Die Absahner
Who’s who in Hochfinanz und Politik von Geoffrey Geuens
Europas Sozialisten wettern immer wieder heftig gegen das Finanzkapital und fordern schärfere gesetzliche Vorschriften, um die weltweite „Herrschaft der Finanzmärkte“ einzudämmen. Dabei sollte man allerdings auch wissen, wovon und von wem man redet. Denn das Bild, das die Vokabel „Märkte“ heraufbeschwört, lässt uns leicht übersehen, wer genau da eigentlich von der aktuellen Krise und den Sparmaßnahmen profitiert.
„Der Kapitalist ist zu einem schwer fassbaren Phänomen geworden“, schrieb Jean Peyrelevade, der ehemalige Wirtschaftsberater von Ministerpräsident Pierre Mauroy, in seinem Buch „Le capitalisme total“.1 Und er stellte die Frage: „Von wem sagt man sich los, wenn man sich vom Kapitalismus abwendet? Gegen welche Institutionen geht man an, um die Diktatur des flüchtigen, global und anonym gewordenen Marktes zu beenden?“ Darauf gebe es keine klare Antwort, meint er, um dann schlichtweg zu behaupten: „Marx ist wirkungslos geworden, weil es kein klares Feindbild mehr gibt.“
Es ist eigentlich nicht weiter verwunderlich, dass ein Vertreter der Hochfinanz, der unter anderem Vorstandschef der Investmentbank Leonardo & Co. (im Besitz der Familien Albert Frère, Agnelli und Michel David-Weill) ist und im Aufsichtsrat der Unternehmensgruppe Bouygues sitzt, leugnet, dass so etwas wie eine Oligarchie überhaupt existiert. Erstaunlicher ist, dass führende Medien dieses wirklichkeitsfremde und entpolitisierte Bild der monetären Macht übernommen haben.
Das perfekte Beispiel dafür bieten die Berichte über die Ernennung von Mario Monti zum italienischen Ministerpräsidenten. Mit Begriffen wie „Technokraten-“ oder „Experten“-Regierung wird da im Prinzip nur verschleiert, dass es sich um eine Regierung der Banker handelt. Auf den Internetseiten mancher Tageszeitungen konnte man sogar lesen, in Rom seien jetzt „Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft“ an der Macht. Dass Monti auch einige Universitätsprofessoren in seine Regierungsmannschaft berief, ließ manche Kommentatoren glauben, sein politisches Programm stütze sich auf ein wissenschaftliches Fundament. Dabei übersahen sie, dass die meisten der neuen Minister aus den Chefetagen der großen italienischen Konzerne stammen.
Einige Beispiele: Corrado Passera, der Minister für wirtschaftliche Entwicklung, war Vorstandsvorsitzender der zweitgrößten italienischen Bankengruppe Intesa Sanpaolo. Auch Montis Ministerin für Arbeit und Soziales, Elsa Fornero, saß im Aufsichtsrat von Intesa Sanpaolo – im Hauptberuf lehrte sie Wirtschaftswissenschaften an der Universität Turin. Francesco Profumo, Minister für Bildung und Forschung, ist nicht nur Rektor der Technischen Universität Turin, sondern sitzt auch im Verwaltungsrat von UniCredit Private Banking und Telecom Italia (die von Intesa Sanpaolo, Generali, Mediobanca und Telefónica kontrolliert wird).
Piero Gnudi, Minister für Tourismus und Sport, gehört dem Verwaltungsrat der UniCredit Group an; Piero Giarda, zuständig für die Beziehungen des Kabinetts zum Parlament, ist Professor für Finanzwesen an der katholischen Universität Sacre Cuore in Mailand, war bis 2011 aber auch Vizepräsident des Banco Popolare di Milano und Mitglied des Verwaltungsrats von Pirelli. Regierungschef Mario Monti war Berater für Goldman Sachs und Coca-Cola und saß im Verwaltungsrat von Fiat und Generali.
Dieselben sozialistischen und sozialdemokratischen Spitzenpolitiker, die sich gar nicht scharf genug über die Allmacht der Finanzmärkte äußern können, reagieren weitaus weniger empört auf die Tatsache, dass viele frühere Protagonisten der sozialliberalen Wende inzwischen die Seite gewechselt haben. Wim Kok, ehemals Ministerpräsident der Niederlande, sitzt heute im Aufsichtsrat von Shell und KLM wie auch des niederländischen Finanzdienstleisters ING. Exkanzler Gerhard Schröder hat ein neues Betätigungsfeld als Aufsichtsratsvorsitzender der Nord-Stream AG gefunden, an dem die Unternehmen Gazprom, Eon, BASF, GDF Suez und Gasunie beteiligt sind; außerdem sitzt er im Aufsichtsrat beim Ölkonzern TNK-BP und ist Berater für das Europageschäft der Rothschild Investment Bank.
