass die Leute in ein Räderwerk geraten sind, und dann … ist passiert, was passiert ist … Man sollte die ganze Sache besser vergessen.“ Aber was hat er beobachtet und erlebt, damals, in der Innenstadt, nach den ersten Schüssen? „Ich hab’s vergessen.“ Langes Schweigen. „Meine Erinnerung ist verblasst.“

Aus diesem Mann ist nichts weiter herauszubringen, aus ihm nicht und auch nicht aus so vielen anderen Oranern, die die Gräueltaten gegen die Europäer an jenem Tag hautnah miterlebten oder sogar selbst beteiligt waren. Doch einige, womöglich weniger verstrickt, sind bereit zu reden. Rachid Salah zum Beispiel, damals ein junger Grundschullehrer. „Es war ein kollektiver Wahnsinn, eine hysterische Menschenmenge, die nicht mehr zu bändigen war, die Explosion einer lang aufgestauten Wut … ich weiß nicht, wie man das sonst nennen soll“, versucht der ehemalige Lehrer, der später Polizist wurde, das Geschehen zu beschreiben. „Irgendwann war ich auf der Esplanade in der Neustadt. Da habe ich gesehen, wie ein Mann inmitten einer hysterischen Menschenmenge einen Franzosen packte und ihm mit dem Messer den Bauch aufschlitzte, vor den Augen des Sohnes. Ich habe versucht den kleinen Jungen auf die Seite zu ziehen, damit er das nicht mit ansehen muss, aber sofort richtete sich das Geschrei der Menge gegen mich! Da hab ich mich schleunigst aus dem Staub gemacht und bei meiner Freundin am Boulevard Paul Doumer Zuflucht gesucht, direkt an der Grenze zum Viertel Plateau Saint-Michel. Von ihrem Balkon im ersten Stock aus habe ich gesehen, wie kleine Gruppen von Franzosen, vier, fünf Leute, von hysterischen Algeriern abgeführt wurden. Das waren keine Soldaten, nein, das war einfach ein durchgedrehter Pöbel.“

Sämtliche Zeugen bestätigen es: Während ein großer Teil der Demonstranten Hals über Kopf nach Hause zurückkehrte, blieben andere in der Innenstadt, in diesen Straßen, die so lange rein europäisch gewesen waren, und fielen über jeden her, der ihnen zu „französisch“ aussah.

„Natürlich, es ist entsetzlich, aber man kann über den 5. Juli nicht reden, wenn man nicht auch davon spricht, was wir vorher erdulden mussten!“, entrüstet sich der 80-jährige Oraner Mokhtar Boughrassa, der sonst einen sehr gesetzten Eindruck macht. „Ich hatte einen Schwager, der während einer Demonstration der Pieds-Noirs im Oktober 1961 auf der Rue Dutertre mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Ein Fall unter Tausenden! Ab dem Sommer 1961 hatten wir in Ville Nouvelle jeden Tag mehrere Tote, sie wurden abgeknallt wie die Kaninchen, von französischen Heckenschützen, die sich auf Hausdächern in der Nähe unseres Viertels postierten. Manchmal feuerten sie sogar Mörsergranaten auf uns ab! Meine Tochter, sie muss drei oder vier gewesen sein, ging einmal Hand in Hand mit einem neunjährigen Nachbarmädchen die Straße entlang. Die Nachbarin wurde von einem Schützen niedergeschossen, der oben in der Rue Stora postiert war, mit zwei Dumdumgeschossen. Sie hielt die Hand meiner Tochter, als sie starb.“

