Aufstand gegen den Rajapaksa-Clan
Sri Lanka steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Seit Wochen gibt es kaum noch Benzin. Lebensmittel und Medikamente werden knapp. Trotz der Repression durch Militär und Polizei gehen die Menschen zu Zehntausenden auf die Straße, und die Forderungen nach einem Rücktritt von Präsident Gotabaya Rajapaksa werden immer lauter.
von Eric Paul Meyer
Sri Lanka ist zahlungsunfähig: Seit Mitte April kann das Land seine Auslandskredite nicht mehr bedienen und es hat keine Devisen mehr, um ausreichend Erdöl, Lebensmittel und Medikamente einzuführen. Am 22. Juni erklärte die Regierung den vollständigen Zusammenbruch der Wirtschaft. Und als Reaktion auf den Treibstoffmangel wurde am 26. Juni der Verkauf von Benzin an Privatpersonen für einen Zeitraum von zwei Wochen verboten.
Lebensmittelknappheit und steigende Preise – plus 46 Prozent für Lebensmittel im Vergleich zum Vorjahr, 140 Prozent für Treibstoff – haben heftige Proteste ausgelöst. Unter der Losung „Aragalaya!“ (Kampf!) haben in Colombo Aktivist:innen den Galle-Face-Park besetzt. Sie stellen das gesamte politische System infrage und fordern den Rücktritt von Präsident Gotabaya Rajapaksa. Im Zeltdorf GotaGoGama verkünden Transparente Slogans wie „An der Spitze die korrupte Macht, an der Basis der furchtlose Kampf“ oder „Genug von 225“, womit die Anzahl der Parlamentsabgeordneten gemeint ist.
Im Mai erteilte das Verteidigungsministerium den Sicherheitskräften einen Schießbefehl. Laut Medienberichten sind bei den Protesten bis Ende Juni neun Menschen ums Leben gekommen, etwa 300 wurden verletzt. Doch trotz des brutalen Vorgehens der Rajapaksa-Schergen gehen die Demonstrationen weiter. Den Rücktritt von Premierminister Mahinda Rajapaksa, dem Bruder des Präsidenten, haben die Protestierenden schon erreicht. Der Staatschef selbst macht allerdings keine Anstalten zu gehen. Er wird gestützt durch eine Mehrheit im Parlament und hat erklärt, er werde bis zum Ende seines Mandats 2024 im Amt bleiben.
Gotabaya Rajapaksa hat lediglich seinen ehemaligen Widersacher Ranil Wickremesinghe zum neuen Regierungschef ernannt. Er soll ein Kabinett der nationalen Einheit bilden und Zugeständnisse der internationalen Gläubiger erreichen, ist aber politisch isoliert. Die Opposition, vertreten durch Sajith Premadasa (rechtspopulistisch), Mathiaparanan Abraham Sumanthiran (tamilische Partei) und Anura Dissanayake (marxistische Linke), kritisierte, dass der neue Premier nur die Rajapaksa-Familie schütze.
Mit kurzer Unterbrechung ist die Familie seit 17 Jahren in Sri Lanka an der Macht. Mahinda Rajapaksa war von 2005 bis 2015 bereits Präsident, seit 2019 bekleidet sein Bruder Gotabaya das Amt. Ihre Popularität bei den buddhistischen Singhalesen, die über 70 Prozent der Bevölkerung stellen, gründet sich auf den Sieg der Armee über die tamilischen Rebellen im Mai 2009,1 auf die Instrumentalisierung des Buddhismus und eine Rückkehr zu einer fantasierten „kulturellen Authentizität“.
Bis vor Kurzem konnten weder die Menschenrechtsverletzungen noch die Gängelung von Presse und Justiz, die wachsende Macht der Militärs oder die korrupten Praktiken des herrschenden Clans dieses Vertrauenskapital beschädigen. Das zeigte etwa der Erfolg von Gotabaya Rajapaksa und seiner Partei bei den Parlamentswahlen 2020. Dieser Sieg machte zudem Mahindas Niederlage wett, der 2015 gegen eine Allianz aus aktivistischen Gruppen und der alten liberal-konservativen United National Party (UNP) unter Führung von Wickremesinghe verloren hatte.
