Argentiniens Ölkrise
Warum der spanische Ölkonzern Repsol enteignet wurde von José Natanson
Am 16. April verkündete die argentinische Präsidentin Cristina Kirchner in einer Fernsehansprache, dass der Staat 51 Prozent der Anteile an der Ölgesellschaft Yacimientos Petrolíferos Fiscales (YPF) übernimmt, die bislang dem spanischen Ölkonzerns Repsol gehörte. Am selben Tag brachten argentinische Regierungsbeamte das Unternehmen mit einer präzisen Operation unter ihre Kontrolle.
Die Enteignung löste in der internationalen Wirtschaftspresse erwartungsgemäß stürmische Proteste aus – die Financial Times sprach gar von „Piraterie“. Das argentinische Parlament hat das Verstaatlichungsgesetz inzwischen mit 207 zu 32 Stimmen bei 6 Enthaltungen verabschiedet. Für die Entscheidung, die Anfang der 1990er Jahre von Präsident Carlos Menem betriebene Privatisierung rückgängig zu machen, gibt es vor allem zwei Gründe.
Aus ökonomischer Sicht waren die Zustände im Energiesektor untragbar geworden, was großenteils von der bislang verfolgten falschen Strategie herrührte: In der prekären Phase wirtschaftlicher Erholung, die auf die Krise von 2001 folgte, wurden die Energieverbraucherpreise im Land eingefroren. Seitdem liegt der Strompreis um 70 Prozent unter dem Niveau der Nachbarländer. Gleichzeitig wurde die Produktion hochgefahren, um den Staatshaushalt durch Einnahmen aus (billigen) Ölexporten zu sanieren. Diese Strategie war kurzfristig durchaus effektiv, führte mit der Zeit jedoch dazu, dass Repsol seine Investitionen in Argentinien immer weiter zurückfuhr und sich nach attraktiveren Standorten umsah, wo höhere Preise zu erzielen waren.
Durch diese Entwicklung alarmiert, fasste die Regierung 2008 den umstrittenen Entschluss, den Einstieg eines argentinischen Unternehmens zu unterstützen, das 25 Prozent des Aktienpakets der YPF erwarb und das Management übernahm. Die Regierung hoffte, dank verstärkter Einflussmöglichkeiten die von Repsol verfolgte Strategie ausbremsen zu können. Das gelang nicht, im Gegenteil: Der Niedergang der verschiedenen Sparten des Energiesektors ging sogar beschleunigt weiter.
In einem Klima steten wirtschaftlichen Aufschwungs (in den letzten acht Jahren stieg das argentinische Bruttoinlandsprodukt um durchschnittlich 7,1 Prozent) nahm auch der Energiebedarf kontinuierlich zu. Das Erdölland Argentinien war zunehmend auf teure Energieimporte angewiesen (insbesondere Gas aus Bolivien und Erdöl aus Venezuela). Die negative Handelsbilanz im Energiesektor stieg in alarmierende Höhen und erreichte im vergangenen Jahr beinahe die 10-Milliarden-Dollar-Grenze. Für das Jahr 2012 wird sie auf 12 Milliarden Dollar geschätzt.
Es bleibt nur die Flucht nach vorn
Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf Argentinien fielen zwar relativ moderat aus, waren aber dennoch deutlich zu spüren. Deshalb sah sich die Regierung am Ende gezwungen, eine umfassende Neuordnung ihrer Energiepolitik einzuleiten. Aus ökonomischer Sicht entspricht die Entscheidung, die YPF erneut zu verstaatlichen, einer kurzfristigen wie einer langfristigen Notwendigkeit. Kurzfristig muss man es schaffen, die Energiebilanz und mit ihr die Handelsbilanz auszugleichen. Langfristig geht es darum, die Kontrolle über die Energieressourcen zurückzugewinnen, die für die Entwicklung des Landes von strategischer Bedeutung sind.
Politisch ist dieser Schritt nur vor dem Hintergrund des enormen Rückhalts erklärlich, den Cristina Kirchner in der Bevölkerung genießt: Bei den Wahlen im Oktober 2011 erreichte sie mit 54 Prozent der Stimmen (gegenüber 40 Prozent für den zweitplatzierten Kandidaten) größere Zustimmung als alle ihre Vorgänger seit der Rückkehr Argentiniens zur Demokratie im Jahr 1983.