Solche slalomförmigen Karrieren sind längst zur Regel geworden. Auch andere Sozialdemokraten aus Schröders Kabinett haben den Wandel vom Staatsmann zum Geschäftsmann vollzogen. Exinnenminister Otto Schily sitzt heute im European Advisory Board von Investcorp, einer Beteiligungsgesellschaft mit Sitz in Bahrain. In diesem Gremium trifft er gleich mehrere prominente Kollegen: den konservativen österreichischen Exkanzler Wolfgang Schüssel, den Sozialisten Giuliano Amato, einst Ministerpräsident Italiens und Vizepräsident des Europäischen Verfassungskonvents, und Ana Palacio, ehemals Außenministerin der konservativen spanischen Regierung Aznar. Selbst Kofi Annan, UN-Generalsekretär von 1997 bis 2006, ist mit von der Partie.
Wolfgang Clement, unter Schröder Minister für Wirtschaft und Arbeit, hat einen Sitz im Aufsichtsrat der RWE Power AG und fungiert als „Senior Advisor“ der Citigroup Global Markets Deutschland und als „Strategic and Operational Partner“ der Investmentfirma RiverRock European Capital Partners. Caio Koch-Weser, von 1999 bis 2005 Staatssekretär im deutschen Finanzministerium, sitzt seit 2006 im erweiterten Vorstand der Deutschen Bank. Und der SPD-Spitzenpolitiker Peer Steinbrück, Finanzminister im ersten Kabinett von Angela Merkel, ist seit 2010 Mitglied des Aufsichtsrats der ThyssenKrupp AG.
Auch die wahren Erben Margaret Thatchers aus der Führungsriege von „New Labour“ haben sich der Hochfinanz angedient: Exaußenminister David Miliband ist heute als Berater für die Investmentgesellschaften VantagePoint Capital Partners (USA) und Indus Basin Holding (Pakistan) tätig; Peter Mandelson, Handelsminister unter Tony Blair und danach (2004 bis 2008) EU-Kommissar für Handel, berät seit 2011 die US-Investmentbank Lazard. Natürlich hat auch Tony Blair selbst eine erkleckliche Zahl von Ämtern angesammelt: Berater bei der Schweizer Finanzholding Zurich Financial Services (ZFS), Redner für den Hedgefonds Lansdowne Partners2 und Vorsitzender des Internationalen Beraterstabs von JPMorgan Chase – dem auch Kofi Annan und Henry Kissinger angehören.
Diese Aufzählung mag etwas dröge sein, aber sie dokumentiert, was in den Medien nicht vorkommt: die privaten Interessen des politischen Personals. Dabei soll die Liste dieser „Doppelagenten“ nicht nur die Durchlässigkeit zwischen den Bereichen Politik und Wirtschaft aufzeigen, die sich gern als völlig voneinander getrennt (oder gar als verfeindet) darstellen, sondern auch dazu beitragen, die Funktionsweise der Finanzmärkte richtig zu verstehen.
Entgegen gängigen Vorstellungen sind „die Finanzmärkte“ nämlich keineswegs anonym, sondern identifizierbar – durch Personen, die ihnen ein Gesicht oder beziehungsweise viele Gesichter geben.3 Damit meine ich nicht die der europäischen Kleinaktionäre, von denen in den Medien stets gesprochen wird, sondern die Gesichter der Oligarchen: der Anteilseigner und Verwalter riesiger Privatvermögen. Es ist ja so, dass nur 0,2 Prozent der Weltbevölkerung die Hälfte des weltweit börsennotierten Kapitals halten. Diese Portefeuilles werden von Banken (wie Goldman Sachs, Deutsche Bank, Santander, BNP Paribas, Société Générale), Versicherungsgesellschaften (wie AIG, AXA, Scor) und Pensions- und Investmentfonds (wie Berkshire Hathaway, Blue Ridge Capital, Soros Fund Management) verwaltet. Lauter Institutionen, die auf dieselbe Weise auch eigenes Kapital anlegen.
Diese winzige Minderheit spekuliert mit Aktien, Staatsanleihen oder Rohstoffen und kann sich dabei immer neuer Finanzprodukte bedienen, die sie dem unerschöpflichen Erfindungsgeist von Finanzingenieuren verdanken. Die Märkte für diese sogenannten Derivate sind keineswegs eine „natürliche“ Folge der Entwicklung in den fortgeschrittensten Volkswirtschaften, sondern die Speerspitze eines Projekts, bei dem es allein darum geht, „den Oberschichten noch mehr Einkommen zu verschaffen“, wie es Gérard Duménil und Dominique Lévy formulieren.4 Die Strategie ist offenbar erfolgreich. Heute gibt es weltweit etwa 63 000 Personen, deren Vermögen 100 Millionen Dollar übersteigt. Deren Privatvermögen addieren sich auf 40 Billionen Dollar, was dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt aller Staaten der Welt entspricht.5
Sozialisten und Banker
Wenn „die Märkte“ ein Gesicht bekommen, beginnt für die Politik die Stunde der Wahrheit, denn sie kämpft nicht mehr gegen die Windmühlen eines „anonymen Systems“ wie François Hollande in seinem Präsidentschaftswahlkampf. „Ich sage Ihnen, wer mein Gegner in der bevorstehenden Schlacht sein wird“, erklärte er am 22. Januar in einer Wahlrede: „„Er hat keinen Namen, kein Gesicht, gehört keiner Partei an und wird niemals kandidieren, also auch niemals gewählt werden. Dieser Gegner ist das Finanzkapital.“
Hollande war einfach nicht bereit, sich mit den Führungsriegen der Bankwelt und der Großindustrie anzulegen, denn dann hätte er die Namen der Verwalter von Investmentfonds nennen müssen, die ganz gezielt auf die zunehmende Verschuldung südeuropäischer Länder spekulieren; oder auch die Namen seiner Berater, die ein zweites Standbein in der Wirtschaft haben. Und nicht zuletzt die Namen der (Ex-)Kollegen, die von der sozialistischen Internationale zu anderen globalen Organisationen übergelaufen sind.