Zu den Erfolgsrezepten des Rajapaksa-Clans gehörte ab 2015 auch die Förderung eines extremistischen Buddhismus nach dem Vorbild Myanmars. Als innerer Feind wird jetzt statt der besiegten Tamilen die muslimische Minderheit (8 Prozent der Bevölkerung) denunziert und vor einem angeblichen Erstarken des Islamismus gewarnt. Die Anschläge auf christliche Kirchen und Hotels zu Ostern 2019, bei denen 258 Menschen getötet wurden, kamen wie gerufen, um entsprechende Ängste zu schüren.
Die andere Säule der Regierung von Gotabaya Rajapaksa war und ist die Armee, in der er in den 1980er Jahren seine Karriere begann. Mit Methoden der Aufstandsbekämpfung bekriegte er tamilische Separatisten und singhalesische Rebellen, bevor er 1998 in die USA auswanderte. Erst 2005 kehrte er auf Wunsch seines Bruders Mahinda zurück, um Verteidigungsminister zu werden. Unter Gotabaya Rajapaksa wurde die Armee – seit den 1980er Jahren größter Arbeitgeber des Landes – zusätzlich mit polizeilichen Aufgaben und Bau- und Verwaltungstätigkeiten betraut. Sie durfte Handels- und Tourismusunternehmen gründen – alles ohne jegliche politische oder finanzielle Kontrolle.
Hilfegesuch an den IWF
Neu bei der aktuellen Protestbewegung ist, dass sogar ethnisch-religiösen Trennlinien überwunden werden. So nahmen zum ersten Mal buddhistische Singhalesen, darunter auch Mönche, an den Gedenkfeiern für die tamilischen Opfer vom Mai 2009 teil. Vertreter der verschiedenen Religionen feierten gemeinsam das Ende des Ramadan, Ostern und das buddhistische Vesakh-Fest. Das Oberhaupt der katholischen Kirche, der etwa 6 Prozent der Bevölkerung angehören – sowohl Singhalesen als auch Tamilen –, kritisiert offen das Regime und fordert eine neue, gründliche Untersuchung der Anschläge von 2019.
Ob die Machthaber den Protesten standhalten werden, hängt in erster Linie davon ab, ob die Armee loyal bleibt. Die zweite Frage ist, ob sie die Kontrolle über ihre Hochburg, die ländlichen Gebiete im Süden der Insel, aufrechterhalten können – dort haben Demonstrierende bereits Häuser der Rajapaksas und ein Museum zu ihren Ehren demoliert. Und drittens müsste die Regierung eine Fristverlängerung und Restrukturierung ihrer Schulden erreichen.
Die Krisenanfälligkeit der srilankischen Wirtschaft geht zu einem wesentlichen Teil auf die britische Kolonialzeit (1796–1948) zurück. Damals wurden große Plantagen für Tee, Kautschuk und andere Exportgüter angelegt, auf Kosten des ökologischen Gleichgewichts, der Nahrungsmittelproduktion und der aus Südindien eingewanderten Arbeiter, die hemmungslos ausgebeutet wurden. Die Einnahmen der Kolonialregierung stammten allein aus dem Export. Schwankende Weltmarktpreise wirkten sich so unmittelbar aus.
Nach der Unabhängigkeit 1948 lenkte die Regierung die Exporteinnahmen in die Wiederbelebung des Reisanbaus, den Ausbau des Bildungs- und Gesundheitswesens und die Subventionierung von Grundnahrungsmitteln. Sri Lanka wurde bald zum fortschrittlichsten Land Südasiens. Ab den 1970er Jahren aber gingen die Gewinne der Plantagenwirtschaft zurück. Daraufhin setzten mehrere aufeinander folgende Regierungen lieber auf die Rezepte des Neoliberalismus: Massentourismus, Freihandelszonen für die Textilindustrie und die Rücküberweisungen von Auslands-Sri-Lankern – vor allem aus den Golfstaaten.