Der jähe Ausbruch einer alten Wut

Saddek Benkada war von 2007 bis 2010 Bürgermeister von Oran. Davor hatte er sich vor allem durch seine Forschungen zur Geschichte Orans unter osmanischer Herrschaft einen Namen gemacht. 1980 ging er zusammen mit seinem Kollegen Fouad Soufi daran, die letzten Monate französischer Präsenz in Oran zu rekonstruieren. „Man kann sich schwer vorstellen, wie viel Leid die algerische Bevölkerung von Oran im Jahr vor diesem 5. Juli ertragen musste“, sagt er. „Natürlich versuchte die Nationale Befreiungsfront zurückzuschlagen, aber es war ein Kampf zwischen ungleichen Gegnern. Die OAS, die tatkräftige Unterstützer im Militär und in der Verwaltung hatte, verfügte über ein beachtliches Waffenarsenal, während sich beim algerischen Widerstand immer fünf, sechs Mann eine Pistole teilten. Ich bin auf eine vollständige Liste der Algerier gestoßen, die zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 1962 in Oran umgekommen sind: Es waren 859 Muslime, gegenüber einer Handvoll toter Europäer. Besonders traumatisch war der 28. Februar 1962, als auf der Esplanade im Zentrum von Ville Nouvelle gleichzeitig zwei Autos explodierten. 78 Tote. Und die Leichen, die zu zerfetzt waren, um sie zu identifizieren, sind dabei nicht mitgezählt. Es war ein Abend im Ramadan, es waren sehr viele Leute unterwegs. Tausende kleine Fleischfetzen regneten auf die Menge herab. Es waren diese Menschen, die seit einem Jahr unter andauerndem Beschuss der OAS standen, aus denen am 5. Juli mit einem Schlag die ganze angestaute Wut herausbrach; das war wie ein aufgestochener Abszess.“5

Angesichts der Menschenmenge im Blutrausch waren die Ordnungskräfte schnell überfordert. Aber welche Ordnungskräfte? Diese Frage führt zu einem der Gründe, die erklären, weshalb das Massaker überhaupt ein solches Ausmaß annahm. Denn diejenigen, die an diesem Tag in Oran für Sicherheit hätten sorgen sollen, waren dazu nicht in der Lage. Die französische Armee unter dem Befehl von General Katz war nicht mehr befugt, einzugreifen: Seit der Verkündung der Unabhängigkeit am 3. Juli befand sie sich auf fremdem Territorium. Die Befehle waren eindeutig: Das Verlassen der Kasernen war verboten, die Algerier hatten selbst für Ordnung zu sorgen. Nur hatten die noch keine Zeit gehabt, sich zu organisieren. Obendrein waren sie durch innere Konflikte gespalten. Während des Kriegs waren die Fedajin6 in Oran in zahlreichen kleinen Untergruppen organisiert und theoretisch zwei Anführern unterstellt: Si Abdelbaki, für die Neustadt zuständig, und Si Abdelhamid, verantwortlich für die Viertel Lamur, Médioni, Victor Hugo und Petit Lac. Doch in der Praxis waren die Umstände und Notwendigkeiten des Untergrundkampfs mit einer strikten Befehlshierarchie schwer zu vereinbaren; mit der Zeit hatte jede Gruppe autonom zu agieren begonnen.

„Die Situation verschlimmerte sich nach dem Waffenstillstand vom 19. März 1962: Aus den ‚Märzianern‘ [so genannt nach dem Datum des Waffenstillstands], die sich vorher an der Revolution nicht beteiligt hatten, wurden auf einmal große Kämpfer!“, ereifert sich Mohamed Benaboura. Er wurde vom französischen Militär gefoltert, saß danach vier Jahre im Knast, bis er 1961 FLN-Befehlshaber von Derb wurde, dem jüdischen Viertel Orans. „Das Problem ist, dass diese Leute sich sehr schnell in Gauner und Plünderer verwandelten.“ – „Die schlimmste Gruppe“, präzisiert Soufi, „das waren die von Petit Lac, unter dem Kommando von Attou Moueddène; das waren wirkliche Banditen und Verbrecher. Von April 1962 an überfielen sie die Autos auf der großen Straße am Rand ihres Viertels und brachten die Insassen um.“ Die ALN entsandte daraufhin einen ihrer Offiziere nach Oran, Hauptmann Bakhti, dem aber nur wenige Männer zur Verfügung standen; er hatte den Auftrag, die Fedajin-Gruppen unter Kontrolle zu bringen. Si Abdelbaki war kooperationsbereit, Si Abdelhamid nicht. Als der 5. Juli näher rückte, wurde dieser Autoritätskonflikt zusätzlich durch politische Spannungen auf nationaler Ebene verschärft: Im Machtkampf zwischen Houari Boumediene und Ahmed Ben Bella7 auf der einen und den Mitgliedern der provisorischen Regierung der algerischen Republik (GPRA) auf der anderen ergriff Hauptmann Bakhti die Partei der einen, Si Abdelhamid die der anderen.