Dass der Sozialist Hollande zu seinem Wahlkampfmanager ausgerechnet Pierre Moscovici erkoren hatte, also den Vizepräsidenten der Lobby Cercle de l’Industrie, in der alle Führer der großen französischen Unternehmensgruppen vertreten sind, war jedenfalls ein wichtiges Signal: Der „Wandel“, von dem er sprach, sollte keinesfalls als Umsturz verstanden werden. Entsprechend versicherte Moscovici „den Finanzmärkten“, unter einem Präsidenten Hollande werde die Staatsverschuldung ab 2013 „koste es, was es wolle“, auf unter 3 Prozent sinken; dafür werde man die „entsprechenden Maßnahmen ergreifen“.6 Nach dem Wahlsieg Hollandes ist für dafür der neue Finanzminister zuständig. Er heißt Pierre Moscovici.
Die routinemäßige Beschimpfung der Finanzmärkte ist eine von PR-Strategen ersonnene politische Rhetorik, die drastisch klingt, in der Praxis aber folgenlos bleibt. Wie schon Barack Obama, der den Verursachern der Krise in den USA die präsidentielle Absolution erteilt hat, werden auch die europäischen Politiker die „gierigen“ Spekulanten, die sie noch unlängst an den Pranger gestellt haben, ziemlich rasch begnadigen. Sie kommen nicht umhin, das Image der „ehrenwerten“ Vertreter der Oligarchie wiederherzustellen, das zu Unrecht gelitten habe.
Das geht so: Man beruft diese Leute in genau jene Ausschüsse, die mit der Ausarbeitung eines neuen Verhaltenskodex beauftragt werden. Paul Volcker (JPMorgan Chase), Mario Draghi (Goldman Sachs), Jacques de Larosière (AIG, BNP Paribas), Lord Adair Turner (Standard Chartered Bank, Merryll Lynch Europe) und Baron Alexandre Lamfalussy (CNP Assurances, Gortis) – all diese Schlüsselfiguren, die jetzt einen Ausweg aus der Finanzkrise finden sollen, waren direkt mit den großen Unternehmen der Branche verbandelt. Unterstützt von den Medien und einigen Intellektuellen, die noch vor kurzem die Selbstgefälligkeit und blinde Gier der Banker wortmächtig gegeißelt haben, mutieren die „Verantwortungslosen“ von gestern plötzlich zu neuen „Wirtschaftsweisen“.
Kein Mensch wird heute noch bestreiten, dass die Spekulanten die Krise der letzten Jahre zu profitablen Geschäften nutzen konnten. Aber bei aller Kritik am zynischen Opportunismus dieser Raubtierkapitalisten sollte man nicht vergessen, dass sie dabei von Vermittlerdiensten auf höchster staatlicher Ebene profitieren konnten.
Ein schlagendes Beispiel: Der Hedgefondsmanager John Paulson hat in der US-Immobilienkrise mit Subprime-Krediten mehr Geld verdient als jeder andere – 3,7 Milliarden Dollar allein 2007. Im Januar 2008 verpflichtete er Alan Greenspan als Berater, den langjährigen Chef der US-Zentralbank (1987 bis 2006); der hatte bereits einen Beratervertrag mit einem der wichtigsten privaten Gläubiger der USA, der Pacific Investment Management Company (Pimco, mehrheitlich im Besitz der Allianz).
Ähnliches gilt für die international führenden Hedgefonds: Lawrence Summers, Finanzminister unter Bill Clinton und Präsident des Nationalen Wirtschaftsrats unter Präsident Obama, war von 2006 bis 2008 für das Finanzmanagementunternehmen D. E. Shaw tätig (dessen Hedgefonds mit 16 Milliarden Dollar operieren). Und Kenneth Griffin, Gründer der Citadel Investment Group, hat noch 2008 für den Wahlkampf Obamas 200.000 Dollar gespendet, heute ist er mit 2 Millionen Dollar einer der größten Sponsoren des republikanischen Kandidaten Mitt Romney.
Was George Soros betrifft, so hatte er sich die Dienste von Lord Malloch-Brown gesichert, der 2006 kurzzeitig das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) leitete und bis 2009 als Staatsminister im britischen Außenministerium diente.7
Die Finanzmächte haben also ein Gesicht. Auf den Korridoren der Macht waren ihre Repräsentanten schon immer anzutreffen.