Die Regierung wertete das überwältigende Ergebnis als Bestätigung für ihre bisherige Politik, die darauf abzielte, die Kontrolle über strategisch wichtige Wirtschaftsbereiche zu übernehmen, zum Beispiel mit der Rückführung der privaten Pensionsfonds in das staatliche Rentensystem oder mit der 2008 erfolgten Verstaatlichung der argentinischen Luftfahrtgesellschaft Aerolíneas Argentinas. Diese makroökonomische Strategie setzt erstens auf administrative Stabilisierung des Wechselkurses mittels strenger Kontrollen des Devisenverkehrs und der Zuflüsse von Spekulationskapital und zweitens auf ein hohes Niveau öffentlicher Ausgaben.
Die müssen allerdings finanziert werden, wozu man auf keinen Fall die internationalen Finanzmärkte in Anspruch nehmen will. Das aber erfordert konstante Steuereinnahmen, auch um den aufgeblähten Staatsapparat zu unterhalten. Dieses Modell wird von orthodoxen Wirtschaftsexperten kritisch gesehen, die vor den problematischen Folgen von Importschranken und einer hohen Inflationsrate warnen.
Die überwältigende Zustimmung für Cristina Kirchner hat die Regierung ermutigt, den Kurs fortzusetzen, den sie als „Vertiefung des Wandels“ definiert. Eleganter könnte man auch von einer strukturellen Eigendynamik sprechen, die angesichts so gewaltiger Probleme wie der Weltwirtschaftskrise oder des alarmierenden Defizits in der Energie-Handelsbilanz zwangsläufig auf weitere Radikalisierung setzt: der Linksruck als einzige verbliebene Alternative.
Auf der nächsten Etappe dieses Weges stellen sich gewaltige Probleme. Die größten Risiken, die das neue Management der YPF eingeht, ergeben sich dabei weniger aus der Frage der gesetzlichen Legitimation, denn die Wiederverstaatlichung wurde per Gesetz beschlossen. Und die argentinische Verfassung erlaubt die Enteignung von Unternehmen auf gesetzlichem Wege unter der Voraussetzung, dass eine angemessene Entschädigung gezahlt wird.
Erwartungsgemäß will Repsol die Entscheidung anfechten und droht, eine Entschädigungsforderung in Höhe von mindestens 8 Milliarden Euro beim International Center for Settlement of Investment Disputes (ICSID) einzuklagen. Ein solches Verfahren vor dem Schiedsgericht der Weltbank sieht auch das zwischen Argentinien und Spanien geschlossene bilaterale Investitionsschutzabkommen vor. Nach diesem Abkommen hat der Konzern seine Klage allerdings zunächst bei der argentinischen Justiz einzureichen, bevor er das ICSID anruft, weshalb mit einem langwierigen Verfahren zu rechnen ist.
Die geschilderte internationale Reaktion dürfte allerdings, anders als von vielen prognostiziert, keine größeren Probleme nach sich ziehen: Ungeachtet der Entrüstung bei Financial Times oder The Economist sind die „Vergeltungsmöglichkeiten“ für Repsol – und selbst für die spanische Regierung, die dem Konzern Schützenhilfe leistet – ausgesprochen begrenzt. Denn die Beziehungen zwischen Argentinien und Spanien funktionieren seit Langem weitgehend reibungslos; beide Länder sind schließlich durch eine gemeinsame Geschichte, durch Migrationsströme in beide Richtungen und durch vielfältige unternehmerische Interessen verbunden.
Repsol zetert wohl vergeblich
Vor allem aber sind in Argentinien über 600 spanische Firmen engagiert; viele von ihnen machen blendende Geschäfte und werden all das für Repsol kaum aufs Spiel setzen. Das gilt etwa für den spanischen Telekommunikationskonzern Telefónica, der 2010 in Argentinien einen Gewinn vor Zinsen und Steuern von 1,082 Milliarden Euro erzielte, 9,82 Prozent mehr als im Jahr davor.1
Die größte Herausforderung für das neue Management der YPF kommt nicht von außen, sondern rührt von Problemen in Argentinien und speziell im Konzern selbst. Durch die etappenweise Privatisierung der YPF in den 1990er Jahren hat der Staat einen Großteil seiner qualifizierten Arbeitskräfte auf dem Energiesektor verloren. Die Ingenieure, Fachleute und Techniker sind in die Privatwirtschaft abgewandert oder gleich ins Ausland gegangen.
Diese Leute will die Regierung nun zurückholen, um das von Cristina Kirchner formulierte Ziel zu erreichen: die YPF nach den Prinzipien einer „bestmöglichen Unternehmenspraxis“ zu führen. Als neuen Konzernchef hat die Präsidentin Manuel Galuccio gewonnen, einen 44-jährigen Ingenieur, der sich bereits in der Zeit vor der Privatisierung bei den YPF bewährt hatte und anschließend eine rasante Karriere im Management der mächtigen multinationalen Ölförder- und Servicegesellschaft Schlumberger machte.