„Kurz, am 5. Juli waren wir völlig überfordert“, räumt der Mann mit dem Turban ein, der damals zu Bakhtis innerem Kreis gehörte. „Jeder hat getan, was er konnte. Ich war auf dem Boulevard Clémenceau [in der Innenstadt] und versuchte die hysterische Bevölkerung daran zu hindern, ins europäische Viertel vorzudringen. Hinter mir scheuchten einige meiner Männer mithilfe von algerischen Zivilisten, die noch bei klarem Verstand waren, so viele Europäer wie möglich in Busse und Autos, um sie in die neue Präfektur zu bringen. Wir brachten sie im großen Saal im Zwischengeschoss unter, und vor dem Gebäude hielten algerische Polizisten, denen ich vertraute, Wache. Diese Leute konnten später in ihre Häuser zurückgebracht werden.“

Benaoumer Moueddène, Kampfname Si Omar, war damals die Nummer zwei der Fedajin hinter Si Abdelhamid (und ein Onkel von Attou Moueddène): „Ich stand vor dem Kommissariat des Viertels Saint-Antoine, in der Rue de Tlemcen. Algerier brachten Europäer zu uns, und wir schleusten sie ins Kommissariat, um sie vor der Menge in Sicherheit zu bringen, die ihnen an den Kragen wollte. Die Leute auf der Straße schrien uns an: ,Ihr habt keinen Finger gerührt, als die OAS unsere Familien ermordet hat. Jetzt lasst uns unsere Rache!‘“ Laut Fouad Soufi sollen Angehörige der ALN sogar ohne Vorwarnung auf Algerier geschossen haben, die sie bei der Misshandlung von Europäern erwischten.

Gegen 14 Uhr kehrte in die Straßen der Innenstadt nach und nach wieder Ruhe ein. Doch in Petit Lac, dem rein muslimischen Viertel am südöstlichen Stadtrand, an das im Süden die große öffentliche Müllhalde von Oran grenzt, passierte etwas. Dorthin strömte ein großer Teil der Menge. Kader Benahmed war damals 14 Jahre alt. Mit einer Gruppe Gleichaltriger war er am Morgen zur Place d’Armes gezogen und hatte sich nach den ersten Schüssen der Menge angeschlossen. „Alles wollte nach Petit Lac, eine riesige Menschenmenge. Wir versuchten uns bis zur Müllhalde durchzudrängeln, aber die Erwachsenen vertrieben uns mit Steinen, damit wir bei der Aktion nicht zuschauten.“ Welche Aktion?

Keiner unserer Gesprächspartner hat irgendetwas mit eigenen Augen beobachtet. Aber alle haben dieselbe Geschichte gehört: Männer von Moueddènes Truppe sollen mit Autos die am Stadtrand gelegenen europäischen Viertel durchkämmt und aufs Geratewohl Europäer eingefangen haben, um sie zur Müllhalde von Petit Lac zu bringen. Dort habe rund ein Dutzend Killer parat gestanden, um sie hinzurichten und die Leichen im Müll zu verscharren.

„Unmöglich. Das kann nicht sein“, beteuert der Mann mit dem Turban, der unter allen, mit denen wir gesprochen haben, der Einzige ist, der an jenem Nachmittag an der Müllkippe war. „Ich war zwischen drei Uhr nachmittags und sieben Uhr abends fünf- bis zehnmal dort, in Petit Lac. Die Innenstadt war mit Toten übersät, irgendwas musste geschehen. Wohin mit ihnen? Auf den europäischen Friedhof? In welche Gruft? Die Leichenhalle des Krankenhauses war schon überfüllt. Schön ist es nicht, das gebe ich zu, aber die Wahl fiel eben auf den Müllplatz. Mehrere Gruppen sollten die Leichen einsammeln und nach Petit Lac bringen. Dort wurden sie dann mit zwei Planierraupen vergraben.“

Wie viele Leichen wurden auf diese Weise verscharrt? Die nach Frankreich ausgewanderten Pieds-Noirs sprechen von 350, 800, 1 000 Toten, manche sogar von 5 000. „Bereits 350 sind total übertrieben!“, versichert der alte Mann mit Nachdruck. „Jedes Mal, wenn ich an diesem Nachmittag wieder zur Müllhalde kam, fragte ich meine Männer, wie viele sie schon begraben hatten. Zehn, fünfzig, hundert … Am Ende waren es dann 150 bis maximal 160.“