Man glaubte, die Insel in ein zweites Singapur verwandeln zu können, indem man internationale Finanzkonzerne anlockte. Der Aufstieg des tamilischen Separatismus und des singhalesischen Ethnonationalismus, die mit gesellschaftlichen Spannungen und Gewalt einhergingen, machte dieses Projekt jedoch zunichte.
Durch die Niederschlagung des tamilischen Aufstands entstand ab 2009 die Illusion, dass diese Ziele wieder realistisch seien, insbesondere durch die Möglichkeiten des globalen Kapitalmarkts und neue Investitionsvorhaben aus China. Doch der Agrarsektor schwächelte bereits, die Haushaltsbilanz verschlechterte sich zusehends. Große Bewässerungsprojekte wurden eingestellt, während gleichzeitig die Reisbauern weiterhin von garantierten Preisen und subventionierten Produktionsmitteln profitierten.
Im April 2021 wurden die srilankischen Reis- und Teebauern dann durch einige Umweltschutzmaßnahmen empfindlich getroffen: ein Importstopp für chemische Düngemittel und die erzwungene Umstellung auf ökologischen Landbau. Dies führte dazu, dass die Produktion von Tee um 40 Prozent, die von Reis um 20 Prozent einbrach und das bis dahin sich selbst versorgende Land gezwungen war, Reis zu importieren. Die Maßnahmen wurden sieben Monate später wieder aufgehoben, doch der Schaden war angerichtet.
Verschärft wurde die Situation durch ein katastrophales Management der öffentlichen Finanzen. Laut dem Wirtschaftswissenschaftler Umesh Moramudali sank der Anteil von Steuern und Abgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 19 Prozent 1990 auf 7,7 Prozent 2021, die niedrigste Rate in ganz Asien.2 Den Einbruch der Steuereinnahmen führt Moramudali auf die häufigen Steueramnestien zurück, außerdem auf eine Verwaltung, die durch politische Einmischung an ernsthaften Kontrollen gehindert wird. Auch haben die populistischen Maßnahmen Gotabaya Rajapaksas dafür gesorgt, dass die Zahl der Steuerpflichtigen von 1,5 Millionen auf 412 000 zurückgegangen ist. Außerdem senkte er den Mehrwertsteuersatz von 15 auf 8 Prozent.
Auf der Ausgabenseite standen neben diversen Subventionen lange Zeit die hohen Kriegskosten und später dann die Kosten für den Unterhalt einer überdimensionierten Armee. 2021 machten die Militärausgaben mehr als 15 Prozent des Gesamthaushalts aus – gegenüber 8 Prozent für Bildung und 10 Prozent für Gesundheit. Nach Angaben der Weltbank stieg das Militärbudget von 791 Millionen US-Dollar 2006 auf 1,7 Milliarden 2011. 2020 lag es bei 1,57 Milliarden Dollar. Das entspricht 1,9 Prozent des BIPs, während die Sozialausgaben nur 0,9 Prozent ausmachen.