Das zweite große Problem betrifft die Finanzierung des Unternehmens. Hier sind enorme Anstrengungen vonnöten, um das Produktionsniveau wieder auf ein angemessenes Niveau zu erhöhen und in der Lage zu sein, innerhalb eines Planungshorizonts von vier bis fünf Jahren die nachgewiesenen Vorräte zu erschließen und zu fördern. Da es sich bei den neu entdeckten Lagerstätten vorwiegend um nichtkonventionelle Reserven handelt, werden weitaus höhere Investitionen nötig.
Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Schiefergasvorkommen von Vaca Muerta in der Provinz Neuquén, das zu den drei wichtigsten nichtkonventionellen Lagerstätten der Welt gehören soll. Die Repsol-Manager behaupten deshalb, hinter der Teilverstaatlichung der YPF verberge sich die Absicht der Regierung, diese lukrativen Ressourcen in ihre Hand zu bringen. Tatsächlich handelt es sich dabei nicht um nachgewiesene, sondern nur um „vermutete“ Lagerstätten. Und für deren Ausbeutung müsste man allein schon in der Anfangsphase an die 20 Milliarden Dollar aufbringen.
Mit anderen Worten, um die Reserven angemessen auszuschöpfen, wären ungeheure Investitionen erforderlich. Solche Summen aber stehen dem argentinischen Staat in Zeiten gebremsten wirtschaftlichen Wachstums schlichtweg nicht zur Verfügung. Das ist auch der Grund, warum die Regierung sich dazu durchgerungen hat, den Status der YPF als Aktiengesellschaft zu erhalten und lediglich 51 Prozent der Anteile zu übernehmen, anstatt den Konzern vollständig in staatlichen Besitz zu überführen: Dieses Vorgehen soll Anreize für geeignete private Gesellschafter schaffen, die das nötige Know-how und die finanziellen Mittel mitbringen. Sollten die Energiepreise weiterhin auf dem gegenwärtig hohen Niveau bleiben, spricht alles dafür, dass es mehrere Interessenten geben wird.
Doch die allergrößte Herausforderung ist eine, die sich erst auf lange Sicht stellt. Seit der Privatisierung in den 1990er Jahren erlebten die Yacimientos Petrolíferos Fiscales einen Niedergang, der noch viele Jahre andauern wird. Diesen Prozess umzukehren, wird nur mit gewaltigen Anstrengung möglich sein. Angesichts der enormen politischen Unterstützung, die das Projekt bei einer überwältigenden Mehrheit der Gesellschaft und selbst bei weiten Teilen der Opposition findet, ist das nicht unmöglich. Zumal bei einem Ölpreis von über 100 Dollar. Voraussetzung ist allerdings, dass es der Regierung gelingt, aus dem Energiekonzern ein gewinnbringendes Unternehmen zu machen, ohne die nationalen Interessen zu vernachlässigen.
Verstaatlichungen in Lateinamerika
Die von Präsident Evo Morales 2006 angeordnete Verstaatlichung der bolivianischen Erdölindustrie sollte die Einnahmen aus der Erdöl- und Erdgasförderung erhöhen. Das gleiche Ziel verfolgte Venezuela mit der Verstaatlichung der Ölvorkommen des Orinocobeckens: Hier übernahm der Staat statt der ganzen Gesellschaft nur eine Aktienmehrheit von 51 Prozent, um so private Partner ins Boot zu holen, die Kapital und technisches Know-how einbringen. So sind Total, BP und Chevron an der staatlichen venezolanischen PDVSA beteiligt und Repsol in Bolivien am staatlichen Erdöl- und Erdgasunternehmen YPFB. Auch die argentinischen YPF suchen heute nach internationalen, speziell nordamerikanischen Partnern.
Dagegen lässt sich die Verstaatlichung der Stahl- und Zementindustrie, wie sie vor einiger Zeit in Venezuela erfolgte, vor allem damit erklären, dass der Staat solche wirtschaftlichen Bereiche unter seine Kontrolle bringen wollte, die von entscheidender Bedeutung für die nationale Entwicklung sind. Dagegen zielt in Argentinien die erneute Verstaatlichung darauf ab, staatliche Versorgungsleistungen sicherzustellen. Das gilt etwa für die Wasserversorgung, die zuvor von dem französischen Konzern Suez kontrolliert war. Ein anderer Fall ist die 1997 privatisierte argentinische Post: Hier fordert der Betreiberkonzern Socma inzwischen selbst, das hoffnungslos defizitäre Unternehmen erneut zu verstaatlichen.