Hauptmann Bakhti hatte unterdessen General Katz offiziell um Unterstützung bei der Wiederherstellung der Ordnung gebeten und erklärte noch am selben Abend, als wieder Ruhe eingekehrt war, die Schuldigen würden bestraft. Aber wer waren die Täter? Eine rasende Menschenmenge? Völlig unmöglich, einzelne Verantwortliche zu benennen. Die idealen Sündenböcke waren folglich Attou Moueddène und seine Bande.8 Noch am selben Abend wurden Attou und etliche Mitglieder seiner Gruppe verhaftet. Drei Tage später veranstaltete Bakhti, der unterdessen Verstärkung von der ALN erhalten hatte, eine groß angelegte Razzia in den Vierteln Victor Hugo und Petit Lac, und am 10. Juli konnte er die Presse einberufen und stolz 200 Gefangene präsentieren. „Sie werden vor ein Militärgericht gestellt. Wenn sie schuldig sind, werden sie erschossen!“9

Der Mann mit dem Turban kennt die Geschichte

In Wahrheit gab es überhaupt keinen Prozess. Nachdem die Verdächtigen rund 40 Tage in Haft gewesen waren, ordnete Ben Bella, der beim Kampf um die Macht in Algier Unterstützung brauchte, ihre Freilassung an. General Katz wiederum gab sich mit der offiziellen Zahl der Toten, die in der Leichenhalle gefunden worden waren, zufrieden und teilte der Presse mit: 25 Europäer und 76 Algerier.

Von Letzteren waren manche möglicherweise von verbliebenen OAS-Angehörigen umgebracht worden, vielleicht auch von einfachen Franzosen, die sich verteidigt hatten. Andere wurden von der rasenden Menge totgetreten oder fielen unter den Schüssen französischer Soldaten, die vor ihrer Kaserne postiert waren, oder sie waren unter denen, die von ALN-Kämpfern erschossen wurden, weil sie Europäer angegriffen hatten.

General Katz entsandte außerdem einen Gendarmerieoffizier, der das Gerücht überprüfen sollte, die Müllhalde von Petit Lac berge ein Massengrab. Anschließend erklärte er, es handele sich um „unwahrscheinliche Behauptungen“.10 Wie kann das sein? „Frankreich wollte diesen Mühlstein, das algerische Problem, so schnell wie möglich loswerden“, antwortet der Turbanträger ruhig. „Man wollte die Schuldigen finden und die Sache ad acta legen, Salam alaikum!, und alles geht wieder seinen Gang. Der wahre Schuldige, das war eine Bevölkerung, die sechs Monate lang täglich fünf Tote zu beklagen hatte und dann von einer Massenhysterie erfasst wurde. Schon am nächsten Tag, am 6. Juli, ging es nur noch darum, festzuhalten, dass weder die algerische Regierung noch die ALN noch die FLN irgendetwas dafür konnten, dass sie den Waffenstillstandsvertrag von Evian eingehalten hatten und dass man mit dem kooperativen Austausch zwischen beiden Ländern beginnen konnte. In diesem Punkt waren sich die Vorgesetzten von Katz und Bakhti völlig einig. Deswegen durfte man nicht sagen, dass es 150 Tote gegeben hatte.“

Bei meiner Abreise aus Oran bietet der ehemalige Untergrundkämpfer an, mich zum Flughafen zu fahren. Die Straße führt am Viertel Petit Lac entlang. Da wir gut in der Zeit sind, frage ich ihn, ob er vielleicht einen Umweg machen und mir zeigen könnte, wo genau die Leichen vergraben wurden. Wortlos biegt der alte Mann rechts ab, fährt ein paar hundert Meter, hält an. Er deutet auf eine Brachfläche. „Da ist es“, sagt er in gepresstem Ton, und seine Augen sind auf einmal gerötet. Reglos sitzt er da, obwohl sein Turban in Unordnung geraten ist.