Auch die sozialen Transferleistungen sind ein großer Haushaltsposten. Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) kommt aufgrund von Klientelismus aber nur knapp die Hälfte der Sozialleistungen (Samurdhi) tatsächlich bei den Bedürftigen an.3
Die Einnahmen aus dem Tourismus stürzten erst in Folge der Osteranschläge, dann wegen der Pandemie von 5,6 Prozent des BIPs im Jahr 2018 auf 0,8 Prozent 2020 ab. Zudem gingen die Rücküberweisungen der im Ausland arbeitenden Sri Lanker von 7,2 Milliarden US-Dollar 2020 auf 5,5 Milliarden 2021 zurück. Die Auslandsschulden Sri Lankas belaufen sich inzwischen auf rund 51 Milliarden US-Dollar. Die offizielle Statistik schlüsselt diese Obligationen wie folgt auf: 47 Prozent Auslandsanleihen, 22 multilaterale Kredite (13 Prozent von der Asiatischen Entwicklungsbank, 9 Prozent von der Weltbank), 29 Prozent bilaterale Kredite (von Japan, China und Indien).4 Nach Berechnungen der Nachrichtenagentur Reuters ist die finanzielle Abhängigkeit von China jedoch mit 19 Prozent der Gesamtsumme deutlich höher als angegeben.5
Bei einem Teil der auf den internationalen Kapitalmärkten aufgenommenen Kredite handelt es sich um Staatsanleihen, die von einem Bankenkonsortium aus Standard Chartered, HSBC und Citibank platziert und von den Ratingagenturen als hochspekulativ (Kategorie B+) eingestuft wurden. Sie wurden 2007 auf Initiative von Präsident Mahinda Rajapaksa aufgelegt, 2010 noch einmal ausgeweitet und unter der Regierung Wickremesinghe verlängert.
Zunächst wurden diese Mittel zur Finanzierung des Krieges gegen die tamilischen Separatisten genutzt. Später sollten sie dann zur wirtschaftlichen Erholung beitragen, ohne allerdings an bestimmte Investitionsvorhaben gebunden zu sein. Seit das Land in diesem Frühjahr seine Zahlungsunfähigkeit erklärt hat, werden auch die Anleihen nicht mehr bedient.
Die langfristigen multilateralen und bilateralen Kredite sind meist an konkrete Entwicklungsprojekte und Handelsgeschäfte gebunden. Ein erheblicher Teil davon war für den Wiederaufbau der durch den Bürgerkrieg zerstörten tamilischen Regionen im Norden und Osten des Landes vorgesehen. Die Kontrolle über die Mittelverwendung lag bei Gotabaya Rajapaksa, der damals Verteidigungsminister war, und bei Finanzminister Basil Rajapaksa, einem weiteren Bruder aus dem Rajapaksa-Clan.
Der Großteil der chinesischen Investitionen wiederum floss zunächst in die singhalesischen Regionen im Süden der Insel, der Heimat der Rajapaksas. Dort entstanden ein internationaler Flughafen, der bis heute kaum genutzt wird, ein Straßen- und Schienennetz sowie ein überdimensionierter Tiefwasserhafen, der sich schnell als unrentabel herausstellte. 2017 wurde er deshalb für 99 Jahre an die China Merchants Port verpachtet. In der Hauptstadt Colombo baut die China Harbour Engineering Company im Auftrag der Regierung die sogenannte Port City, die zu einem neuen Geschäfts- und Dienstleistungszentrums werden soll.
Die Staatspleite Sri Lankas hat nicht zuletzt auch ernsthafte geopolitische Auswirkungen, denn die Insel liegt an der Schnittstelle zweier Einflusssphären: Einerseits gibt es enge Verbindungen zu Indien, andererseits wird die Insel zunehmend zu einem Stützpunkt für Chinas maritime Expansionspolitik.
Angesichts der Forderungen ihrer westlichen Gläubiger wendet sich die Regierung nun hilfesuchend an den IWF, der dem Land unpopuläre Reformen diktieren wird, zugleich aber auch an China, Indien und Russland, die ihren Einfluss verstärken wollen. Das Vertrauen der Bevölkerung, die die Demokratie wiederbeleben will, hat Präsident Rajapaksa in jedem Fall verspielt.
1 Siehe Éric Paul Meyer, „Sieg ist keine Lösung“, LMd, März 2009.
3 „IMF Country Report No. 22/91: Sri Lanka“, Washington, D. C., 25. März 2022.
4 „Debt Stock by Major Lenders“, Finanzministerium von Sri Lanka, April 2021.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Éric Paul Meyer ist emeritierter Professor am Institut national des langues et civilisations orientales (Inalco); zuletzt erschien von ihm „Une histoire de l‘Inde – Les Indiens face à leur passé“, Paris (Albin Michel) 2019.