Fußnoten: 1 Die ALN war der bewaffnete Arm der algerischen Nationalen Befreiungsfront (Front de libération national, FLN). 2 Als Pieds-Noirs („Schwarzfüße“) wurden seit Mitte der 1950er Jahre die Algerienfranzosen bezeichnet. 3 Die Organisation de l’armée secrète („Organisation der geheimen Armee“) war eine von französischen Militärs und Gegnern der algerischen Unabhängigkeit im Februar 1961 gegründete Untergrundbewegung, die mit terroristischen Mitteln den Status Algeriens als französische Kolonie zu erhalten suchte. Die Zahl der muslimischen Opfer der OAS wird auf über 3 000 geschätzt. 4 Fouad Soufi sagt dazu: „Obwohl die Offiziere der OAS Ende Juni nach Spanien geflüchtet waren, wurde nie bewiesen, dass nicht doch etliche OAS-Angehörige am 5. Juli noch in Oran waren.“ Die europäische und die jüdische Bevölkerung „war mit großer Mehrheit mit den Aktionen der OAS einverstanden“. Vgl. Fouad Soufi, „L’histoire face à la mémoire: Oran, le 5 juillet 1962“, 2002: www.ldh-toulon.org. 5 Vgl. Saddek Benkada, „Le retour à l’évènement: la réinscription mémorielle de la journée du 28 février 1962 à Oran“, 2008: www.univ-skikda.dz. 6 Die Fedajin waren die Widerstandskämpfer in den Städten, die Mudschaheddin kämpften auf dem Land und im Gebirge. 7 Houari Boumedienne, Stabschef der ALN, wurde im September 1962 zum stellvertretenden Premierminister in der ersten Regierung des unabhängigen Algeriens ernannt, wandte sich aber bald gegen Präsident Ben Bella, den er im Juni 1965 mit einem Putsch stürzte. 8 Attou Moueddène gilt als Inbegriff des abscheulichen Mörders, zumal er auch noch im städtischen Schlachthaus arbeitete. Er starb 2011 in Oran. Si Abdelhamid starb ebenfalls 2011, in Paris. 9 L’Echo d’Oran, 2. Juli 1962. 10 Joseph Katz, „L’Honneur d’un général, Oran 1962“, Paris (L’Harmattan) 1993, S. 331. Aus dem Französischen von Barbara Schaden Pierre Daum ist Journalist und Autor. Zuletzt ist von ihm erschienen: „Ni valise ni cercueil: Les Pieds-noirs restés en Algérie après l’indépendance“, Arles/Paris (Éditions Actes Sud) 2012.

Aus französischer Sicht

Die Tragödie von Oran wurde für die Pieds-Noirs (Schwarzfüße), wie die Algerienfranzosen genannt werden, zur pauschalen Begründung, warum es nicht möglich gewesen sei, mit den Arabern zusammenzuleben: „Nach dem 5. Juli in Oran war klar, dass sie uns nicht länger hier haben wollten und wir gehen mussten!“1

Diese Version der Ereignisse nährt sich von den Berichten traumatisierter Augenzeugen. Anfang der 1980er Jahre machte sich die von Pieds-Noirs gegründete Zeitschrift L’Echo de l’Oranie daran, Erinnerungen zusammenzutragen.2

Die einzigen Historiker, die sich bisher mit diesem Thema beschäftigt haben, Jean Monneret und Jean-Jacques Jordi,3 sind in Algerien geboren. Ihr Anliegen ist die Verteidigung der Pieds-Noirs, die sich als Opfer der Nationalen Befreiungsfront (FLN) und der von „antikolonialistischen Linken beherrschten“ Medien sehen. Ihr Werk stützt sich im Wesentlichen auf Berichte von Algerienfranzosen und Archivmaterial der französischen Armee. Auf die Idee, nach Algerien zu reisen, um die eigenen Quellen mit Aussagen der Algerier abzugleichen, kam anscheinend keiner von beiden.

Das Ergebnis sind unvollständige Untersuchungen mit zahlreichen Fehlinterpretationen, die systematisch von der Annahme ausgehen, die Pieds-Noirs seien zum Fortgehen gezwungen worden, „Koffer oder Sarg“ habe es geheißen.

Tatsächlich reisten zwei Wochen nach den Übergriffen bereits deutlich weniger Franzosen aus Oran ab. „Schon im August fühlten wir uns wieder ganz sicher“, erinnert sich Guy Bonifacio, der seine Heimatstadt Oran nie verlassen hat. Im März 1965 lebten dort noch mehr als 20 000 Pieds-Noirs.

Fußnoten: 1 Siehe etwa Gilles Pérez, „Les Pieds Noirs. Histoires d’une blessure“, Dokumentarfilm, France 3, 18. November 2006. 2 Siehe Geneviève de Ternant (Hg.), „L’Agonie d’Oran“, 3 Bände, Nizza (Gandini) 1985–2001. 3 Jean Monneret, „La Tragédie dissimulée. Oran, 5 juillet 1962“, Paris (Éditions Michalon) 2006, und Jean-Jacques Jordi, „Un silence d’Etat“, Paris (Soteca) 2011.

Le Monde diplomatique vom 08.06.2012, von Pierre Daum